G. Sinowjew 19141212 Nicht-Helden

G. Sinowjew: Nicht-Helden

[„Sozialdemokrat", Nr. 36. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 39 f.]

Der 2. Dezember wird ein ebenso schmachvolles Datum in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie bleiben, wie der 4. August. An diesem Tage haben 110 „sozialdemokratische" Reichstagsabgeordnete neue 5 Milliarden Volksgelder bewilligt zur Vernichtung der französischen, belgischen, englischen und russischen Arbeiter und Bauern – zur Befriedigung der imperialistischen Gelüste der Junkerbande.

Das Verhalten der sozialdemokratischen Fraktion hat am 2. Dezember endgültig die Naivität jener Biedermänner gezeigt, die versicherten, dass die Abstimmung am 4. August nur ein trauriges Missverständnis war: die sozialdemokratischen Abgeordneten wären überrumpelt" worden und deshalb hätten sie geglaubt, dass der Krieg von Seiten Deutschlands wirklich ein Krieg gegen den Zarismus sei …

Am 2. Dezember wurden die sozialdemokratischen Abgeordneten nicht überrumpelt, und Bethmann-Hollweg erklärte in seiner Rede klipp und klar, dass der Hauptfeind Deutschlands – England, und nicht der russische Zarismus sei. Und doch … und doch haben diese, mit Verlaub zu sagen, – Vertreter des Proletariats – sklavisch dem Kaiser die Hand geküsst und die weiteren Heldentaten der Hindenburgs und von Klucks gesegnet.

Von der Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion hat nach dem 4. August auch niemand etwas anderes erwartet. Die Herren Revisionisten und die Herren des berühmten, dem Herzen Kautskys so lieben „Zentrums", sind für was anderes, als die Rolle von Lakaien des Imperialismus nicht zu gebrauchen. Aber es waren doch unter den 111 Reichstagsabgeordneten nicht weniger als 20-25 Linksradikale. Wo sind denn die hin? Wo ist ihr sozialistisches Gewissen geblieben? Ihre Treue an die Idee der Demokratie?

Aus den Reihen der linken Sozialdemokraten in Deutschland erhob sich immerhin ein ehrliches sozialistisches Wort des Protestes gegen die chauvinistischen Orgien, deren Wortführer die Südekums, Haases, Kautskys und Konsorten waren. Wir haben Stimmen des Protestes vernommen von Seiten der Arbeiter sowohl in Hamburg, wie in Stuttgart und Berlin. Und die „linken" Deputierten? Sie lassen sich von der „Disziplin" gegenüber den Herren von der Mehrheit leiten, die selbst auf die Beschlüsse der Internationale und diejenigen ihrer eigenen Partei gepfiffen haben? Solche „Disziplin" ist dem Verrat ähnlich wie ein Ei dem andern.

Von den 111 „sozialdemokratischen" Abgeordneten erwies sich nur 1 (ein!) ehrlicher Sozialist – Genosse Karl Liebknecht*, Sohn des großen Revolutionärs und Sozialisten Wilhelm Liebknecht, der sich entschloss, die elementare Pflicht zu erfüllen – gegen die Kriegskredite zu stimmen. 1 : 110, das ist das Verhältnis, in dem sich die Sozialisten in den Reihen der Führer der deutschen Sozialdemokraten gegenüber den Verrätern und Chauvinisten erwiesen. Weiter geht es nicht mehr. Man erzählt, dass der frühere Kanzler Graf Bülow in einem Anfall des Neides gegen das bürgerliche Frankreich einmal ausrief: Ach, wenn wir doch unter den deutschen Sozialdemokraten wenigstens einen Millerand hätten (d. h. wenigstens einen Verräter und Renegaten unter den Sozialisten)! Jetzt können die Herren Bülows zufrieden sein, jetzt braucht das Junkern-Deutschland nun nicht mehr das bürgerliche Frankreich zu beneiden. Wozu braucht es einen Millerand, wenn es 110 Südekums hat? …

Dadurch, dass sie sich der in der deutschen Sozialdemokratie wirtschaftenden chauvinistischen Clique unterordneten, versündigten sich die „linken" Abgeordneten am sozialdemokratischen Banner unverzeihlich. Vor dem Angesicht der ganzen Welt erklärten sie sich solidarisch mit den Verrätern am Sozialismus, sie deckten dieses ganze chauvinistische Gesindel, anstatt es rücksichtslos zu desavouieren.

Anlässlich der Verhaftung von fünf unserer Genossen, Deputierten der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterfraktion, veröffentlichte ein Organ der linken deutschen Sozialdemokratie (die „Bremer Bürgerzeitung") einen glühenden Artikel unter dem Titel: „Helden". Helden werden die Genossen Petrowski, Badajew, Muranow, Schagow, Samojlow für die ehrliche Erfüllung ihrer Pflicht genannt. Wir können – o leider – dasselbe von den linken deutschen Sozialdemokraten nicht sagen, wir können ihnen das schmeichelhafte Wort Helden nicht beilegen. Nein, sie sind – keine Helden!

Wie wenig Heroismus war notwendig, um sich zu entschließen, im Reichstag das Wort: Nein! zu sagen. Aber Euch, Genossen Linke, fehlte es selbst an dieser minimalen Dose Mut …!

Nein, das sind keine Helden. Zur Charakteristik von Personen, die sich so verhalten, gibt es ein ganz anderes Wort.

12. Dezember 1914.

G. Sinowjew.

* Jetzt ist auch die Erklärung Liebknechts veröffentlicht worden. Vorzüglich im ersten Teile, in dem der räuberisch-imperialistische Charakter des Krieges gegeißelt wird, erschöpft sie sich im zweiten Teil in der Proklamierung der Losung: „Frieden". Die Folgerung widerspricht so sehr den Voraussetzungen, dass sie wie eine Disharmonie klingt. Wenn das alles richtig ist, was Gen. Liebknecht über das Wesen und die Ursachen des Krieges gesagt hat (und das ist zweifellos richtig), dann kann die Folgerung für Sozialisten nur eine einzige sein: die Überleitung des imperialistischen in den Bürgerkrieg.

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