G. Sinowjew 19160218 Hineingerutscht in Legalität!

G. Sinowjew: Hineingerutscht in Legalität!

[„Sozialdemokrat" Nr. 50. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 312-316]

Die Partei der russischen Sozialchauvinisten ist in die Legalität hineingerutscht. Die Liquidatoren haben sich endgültig als Chwostowsche Arbeiterpartei formiert. Das ist der politische Sinn der letzten Ereignisse in der Arbeiterbewegung unseres Landes.

Seit 1910, seit den ersten Jahren der Konterrevolution zieht sich dieser Prozess hin. Der Grundstock des Menschewismus entwickelt sich glücklich bis zum Liquidatorentum. Die Liquidatorenpartei wird in Wirklichkeit zur Stolypinschen Arbeiterpartei. Im Jahre 1912 war das Liquidatorentum derart „reif" geworden, dass die Januarkonferenz die Liquidatoren aus der Partei ausschließen musste – und wie jetzt jedermann einsieht, mit vollem Recht. Und wenn es den Liquidatoren bis 1915 nicht gelingen will, sich endgültig zu legalisieren und endgültig in das Regime einer anerkannten Partei hineinzurutschen, so ist es nur deshalb der Fall, weil die verblödete und stumpfsinnige Reaktion nicht einmal diesen liberalen Arbeiterpolitikern entgegenkommen will.

Jetzt ist das Bild verändert. Noch niemals bedurfte die Zarenmonarchie so sehr der Unterstützung von Seiten auch nur eines kleinen Teiles der Arbeiter, wie jetzt im europäischen Kriege. Die bittere Notwendigkeit macht sie gefügiger. In der Not frisst der Teufel Fliegen… Und so sehr auch die Repräsentanten der Schwarze-Hundert-Monarchie toben mögen – alle diese Chwostow, Stürmer, Rasputin und Konsorten –, sie können jetzt ein Bündnis mit der liberalen Arbeiterpartei nicht ohne weiteres von der Hand weisen.

Andererseits aber sanken auch die Liquidatoren noch niemals so tief wie jetzt, sie erreichten noch niemals einen solchen Grad von politischer Minderwertigkeit, Liebedienerei und Pöbelhaftigkeit, wie jetzt, wo das Liquidatorentum sich zum Sozialpatriotismus entwickelt hat, wo vor aller Welt sich die schmähliche, schmutzige Denunziantenpolitik der Chwostow abspielt. Und daher waren die Liquidatoren noch niemals so erwünschte Bundesgenossen für die Zarenmonarchie, wie in unseren Tagen.

Die Geschichte wollte es, dass die endgültige Formierung der Stolypinschen (oder Chwostowschen) Arbeiterpartei in Russland gerade im Moment des Krieges stattfinde, wo der Kriegszustand und die Militärzensur herrschen, wo die Arbeiterklasse an Händen und Füßen gebunden ist, wo die Reaktion mit noch nie dagewesener Vehemenz rast. Und das ist kein Zufall. Die Kriegskrise hat in ganz Europa mit ungewöhnlicher Anschaulichkeit dasselbe Bild gezeigt. Noch niemals war es so augensichtlich, so greifbar klar, dass die Revisionisten, die Opportunisten, die Sozialpatrioten sowohl in Deutschland, wie in Frankreich, wie in England einfach Agenten der Bourgeoisie und der Regierung darstellen. In allen kriegführenden Ländern ist die Lage genau dieselbe. Ja sogar in Amerika, sogar in Australien nehmen wir dieselbe Erscheinung wahr: sämtliche Opportunisten sind als direkte Verräter an der Arbeitersache, als direkte Werkzeuge der chauvinistischen Bourgeoisie aufgetreten. Überall und allerorts hat sich die Arbeiterbewegung in zwei Lager geteilt: Sozialpatrioten, die sich endgültig zur Bourgeoisie geschlagen haben, und revolutionäre Sozialisten, die gezwungen sind, gegen die Sozialchauvinisten genau so zu kämpfen, wie gegen die Bourgeoisie.

Wir sehen in den letzten Monaten, wie in Russland der Sozialchauvinismus sich konsolidiert, organisiert und immer offener, immer frecher auftritt. Man kann nicht leugnen, dass er auch in Russland eine gewisse Macht gewinnt. Das lässt sich sehr einfach erklären. Die Liquidatoren allein wären in der Arbeiterbewegung machtlos. Die reaktionäre Regierung allein wäre mit ihrer Propaganda unter den Arbeitern ebenfalls ohnmächtig. Aber als das Liquidatorentum sich in dieser oder jener Form mit der zaristischen Regierung vereinigt hat; als der Chwostow den Sozialchauvinisten die Hand reichte; als der Pakt der Opportunisten mit der Regierung zur Tatsache wurde und die Unterstützung dieses Paktes von Seiten der liberalen Bourgeoisie noch nie dagewesene Dimensionen angenommen hat; – da gewann dieser Pakt natürlicherweise eine gewisse Bedeutung auch in der Arbeiterbewegung Russlands, da vermochte er vorübergehend die rückständigen Schichten der Arbeiter mit fortzureißen.

Dass dem so ist, hat das Bild der Wahlen für die Kriegsindustrie-Ausschüsse in Petersburg und Moskau anschaulich gezeigt. Hier einige Ziffern über die Moskauer Wahlen: In der Schraderfabrik sind 1105 Arbeiter beschäftigt, der Wähler erhielt 59 Stimmen; bei Girod arbeiten 3268 Arbeiter, 198 Stimmen wurden abgegeben; im Moskauer Metallwerk sind 3048 Arbeiter, abgegebene Stimmen 102/128; bei Postawstschik – 8557 Arbeiter, abgegebene Stimmen – 120/295; Dynamo – 1500 Arbeiter, 74 abgegebene Stimmen, usw. In Petersburg hat die genaue Stimmenzählung unwiderlegbar bewiesen, dass die Majorität hinter den Internationalisten steht. Sowohl in Moskau wie in Petersburg leistete sogar im jetzigen schweren Augenblick nur die Minorität der Arbeiter den „Landesverteidigern" Gefolgschaft. Und dennoch haben sie „gesiegt". Warum? Darum, weil sie von der gesamten Bourgeoisie und der gesamten zaristischen Regierung unterstützt worden sind. Darum, weil unsere Presse unterdrückt ist, während ihre Presse das Monopol der Legalität besitzt. Darum, weil unsere Partei mit Feuer und Schwert verfolgt wird, sie aber Feste feiern. Darum, weil die Ideen der „Vaterlandsverteidigung" jetzt von der ganzen Regierungs-, der ganzen bürgerlichen und der ganzen Liquidatorenpresse verbreitet werden und den Arbeitern dieses „patriotische" Opium in Gestalt von sozialdemokratischen Ideen kredenzt wird.

Man stelle sich einen Augenblick lang vor, dass zu den Zeiten Subatows1 der ganze rechte Flügel der Sozialdemokratie sich der Regierung angeschlossen hätte, man stelle sich vor, dass zu den Namen Subatow sich solche Namen gesellten, wie Plechanow, Potressow, Vera Sassulitsch, Prokopowitsch, Maslow, Tscherewanin, Axelrod, Kuskowa und andere. Natürlich wäre es der zaristischen Regierung auch dann bedeutend leichter geworden, einen Teil der Arbeiter wenigstens für die erste Zeit irre zu führen. Und gerade ein solches Bild nehmen wir jetzt wahr. Das Verhalten der offiziellen sozialpatriotischen Parteien Westeuropas und der Zusammenbruch der II. Internationale erleichtern den russischen Liquidatoren ihr schmutziges Geschäft des Verrates am Sozialismus außerordentlich.

In der Budgetkommission der zweiten Duma erklärte der Schwarze-Hundert-Minister Chwostow direkt, dass, obwohl die Regierung wohl wisse, dass die Arbeiter, die an den Kriegsindustrie-Ausschüssen teilnehmen, in Opposition zu ihr stehen, sie dennoch sich ihnen gegenüber ganz anders verhalte, als zu den „defätistischen" Arbeitern. Die Regierung erlaubt ihnen offen, ihre Gruppen zu organisieren, Agitationsreisen in der Provinz zu unternehmen usw. Noch mehr, sie war nicht abgeneigt, ihnen einen Arbeiter-Reichskongress zu gestatten.

In Frankreich fanden in den siebziger Jahren in Zusammenhang auch mit dem wachsenden Nationalismus unter den französischen Arbeitern Arbeiterkongresse statt, auf denen ein Teil des französischen Proletariats offen auf den Sozialismus verzichtete. Solche Arbeiterkongresse schweben jetzt der Phantasie der Chwostows vor. Und es unterliegt keinem Zweifel, dass, wenn die Sache allein von den Liquidatoren abhinge, wenn unter den Arbeitermassen Russlands nicht revolutionäre Traditionen lebendig waren, wenn nicht unter den vorgeschrittenen Arbeitern der Hass und die Verachtung gegenüber den Chwostow-Wölfen im „sozialistischen" Fell wach wären, die Hoffnungen der Schwarze-Hundert-Regierung nicht unbegründet wären.

Es bedurfte Jahre Krieg und einer Reihe grimmiger militärischer Niederlagen, bis die Schwarze-Hundert-Regierung den liberalen Arbeiterpolitikern Russlands entgegengekommen ist. Auch jetzt sind noch Schwankungen und Kursveränderungen möglich. Auch jetzt hat Chwostow ihnen noch nicht die Zügel abgetreten. Aber der Prozess ist deutlich skizziert. Ob eine offizielle und offene Legalisierung der Liquidatorenpartei stattfinden wird, ist unwichtig. Die Kadettenpartei ist bisher offiziell ebenfalls nicht legalisiert. Doch es ist Tatsache, dass im Kriege die Liquidatoren in die Legalität hinein gerutscht sind, genau so wie die Kadetten vorher in sie hineingerutscht waren. „Nasche Djelo", das Sammelbuch „Selbstschutz", „Nasch Golos", „Rab. Utro",- das sind die legalen Organe der Chwostowschen Arbeiterpartei heute. Morgen kann es ihrer mehr geben. Die Gruppen in den Kriegsindustrie-Ausschüssen sind die Stützpunkte dieser Partei. Morgen können ihrer weniger sein; ein Teil der Arbeiter wird sicherlich den Schwindel durchschauen. Diese Stützpunkte können auch eine andere Form annehmen, aber sie werden sowohl im Lande, wie in der Duma bleiben. Gegenüber der Fraktion Tschcheidse verhält sich die Bourgeoisie und die Regierung deshalb wohlwollend, weil diese Fraktion ihrerseits die Chwostowsche Arbeiterpartei mit Wohlwollen behandelt.

Die Moskauer Sozialpatrioten erklärten offen: Wir treten in die zaristischen Ausschüsse ein, weil wir für die „Vaterlandsverteidigung" in diesem Kriege sind. Den Diplomaten des Liquidatorentums missfiel diese offene Erklärung.

Ihnen gefällt die Erklärung der Petersburger Sozialpatrioten besser, die in der Wahlmännerversammlung dasselbe sagten, aber in der Erklärung sich hinter dem Satze verschanzten: Wir lassen die Frage der „Landesverteidigung" offen, wir treten in die Ausschüsse ein, bloß zum Zweck der Organisierung unserer Kräfte und deren Ausnützung."

Das ist ein doppelter Schwindel. Südekum und Legien ließen zu Beginn des Krieges ebenfalls durchblicken, dass sie nur im Interesse der „Organisation", zwecks Erhaltung der Arbeiterzeitungen, der Parteikassen usw. dem Kaiser entgegenkommen. Als Millerand und Briand ins bürgerliche Ministerium eintraten, sagten sie auch nicht, dass sie sich der Bourgeoisie verkauft hatten, sondern versicherten, dass sie ins Ministerium eintreten, um für die Arbeiterinteressen zu kämpfen. Das Gerede, dass die Liquidatoren in die Kriegsausschüsse eintreten, um sie „auszunutzen", ist ein niederträchtiger Betrug der Arbeiter. Es ist ja sonnenklar, dass die Zarenausschüsse in Wirklichkeit die Arbeiter ausnutzen werden, und nicht umgekehrt. Die „Ausnutzung" hat ihre Grenzen. Man kann nicht in die Ochrana eintreten, um sie „auszunutzen" … Die Arbeiter brauchen die Organisation, sie ist ihnen teuer. Aber die Organisation ist zum Kampfe gegen den Imperialismus da und nicht zur Unterstützung der Imperialisten, nicht zur Liebedienerei bei der Zarenbande …

Wer hat Chwostow und Gutschkow jene Arbeitergruppen geliefert, über die sie jetzt verfügen? Nicht Plechanow, nicht die Prisyw-Leute. Plechanow hat natürlich durch sein offenes Renegatentum die „Geburtswehen" der Chwostowschen Arbeiterpartei erleichtert. Gewiss, aber Organisationen hatte er und seine Anhänger in Russland niemals. Diese Organisationen bekamen auch Chwostow und Gutschkow vom Augustblock, von den O.-K.-Leuten, von „Nascha Sarja", von der Gruppe der alten Legalisten und der durch sie korrumpierten Arbeiter, unter den Auspizien der Fraktion Tschcheidse.

Der August-Block mit „Nascha Sarja" an der Spitze, das ist der Kern der Chwostowschen Arbeiterpartei. Im Hintergrund dieser Partei trottet die „linke" Gruppe (mit Martow), die an Zimmerwald teilnimmt, „internationalistische" Phrasen drischt usw. Auf den ersten Blick ist das eine für die Chwostowpartei ungewöhnliche Erscheinung. Aber darin steckt System. Martow und Konsorten spielen dieselbe Rolle gegenüber dem offenen „Vaterlandsverteidiger", wie der „oppositionelle" Longuet gegenüber dem amtlichen Patrioten Renaudel, wie der „Friedensanhänger" Huysmans gegenüber dem „Durchhalter" Vandervelde. Objektiv genommen ist das einfach eine Arbeitsteilung zum Zweck einer erfolgreicheren Irreführung der Arbeiter. Es ist ein Blitzableiter gegen die wahre Arbeiteropposition.

Ein offenherziger – und nicht dummer – Sozialpatriot, der aus Russland eintraf (s. Interview in „Nasche Slowo", Nr. 417) sagt:

Nein, mit Ihnen machen wir nicht mit, aber mit Axelrod, Martow usw., das ist etwas anderes … Manchmal ist es nicht übel, sie (die offiziellen Organe des August-Blockes) hinter sich zu haben … Für sie sind wir bereit, gewisse Zugeständnisse zu machen … Wir haben nichts gegen Zimmerwald usw. Wir wollen mit ihnen nicht brechen – im Namen der Zukunft."

Auch unsere russischen Longuets wollen mit den Sozialpatrioten nicht brechen. Die „Mission" Axelrods und Martows besteht darin, irgendwie im Kriege durchzuhalten und dann im Namen der „Einigkeit" und auf Grund dessen, dass der Krieg beendet und die brennenden Fragen von der Tagesordnung verschwunden sein werden, wieder ruhig mit den Verrätern am Sozialismus, mit den jetzigen „Augustisten" (oder richtiger: Oktobristen) zusammen zu marschieren. Deshalb lesen wir in Nr. 3 der „Iswestija", wie Martow, gleichsam seine „linken" Freunde verhöhnend, ihnen rät, mit „Nascha Sarja" nicht zu brechen und … den Kongress und die Konferenz des Augustblockes nicht abzuwarten. Das heißt mit anderen Worten, den wirklichen Kampf mit den Chwostowisten aus „Nascha Sarja" ad calendas graecas (auf nimmerdar) verschieben.

Die Schraubenwindungen der einzelnen Gruppen, die kleinlichen Tricks der einzelnen Führer haben eine ganz untergeordnete Bedeutung. Die grundsätzliche Tatsache, die der ganzen nächsten Geschichte unserer Arbeiterbewegung ihre Färbung verleihen wird, besteht darin, dass die Liquidatoren in die Legalität hineingerutscht und zu einer Chwostowschen Arbeiterpartei geworden sind. Je mehr es ihnen gelingen wird, einen Teil der Arbeiter jetzt irre zu führen, umso entschlossener wird der Kampf gegen sie sein, umso größer wird der Hass und die Verachtung in den Arbeitermassen ihnen gegenüber sein, wenn diesen Arbeitern in der nächsten Zeit die Augen aufgehen werden.

Zwei Parteien haben sich endgültig in Russland gebildet. Zwischen unserer Partei und der der liberalen Arbeiterpolitiker liegt ein Abgrund. Der Kampf gegen diejenigen, die in Legalität hineingerutscht sind, muss genau so unversöhnlich geführt werden, wie gegen die Schwarzen Hundert und die Bourgeoisie – das ist die Parole unserer Partei.

18. Februar 1916.

G. Sinowjew.

1 Urheber der provokatorischen Methoden im Kampfe gegen die Arbeiterbewegung. Die Subatow-Politik ging soweit, dass die Regierung selbst Gewerkschaftsverbande gründete; aber bald wandte sich die Gewerkschaftsbewegung gegen die Regierung.

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