G. Sinowjew 19141101 Gegen den Strom

G. Sinowjew: Gegen den Strom

[„Sozialdemokrat", Nr. 32. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. f.]

In einem unerhört schwierigen Augenblick nehmen wir die Herausgabe des „Sozialdemokrat'' auf. Unsere Partei, die ganze Arbeiter-, die ganze Befreiungsbewegung, die ganze Internationale, erlebt eine ungeheuer schwere Periode. Auf dem Spiel stehen nicht nur die materiellen, sondern auch die geistigen Errungenschaften des internationalen Proletariats – das Resultat vieler, vieler Jahrzehnte beharrlichen Kampfes und schwerer Arbeit.

Nicht allein, dass tagtäglich auf den Todesfeldern Hunderte und Tausende sozialistischer Arbeiter aller Länder physisch vernichtet werden. Nicht allein, dass dieses höllische Unternehmen von den Vertretern der absterbenden Welt durch unsere eigenen Hände vollführt wird, indem die Arbeiter des einen Landes gezwungen werden, ihre Brüder, die in einem anderen Lande geboren sind, umzubringen. Nein! Sie wollen uns außerdem noch geistig demoralisieren. Sie sind bestrebt, der größten Bewegung, die je die Weltgeschichte gekannt hat, die furchtbare Krankheit einzuimpfen, die dem morschen Regime der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen eigen ist.

Der Name dieser Krankheit ist – Chauvinismus.

Und … die Bourgeoisie kann siegreich triumphieren. Der Krieg hat eine ungeheure geistige Zerrüttung in den meisten europäischen sozialdemokratischen Parteien mit sich gebracht. Wenn 110 sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete in Deutschland 4 Milliarden Kriegskredite gegen Frankreich und Belgien bewilligen, wenn der „Vorwärts" gehorsam die Bedingungen des preußischen Generals hinnimmt, im Arbeiterblatt vom Klassenkampf nicht zu reden – so ist das für die Bourgeoisie so viel wert, wie manche gewonnene Schlacht. In den Tagen der allgemeinen Liebedienerei, in den Tagen der wahnsinnigsten Exzesse des Chauvinismus, in den Tagen, da der Chauvinismus selbst unter den Sozialisten allgemein zu werden droht, in den Tagen, da Männer wie Karl Kautsky „theoretisch" den „sozialistischen" Chauvinismus der Südekum und Haase rechtfertigen, da Jules Guesde neben Millerand im Ministerium sitzt und Plechanow die franko-russische Allianz verteidigt und zum Kampf gegen den deutschen Militarismus an die „Kultur" der russischen Kosaken und Nikolai Romanows appelliert – in diesen Tagen muss alles, was dem Sozialismus treu geblieben ist, die Stimme des Protestes erheben.

Wir verhehlen es nicht: Die chauvinistische Strömung ist momentan sehr stark. Die Seuche hat kolossale Dimensionen angenommen. Doch das entbindet uns nicht der Verpflichtung, sondern diktiert uns gebieterisch, gegen den Strom zu rudern. Mögen jetzt alle unsere Organe in Russland erdrosselt sein, mag unsere schwache Stimme einsam hallen, mag jeder Tag immer neue Nachrichten über Sozialisten bringen, die der chauvinistischen Woge zum Opfer gefallen sind.

Wir sind jetzt wenige. Aber schon die ersten Meldungen aus Russland zeigen, dass die klassenbewussten Arbeiter unseres Landes bereit sind, ihre Pflicht bis ans Ende zu erfüllen. Und im vollen Glauben an die kommende Befreiung des Sozialismus vom chauvinistischen Bann rufen wir alle diejenigen auf, einander die Hand zu reichen, die in diesen schweren Tagen dem sozialistischen Banner treu geblieben sind.

Die chauvinistische Strömung macht verheerende Eroberungen. Doch wir –

wir werden die Gegenströmung erzeugen

gegen den Strom!.

1. November 1914.

G. Sinowjew.

Kommentare