G. Sinowjew 19141205 Ein wichtiges Dokument

G. Sinowjew: Ein wichtiges Dokument

[„Sozialdemokrat", Nr. 34. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 18-20]

Uns wird aus Petersburg folgendes außerordentlich wichtige Dokument zugeschickt, das in gewissen Kreisen zirkuliert als Ausdruck der Ansichten der leitenden Kreise der Petersburger Liquidatoren. Dieses Schreiben an Vandervelde ist, wie man uns aus Petersburg mitteilt, tatsächlich ein Ausdruck der Ansichten der verantwortlichen Vertreter der liquidatorischen Richtung, die auf wichtigen Reichsposten wirken. Faktisch ist es das Credo der russischen Liquidatoren als Richtung.

An den Minister Vandervelde, Belgien.

Lieber Genosse! Wir haben Ihr Telegramm erhalten, das von der Militärzensur durchgelassen wurde. Wir begrüßen das belgische Proletariat und Sie, als dessen Vertreter. Wir wissen, dass Sie, wie das ganze internationale Proletariat, energisch gegen den Krieg ankämpften, als er von den herrschenden Klassen der Großmächte vorbereitet wurde. Doch gegen den Willen des Proletariats ist der Krieg ausgebrochen. In diesem Kriege ist Ihre Sache die gerechte Sache des Selbstschutzes gegen jene Gefahren, die den demokratischen Freiheiten und dem Befreiungskampfe des Proletariats von Seiten der aggressiven Politik des preußischen Junkertums drohen. Abgesehen von den Zielen, die sich die kriegsteilnehmenden Großmächte dieses Krieges stellten und stellen, wird der objektive Gang der Ereignisse die Frage der Existenz der Hochburg des heutigen Militarismus selbst auf die Tagesordnung stellen, als welche das preußische Junkertum erscheint, das mit schwerer Faust auch auf dem Befreiungskampf des deutschen Proletariats lastet. Wir sind fest davon überzeugt, dass zu dessen Beseitigung die Sozialisten jener Länder, die an diesem Kriege teilzunehmen gezwungen sind, sich mit der ruhmreichen Avantgarde des internationalen Proletariats, d. h. der deutschen Sozialdemokratie verbinden werden. Leider befindet sich aber das Proletariat Russlands nicht in der Lage, in der sich das Proletariat der anderen Länder, die mit dem preußischen Junkertum kämpfen, befindet. Uns steht eine unvergleichlich schwierigere und widersprechendere Aufgabe bevor, als den westeuropäischen Genossen. Die internationale Lage wird dadurch kompliziert, dass im jetzigen Kriege gegen das preußische Junkertum noch eine andere reaktionäre Macht teilnimmt: die russische Regierung, die, im Prozess des Kampfes erstarkend, unter gewissen Umständen zum Brennpunkt der reaktionären Tendenzen der Weltpolitik werden kann. Diese eventuelle Rolle Russlands in den internationalen Beziehungen ist eng an den Charakter jenes Regimes geknüpft, das unumschränkt bei uns herrscht. Und selbst im gegenwärtigen Augenblick ist das Proletariat Russlands, im Gegensatz zu seinen westeuropäischen Genossen, jeder Möglichkeit beraubt, offen seine Kollektivmeinung auszudrücken und seinen Kollektivwillen zu verwirklichen. Jene wenigen Organisationen, die vor dem Kriege bestanden, sind aufgehoben. Die Presse ist vernichtet. Die Gefängnisse sind überfüllt. Das nimmt der Sozialdemokratie Russlands jede Möglichkeit, im gegenwärtigen Moment jene Position einzunehmen, die von den Sozialisten Belgiens, Frankreichs und Englands eingenommen wurde, und durch aktive Teilnahme am Kriege die Verantwortung für die Handlungen der russischen Regierung zu übernehmen, sowohl vor dem Lande, wie vor dem internationalen Sozialismus. Doch ungeachtet dieser Verhältnisse erklären wir Ihnen, indem wir die internationale Bedeutung des europäischen Konfliktes sowie die aktive Beteiligung der Sozialisten der vorgeschrittenen Länder berücksichtigen, die dafür Gewähr leisten, dass der Konflikt im Interesse des internationalen Sozialismus gelöst werden wird, dass wir in unserer Wirksamkeit in Russland dem Krieg nicht entgegenarbeiten. Wir halten es jedoch für notwendig, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass es jetzt schon notwendig sei, einen energischen Kampf gegen die jetzt schon in Erscheinung tretende Eroberungspolitik der Großmächte vorzubereiten und bei jeder Annexion eine vorhergehende Befragung des Volkes zu fordern, das das annektierte Gebiet bekommt.

Von der Redaktion: Die schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Martows Stimme gegen den Chauvinismus ist unter den Liquidatoren einsam geblieben. Die einflussreichen Liquidatoren, die in Russland selbst tätig sind, haben sich auf den Boden des banalsten Sozialchauvinismus gestellt. Sie kauen die in der Schwarzen-Hundert- und bürgerlichen Presse gangbare Behauptung nach, dass die Sache Englands und Frankreichs (die faktisch ebenfalls einen „Vorbeugungskrieg" führen), eine „gerechte Sache" sei. Sie billigen den Eintritt von Sozialisten in die Regierung und erklären naiv, dass sie selber nicht dasselbe tun aus Gründen, über die sie nicht Herr seien, nämlich weil das russische Ministerium sie nicht auffordere. Indem sie die französischen Sozialchauvinisten belobigen, fahren sie zugleich fort – wohlgemerkt! – die deutschen Sozialchauvinisten als die „ruhmreiche Avantgarde des internationalen Proletariats" zu titulieren. Das – nach dem 4. August. Nach der Bewilligung der Militärkredite, nach der Erklärung Haases, nach dem „Heldentod" Franks, nach dem Verzicht des „Vorwärts", die Frage des Klassenkampfes zu behandeln! … Aber im Munde des Verfassers ist dieser Aufruf vollkommen logisch. Der franzosenfreundliche Sozialchauvinismus gleicht dem deutschfreundlichen Sozialchauvinismus wie ein Ei dem andern…

Und endlich erklären die Liquidatoren mit lobenswerter Offenheit, dass „wir in unserer Wirksamkeit in Russland dem Krieg nicht entgegenarbeiten".

Nicht entgegenarbeiten"! Freue sich der „patriotisch" gesinnte Plechanow. Sie haben seine Ratschläge beherzigt. Und sie … „arbeiten nicht entgegen".

Merken jedoch die Verfasser des Aufrufes, wem sie durch ihre Taktik Vorschub leisten? Merken sie, dass sie bei dieser Handlungsweise sich durch nichts von den nationalliberalen Chauvinisten unterscheiden? Wissen sie, dass bei der jetzigen Sachlage die Arbeiter, die Sozialisten mehr denn je berechtigt sind zu sagen: Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns?

Vor dem Angesicht dessen, was rings um die Russische Sozialdemokratische Arbeiterfraktion geschieht, fällt das hier abgedruckte Credo der Liquidatoren als besonders schimpfliche Schmach auf ihre ganze Richtung zurück.

5. Dezember 1914.

G. Sinowjew.

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