11. Perspektiven

11. Perspektiven.

Die Frage nach dem Imperialismus, die Fragen der internationalen Politik werden jetzt schon keinen Augenblick mehr die Tagesordnung der Arbeiterparteien verlassen. In keinem Lande wird die Arbeiterpartei sich in nationalem Rahmen abschließen können. Der Krieg wird zu Ende gehen. Aber die von ihm aufgeworfenen Probleme werden Jahre, ja vielleicht Jahrzehnte die ganze Politik des internationalen Sozialismus färben.

Sozialismus für Länder mit fortgeschrittener Entwicklung, demokratische Umwälzung für sehr rückständige Länder und insbesondere für Russland, – das ist unsere Parole.

Die Frage nach dem Kampfe des europäischen Proletariats gewinnt für die Arbeiterklasse Russlands das unmittelbarste, brennendste, absolut praktische Interesse. Von tausend wohltätigen Folgen wird dieser Kampf, – falls er sich entfalten sollte – auch für das russische Proletariat sein. Infolge des Krieges ist das Geschick des russischen Proletariats enger und unzertrennlicher denn je an das Los des Proletariats der fortgeschrittenen, kapitalistischen Länder geknüpft. Der Kampf der Arbeiter im Westen Europas (und in Amerika) ist unser Kampf, und umgekehrt, der Kampf der Arbeiter im Osten Europas ist ihr Kampf.

Sozialismus für alle Länder mit fortgeschrittener kapitalistischer Entwicklung! Aber – sind die ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus reif?

Wir können hier nicht mit Ziffernmaterial in der Hand auf eine ausführliche Untersuchung dieser Frage eingehen. Wir wollen hier nur die Ansichten der angesehensten Autoritäten der II. Internationale anführen, die sie vor dem Kriege geäußert haben.

Der Sozialismus ist heute schon eine ökonomische Notwendigkeit geworden, die Zeit seines Kommens nur noch eine Frage der Macht. Dem Proletariat diese Macht durch Organisation und Aufklärung zu schaffen, ist heute mehr als je die wichtigste Aufgabe der Sozialdemokratie. Nichts sonderbarer, als jene Sozialisten, die glauben, daneben auch noch für eine weitere Machtentfaltung des Kapitalismus sorgen zu müssen." Das schrieb kein anderer als Karl Kautsky im Jahre 1907 in seiner Broschüre: „Sozialismus und Kolonialpolitik" (Berlin 1907, S. 37) und ebenda fügt er hinzu:

Unser Ziel muss sein: Aufgebung der Kolonien, Freigebung der Nationen, die sie bewohnen. Nur davon kann man vom proletarischen Standpunkt aus reden" (S. 45).

Die ökonomischen Voraussetzungen für die sozialistische Umwälzung sind reif, – so sprach Kautsky auch früher, 1903, in seiner bekannten Broschüre: „Soziale Revolution", so sprach er auch in seiner späteren (1909) Arbeit: „Der Weg zur Macht".

Die Antwort des Proletariats auf die Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals, den Imperialismus, kann nicht der Freihandel, kann nur der Sozialismus sein… Der Sozialismus hört auf, ein fernes Ideal zu sein, hört selbst auf ein „Endziel" zu sein, das nur richtunggebend auf die „Gegenwartsforderungen" einwirkt, und wird zu einem wesentlichen Bestandteil der unmittelbaren praktischen Politik des Proletariats… Das Finanzkapital bedeutet seiner Tendenz nach die Herstellung der gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktion. Es ist aber Vergesellschaftlichung in antagonistischer Form, die Herrschaft über die gesellschaftliche Produktion bleibt in den Händen einer Oligarchie. Der Kampf um die Depossedierung dieser Oligarchie bildet die letzte Phase des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat. . Die Besitzergreifung von sechs Berliner Großbanken würde ja heute schon die Besitzergreifung der wichtigsten Sphären der Großindustrie bedeuten und in der Übergangsform, solange kapitalistische Verrechnung sich noch als opportun erweist, die Politik des Sozialismus in ihren Anfängen außerordentlich erleichtern." Das schrieb Rudolf Hilferding in seinem „Finanzkapital" (Marx-Studien, Wien, 1910, S. 472-473).

Der Sieg des Imperialismus ist aber eine Niederlage der Arbeiterklasse in diesen Ländern… Auch der imperialistische Weltkrieg der Zukunft wird zweifellos eine revolutionäre Bewegung auslösen… Gerade die imperialistische Welterschütterung wird die sozialistische Weltumwälzung einleiten". So schrieb Otto Bauer 1907 in seinem Buch: „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie" (Wien, 1907, S. 439, 440-441).

Der Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie selbst hat in der offiziellen Parteibroschüre („Imperialismus oder Sozialismus"), die 1912 vom Vorstand in vielen tausend Exemplaren verbreitet wurde, folgendes geschrieben:

Wenn die 300 Kapitalmagnaten ersetzt würden durch Vertrauensmänner des Proletariats, dann könnte die Produktion ohne weiteres anstatt im Interesse des Kapitals im Interesse der arbeitenden Klassen geleitet und der Übergang zur sozialistischen Organisation der Volkswirtschaft begonnen werden. Soweit ist heute schon die kapitalistische Vorarbeit gediehen." („Sozialdemokratische Flugschriften" XII. Imperialismus und Sozialismus", 1912, S. 3.)

Und man höre, was August Bebel im Reichstag während der Marokko-Debatte sprach:

Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der große Generalmarsch geschlagen, auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Blüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen, gegeneinander als Feinde ins Feld rücken."

Aber nach meiner Überzeugung steht hinter dem großen Generalmarsch der große Kladderadatsch … Sie werden ernten, was Sie gesäet haben. Die Götterdämmerung der bürgerlichen Gesellschaft ist im Anzug. Seien Sie sicher, sie ist im Anzug! Sie stehen heute auf dem Punkte, Ihre eigene Staats- und Gesellschaftsordnung zu untergraben, Ihrer eigenen Staats- und Gesellschaftsordnung das Totenglöcklein zu läuten." („Imperialismus und Sozialismus", S. 14.)

Das ist die Sprache, die die renommiertesten Vertreter der II. Internationale vor 1914 sprachen!

Wir haben absichtlich die Repräsentanten des „marxistischen Zentrums" angeführt: Kautsky, Hilferding, Bauer, den Parteivorstand. Wenn Kautsky jetzt, um den Sozialchauvinismus in Schutz zu nehmen, den deutschen „Linken", unseren Gesinnungsgenossen Pannekoek u. a., den Kampf um die „sofortige" Einführung des Sozialismus unterstellt, so sagt er bewusst eine … Unwahrheit. Die Frage ist nicht, in welcher Zeit der Sozialismus eingeführt werden würde. Die vom Kriege geschaffene Krise kann auch einen qualvoll langsamen Weg gehen, kann unter gewissen Umständen die Organisation der Arbeiterklasse für viele Jahre zurückwerfen. Es ist keineswegs die Pflicht der Internationalisten, die nächste Zukunft im Lichte eines rosigen Optimismus zu sehen. Wir lassen die Möglichkeit zu, dass unter gewissen Umständen die Kriegskrise neue, ungeheure Schwierigkeiten auf dem Wege der internationalen Arbeiterbewegung schaffen werde. Aber sie kann unter keinen Umständen jene ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus zerstören, die von der ganzen vorhergehenden Periode des Kapitalismus geschaffen worden sind. Die vom Krieg zerstörten Produktivkräfte werden gleich nach dem Kriege in allen kapitalistischen Ländern sich fieberhaft erholen. Die Herrschaft des Finanzkapitals wird bleiben.

Kautsky würde wohl in nicht geringe Verlegenheit geraten, wenn ihn jemand in aller Höflichkeit am Kragen packen und ersuchen würde, … den Kauz zu nennen, der eine „sofortige Durchführung" des Sozialismus fordert", schrieb neulich Genossin Rosa Luxemburg in dem ausgezeichneten Kampfblatt „Die Internationale". (Neudruck, Futurus-Verlag, München, S. 94.) Nichts anderes als das, was Kautsky 1907 sagte, was Hilferding, Bebel, Bauer sagten, nichts anderes wollen auch wir jetzt. „Der Sozialismus ist heute schon eine ökonomische Notwendigkeit geworden, die Zeit seines Kommens nur noch eine Frage der Macht." Das ist unser Grundsatz. Wir wollen dieser Aufgabe alle unsere Kräfte widmen; wir wollen dieses propagieren, wollen das Proletariat der vorgeschrittenen Länder dazu aufrufen und die verräterische, bürgerliche Losung der „Vaterlandsverteidigung" entlarven, die dieser These hohnlacht. Vielleicht wird manches Jahr oder gar manches Jahrzehnt verstreichen, bis die „Frage der Macht" entschieden sein wird. Aber – lasst uns Kräfte sammeln und nicht sie verbrecherisch vergeuden, lasst uns arbeiten in dieser Richtung, lasst uns jenes große Gebot erfüllen, das unserer Generation durch die ganze Weltgeschichte überliefert wurde, das längst die großen Lehrmeister der Arbeiterklasse Marx und Engels mit ihrem geistigen Auge sahen, für das Tausende Pariser Kommunards starben, dem unsere besten Kämpfer ihr Herzblut weihten. Das sagen wir, gemeinsam mit den einzigen Sozialisten in der deutschen Sozialdemokratie, jenen Genossen, die das Banner des Protestes gegen die Sozialchauvinisten und gegen das den Marxismus schändende „Kautskyanertum" erhoben …

Die Frage nach der „Losung" des Sozialismus spielt für die vorgeschrittenen Länder bereits eine große Rolle und wird auch in unserem Kampfe mit den russischen Sozialchauvinisten eine große Rolle spielen. Diese Losung muss auch eine große Rolle spielen in der Richtlinie unserer ganzen Propaganda und Agitation unter dem russischen Proletariat. Der Marxismus internationalisiert sich, aber – auch der Opportunismus internationalisiert sich. Unsere Sozialchauvinisten und unser „Zentrum" werden entschieden Kautsky+), Cunow, Scheidemann und Vandervelde, die auf diese oder jene Art diese Losung von der Tagesordnung entfernen werden, die Hand reichen, und reichen sie auch jetzt schon!

Aber noch mehr wird uns von den russischen Nationalliquidatoren die Frage nach der demokratischen Revolution in Russland trennen. Nach dem Kriege wird eine ganze Reihe höchst wichtiger Fragen des internen russischen Lebens aktuell werden. Wir können die Details noch nicht voraussehen. Aber das eine können wir mit absoluter Sicherheit sagen: die Nationalliquidatoren werden alle diese Fragen in reformistischem Sinne beantworten, wir aber im Sinne des Kampfes für eine neue Revolution in unserem Lande, im Geiste der Erneuerung unserer Heimat durch einen revolutionären Sturm. Der Zarismus hat in diesem Krieg viel aufs Spiel gesetzt. Je mehr er verspielen wird, desto mehr wird es Pflicht der revolutionären Sozialdemokratie sein, Alarm zu schlagen und die Arbeiterklasse, sowie die ganze russische Demokratie zu revolutionärem Kampfe aufzurufen. Revolution! Revolution! Mit diesem Ruf werden wir die heimkehrenden Soldaten empfangen. Revolution! Revolution! Das wird unsere Parole sein, die wir der Romanowschen Monarchie, die ihr Spiel verloren haben wird, ins Gesicht schleudern werden. Eine neue Revolution, ein neues Jahr-„fünf" – dieser Ruf muss durch das ganze Land hallen, in allen Städten und Dörfern des weitumfassenden Russland. Unser „Juri-Tag"1 wird kommen. Russland muss sich endlich von der Schmach des Zarismus, vom Joch der Romanowschen Leibeigenschaft befreien. Die zweite demokratische Revolution in Russland ist im Anzug, sie kommt …

In dem Augenblick, wo ich diese Zeilen zu Ende schreibe, bringt der Telegraph die Nachricht vom Fall Lembergs … Die Geschichte wiederholt sich. Tausende und Abertausende russischer Männer hat die zaristische Bande rings um diese Stadt niedergelegt. Im Namen wessen? Im Namen des großen Schwindels von der „Befreiungsmission" des Zarismus. Im Namen der Interessen eines Häufleins Missetäter, der schlimmsten Feinde unseres Landes. Tausende und Abertausende deutscher Arbeiter und Bauern sind von den deutschen Imperialisten rings um diese Stadt begraben worden. Im Namen wessen? Im Namen der Interessen einer kleinen Clique des Finanzkapitals.

Ungefähr anderthalb Millionen russische Soldaten sind von den deutschen und österreichischen Armeen gefangen genommen worden, während nur eine Viertel Million Franzosen zu Gefangenen gemacht wurde. Nicht mehr und nicht weniger als eine Million russischer Soldaten ist gefallen und verwundet worden. Unter dem hohen Militär- und Ziviladel herrscht nach wie vor Korruption, Stumpfsinn, Unwissenheit, Schlamperei, Dieberei. Im Generalstab stellt die eine „Persönlichkeit" der anderen ein Bein und infolgedessen gehen Hunderttausende von Leben russischer Bauern und Arbeiter im Waffenrock zugrunde. 25 Jahre lang füttert die französische Plutokratie den Zarismus mit Anleihen. Eine Milliarde nach der anderen ist von Frankreich nach Russland gewandert. So bereitete das bürgerliche Frankreich die russische Armee für die „Revanche" gegen Deutschland vor. Millionen und Abermillionen hat das bürgerliche England dem Zarismus zur Kriegführung gegeben. Die gesamte russische Bourgeoisie, die gesamte „vaterländische" Intelligenz, ja sogar ein Teil der russischen „Sozialisten" haben den Zaren in diesem Krieg unterstützt. Und dennoch! Und dennoch: die masurischen Sümpfe, das Karpathengemetzel! die galizische Schmach, die Mjassojedow-Affäre 2)…

Wird denn auch das nicht jenen Bevölkerungsschichten in Russland, die in den chauvinistischen Strudel mit fortgerissen worden sind die Augen öffnen? Welche Lektionen braucht man denn noch? …

Die Sozialdemokratie ist verpflichtet, alles zu tun, was in ihrer Kraft steht, um den breitesten Schichten des Volkes die Augen zu öffnen über die schweren Lektionen der letzten Monate. Wir drehen der zaristischen Monarchie einen Strick nicht daraus, dass sie das „Vaterland" schlecht verteidigt, sondern daraus, dass sie unser Land überhaupt noch durch ihre Existenz schändet. Schlimm ist nicht, dass wir keine Hindenburgs haben, darüber mögen die russischen Imperialisten jammern, aber schlimm ist, dass wir einen Nikolai Nikolajewitsch und einen Nikolai Alexandrowitsch haben.

Der militärische Zusammenbruch des Zarismus ist im Anzug. Heran rückt die fürchterlichste wirtschaftliche Erschöpfung des Landes als Folge des verbrecherischen Krieges … Das Land wird dem Zarismus diese Millionen Menschenleben, dieses Meer von Blut, diesen Ozean von Tränen nicht verzeihen. Zur Verantwortung mit der Zarenbande! Selbst Elemente, die zu betören es dem Zarismus und seinen Helfershelfern vorübergehend gelang sogar jene Schichten der Bevölkerung, die selbst an die Notwendigkeit des Krieges glaubten, werden jetzt in diesen Ruf einstimmen.

Die Millionen Soldaten, die aus der Gefangenschaft und aus den Überresten der geschlagenen Armeen heimkehren werden, werden eine ungeheure revolutionäre Gärung mit sich ins Land bringen. Auch unter den russischen Offizieren werden sich Männer finden, die sich die Frage vorlegen werden, wo die wirklichen Urheber dieser Gräuel zu suchen seien. Unter ihnen werden sich Männer finden, die mit ihren eigenen Augen die Taten jener grauhaarigen Räuber und altgewordenen Diebe gesehen haben, die in der Zarenarmee leitende Posten einnehmen. Die revolutionäre Unzufriedenheit wird unter dem gemeinen Volke Russlands um sich greifen. Nicht ausgeschlossen ist auch eine vorübergehende Fronde sogar von Seiten eines gewissen Teiles der Bourgeoisie.

Der letzte Einsatz des Zarismus wird verspielen. Wen Zeus zugrunde richten will, dem nimmt er den Verstand. Der Zarismus hat sich unbesonnen in das Verzweiflungsspiel gestürzt. Die Nemesis der Geschichte verlangt ihr Teil. Durch den Donner der Kanonen hindurch hört man jetzt schon das entfernte Grabgeläute für die Zarenmonarchie.

Unsere heißen, grenzenlosen Sympathien sind auf Seiten der unglückseligen Bevölkerung, die unter den Gräueln des Krieges leidet; unser glühender, grenzenloser Hass muss der Zarenbande gelten, die Millionen Menschen zur Abschlachtung geschickt, die viele Millionen Menschen ruiniert hat.

Die Arbeiterklasse Russlands muss in dem bevorstehenden neuen revolutionären Kampfe die ehrvolle Initiative ergreifen. Zur Verantwortung mit der Zarenmonarchie! An die Gurgel mit ihr und – Knie auf die Brust! Möge der Aderlass, den die Monarchie der Romanows an unserem Lande in den Jahren 1914/1915 unternommen hat, der letzte sein. Es ist an der Zeit, die Rollen zu vertauschen. Es ist höchste Zeit, dass unser Land ein für allemal der Romanowschen Monarchie ein Ende macht, es ist höchste Zeit, sie ins Grab zu versenken und der Sicherheit halber einen tüchtigen Holzpflock darüber in die Erde zu schlagen.

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Das ist unser Weg, der Weg der revolutionären Sozialdemokratie.

Auf diesem Wege werden wir wiederum auf Hindernisse von Seiten des Nationalliquidatorentums stoßen. Das Liquidatorentum war eine konterrevolutionäre Strömung. Das Nationalliquidatorentum ist es im Kriege doppelt geworden. Wie der Sozialchauvinismus eine konterrevolutionäre Richtung in Westeuropa darstellt, so ist das Nationalliquidatorentum eine gegenrevolutionäre Richtung im Osten…

Gleich zu Beginn des Krieges gab es einen Moment, da es den Anschein hatte, als ob von den Liquidatoren eine einflussreiche Gruppe, die bereit war, ernsthaft gegen den Sozialchauvinismus zu kämpfen, abrücken, und dies eine ganz neue Parteigruppierung ergeben würde. Leider! Diese Hoffnungen sollten sich nicht verwirklichen. Die Internationalisten wären gerne bereit, einer solchen Gruppe die Hand entgegenzustrecken. Aber leider existiert eine solche Gruppe in Wirklichkeit nicht.

Dem revolutionären Marxismus steht ein neues Treffen mit dem russischen Opportunismus bevor – auf neuem Kampfplatz, unter neuen Verhältnissen, auf erweiterter Basis. Wir erleben in dieser Hinsicht die Stille vor dem Sturm. Der Kriegszustand hat das innere Leben der Sozialdemokratie in Russland niedergedrückt. … Aber dies nur vorübergehend. Vor dem bevorstehenden neuen Treffen des sozialdemokratischen Berges und der Gironde in Russland wird der Kampf der Jahre 1909/1914, der um das Liquidatorentum geführt wurde, verblassen.

Der bürgerliche Revisionismus hat sich in Russland während dieses Krieges endgültig statuiert. Nur derjenige, der Ohren hat, um nicht zu hören, und Augen, um nicht zu sehen, kann jetzt daran zweifeln, dass die Liquidatoren Sendboten der bürgerlichen Gesellschaft, der bürgerlichen Politik, der bürgerlichen Ideologie im Lager der Arbeiter sind. Die Bewegung der Arbeiterklasse Russlands ist im Vergleich mit der westeuropäischen Bewegung um Jahrzehnte zurückgeblieben. So wollen wir doch die Erfahrungen dieser letzteren ausnutzen, um nicht ihre Fehler zu wiederholen. Kampf mit dem Opportunismus, Kampf auf Leben und Tod – das ruft, das schreit uns diese Erfahrung entgegen. Jahrzehntelang geht dieser Kampf auch in Russland vor sich. Ihn fortzusetzen ist notwendig, ihn zu vervielfachen ist dringend notwendig. Wir dürfen mutig der Zukunft entgegen sehen. Wir können fest davon überzeugt sein, dass die ganze Blüte der russischen Arbeiterklasse, dass alle heldenhaften und denkenden Elemente im russischen Proletariat mit uns sein und die Nationalliquidatoren mit verdienter Verachtung strafen werden.

G. Sinowjew.

+ Kautsky erlaubt sich in der letzten Zeit eine Fronde gegen die Südekums und Haase. Kautsky und seine Freunde ahnen den Protest in der Tiefe der Arbeitermassen, und sie führen einen Scheinkrieg gegen den Parteivorstand, um den Hauptgegenstand der Meinungsverschiedenheit zwischen den Sozialisten und den Chauvinisten von der Tagesordnung zu entfernen. Viel Aufsehen erregte die Erklärung von Kautsky, Haase und Bernstein für den Frieden und gegen Annexionen. Aber. – was ist der Sinn dieser Erklärung? Kautsky und seine Gesinnungsgenossen glauben, der militärische Sieg sei ihrem Vaterlande gesichert, und Wilhelm II. habe recht viel Chancen, eine Reihe von Annexionen zu machen. Jetzt, wo das Kapital erworben ist, kann man auch den Unschuldigen spielen – kann gegen Annexionen protestieren. Das wird den Südekums missfallen? Aber was soll man machen? Sonst – kann man sich nicht vor der Internationale zeigen, sonst blamiert man sich vor den Arbeitern.

Dass Kautsky von dieser Voraussetzung ausgeht, wird aus den Worten der Erklärung klar: „1917 [muss heißen: 1870!] hatten alle Sozialdemokraten in einer ähnlichen Situation, ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten zu Beginn des Krieges", ebenfalls einmütig gegen Annexionen protestiert. Schweitzer und seine Freunde stimmten bekanntlich zu Beginn des Krieges 1870 für die Militärkredite. Aber nach Sedan stimmten auch sie „einmütig" gegen Annexionen als die Annexion Preußen bereits gesichert war.

Der Opportunist Heine polemisiert auch so gegen Kautsky und Haase: „Ihr behauptet, unser Vaterland hätte schon gesiegt, aber wir behaupten mit Hindenburg das Gegenteil – der Kampf ist noch nicht zu Ende. Die Opportunisten aus den „Sozialistischen Monatsheften" sind jetzt auffallend offenherzig. Die heuchlerische Proklamation des Parteivorstandes für den Frieden erklären sie als einfache Komödie. Über Kautskys Ohnmacht machen sie sich geradezu lustig – vergl. z. B. Legiens Artikel im Juliheft der „Sozialistischen Monatshefte". Wie sollten sie sich auch nicht lustig machen, wenn Kautsky bisher nicht klipp und klar sagen kann, für was er am 4. August war: für Stimmenthaltung oder Bewilligung der Kredite. Die letzte Version Kautskys in seinem Artikel in der Breitscheidschen „Korrespondenz" ist folgende: Im Herzen war er für Stimmenthaltung; aber in der Fraktionssitzung hatte er sich zu spät in die Rednerliste eingetragen; vor ihm sprachen viele Redner, und beide Seiten lehnten die Stimmenthaltung ab; als er dann sah, dass die Stimmenthaltung keine Mehrheit erlangen würde, schlug er vor, für zu stimmen, aber von der Regierung Garantien zu verlangen, dass sie keine Annexionen vornehmen würde. Wahrhaftig, kann man sich denn etwas Hilfloseres und Lachhafteres vorstellen … Dafür finden wir in derselben Nummer der „Sozialistischen Monatshefte" gegen die linke Opposition geradezu einen Wutanfall. Oderint duum meduant (man mag uns hassen, aber fürchten) …

Die deutsche sozialdemokratische Linke muss natürlich diese Fronde des „Zentrums" gegen die offenherzigen Sozialchauvinisten ausnützen. Aber jetzt kommt gerade die schwerste Prüfung. Nach dem Kriege werden natürlich auch die Scheidemänner für die „Kautskysche" inhaltslose, „linke" Resolution sein, um den Streitpunkt vor den Massen zu verkleistern. Mit allen Kräften gegen einen solchen faulen Frieden mit den Opportunisten kämpfen, ist die Pflicht aller deutschen Linken.

1 Der Tag des Heiligen Juri, an dem unter Boris Godunow die erste Verordnung über die Leibeigenschaft erschienen war.

2 Eine Korruptionsaffäre, deren Held der Offizier Mjassojedow war.

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