G. Sinowjew 19150521 Über die »Amnestie« und ihre Propheten

G. Sinowjew: Über die »Amnestie« und ihre Propheten

[„Sozialdemokrat", Nr. 42. Nach Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, 1921, S. 86-91]

„ … Von verschiedenen Seiten, sogar von einzelnen Parteigenossen wird behauptet, die Sozialdemokratie habe in dem jetzigen Kriege eine schwere Niederlage erlitten." Welche Übertreibung! In der Tat hat ja gar kein Zusammenbruch der II. Internationale stattgefunden. Alles ist aufs beste bestellt. „Es ist in der Tat nicht recht einzusehen, warum unsere Partei einer Neuorientierung bedürfen sollte." So schreibt Karl Kautsky in seiner Broschüre: „Die Internationale und der Krieg", Berlin 1915, S. 6.

Alles ist in bester Ordnung … Freilich, die Sozialdemokratie konnte dem europäischen Krieg nicht vorbeugen. Aber, ist denn das ihre Schuld? Ihre Kraft reichte einfach dazu nicht aus. Vor dem Kriege tat sie alles Mögliche, um dem Krieg vorzubeugen. Dies ist nicht gelungen. Nun – nichts zu machen! Die Internationale ist überhaupt nur ein „Friedensinstrument" (ebenda, S. 38). Ist der Krieg einmal ausgebrochen, so bleibt uns nur das eine übrig: „Kampf für den Frieden, Klassenkampf im Frieden" (S. 40).

In dieser Losung Kautskys ist die ganze Philosophie des Sozialchauvinismus enthalten. Der Klassenkampf ist nur in der Friedenszeit möglich. Im Kriege aber ist der Burgfrieden notwendig, der Bürgerfriede, der Pakt der Arbeiter mit der Bourgeoisie, den Gutsbesitzern und Pfaffen. Ist 1914 einmal der imperialistische Krieg entfacht, so haben die Arbeiter den Klassenkampf aufzugeben und anstatt dessen nach Frieden zu lechzen. Wird 1925 ein neuer imperialistischer Krieg ausbrechen, so werden die Arbeiter wieder nur an Frieden denken. Die Bourgeoisie aller Länder kann vollkommen ruhig sein. Die Arbeiter werden sie niemals hindern, Kriege zu führen. „Wir arbeiten dem Kriege nicht entgegen", nach der Formel der russischen Anhänger Kautskys aus „Nascha Sarja" … Den Klassenkampf wollen „wir" auf „später", auf die Friedenszeit verschieben. „Klassenkampf im Frieden!" …

Es ist kein Wort darüber zu verlieren, dass die Arbeiter, die sich eine solche Theorie aneignen wollten, sich dadurch der Bourgeoisie und der Militärkamarilla auf Gnade und Ungnade ausliefern würden.

Diese Theorie anerkennen, hieße der Bourgeoisie und den Regierungen gewährleisten, dass sie die Arbeiterpartei stets in der Hand hat, dass sie die Arbeiterklasse aus der Rechnung streichen kann, dass die Arbeiterklasse keine selbständige Politik haben darf, dass die Bourgeoisie, sobald sie es will, blutige Kriege vom Zaun brechen kann, ohne Gefahr zu laufen, auf „Komplikationen" bei sich zu Hause zu stoßen. Die Bourgeoisie und die Regierungen haben dann ein sicheres Mittel, um die Aufmerksamkeit der Arbeiter von jeder beliebigen, allzu zugespitzten inneren Krise abzulenken. Die internationalen Provokateure brauchen nur einen Krieg vom Zaun zu brechen, die Hindenburge brauchen nur den ersten Schuss zu tun, und die Arbeiter verwandeln sich in Spielbälle der Imperialisten. Die Arbeiter des einen Landes beginnen ihre Brüder, die Arbeiter des anderen Landes, zu vernichten, der Klassenkampf wird aufgehoben, die Arbeiter aller Länder parieren der rein bürgerlichen Devise: Right or wrong, my country – ob recht oder unrecht, es ist mein Land, und ich stehe jedenfalls dafür.

Vom Standpunkt einer solchen Auffassung von den Aufgaben des Sozialismus ist in der Internationale nichts Besonderes vorgefallen. Von irgendeinem Zusammenbruch der Internationale kann ja nicht die Rede sein. Nichts ist leichter, als die Rückkehr zur jüngsten Vergangenheit, zu der Vorkriegszeit. Wird der Friede kommen, so werden wir uns auf einem Kongress versammeln, die Leidenschaften werden sich legen, jeder von uns wird einsehen, dass „die subjektiven Wünsche" (von denen Kautsky besonders ausführlich redet) der Sozialisten der feindlichen Länder ebenso gut waren wie unsere eigenen, wir werden eine neue Resolution abfassen und – alles wird erledigt sein. Zu einem glücklichen Ausgang bedarf es nur des einen, dass die Sozialisten eines jeden kriegführenden Landes die gleichen „Rechte" auch den andern Sozialisten einräumen. Die deutschen Sozialchauvinisten zetern: Wir haben das Recht, für das Kriegsbudget zu stimmen, denn unser „Vaterland" befindet sich im Verteidigungszustand, wir müssen den englischen Imperialismus zerschmettern; aber die Franzosen haben dieses Recht nicht. Die französischen Sozialchauvinisten zetern: Nein, wir haben das Recht, für das Budget zu stimmen, denn unser „Vaterland" wurde überfallen, und wir müssen dem preußischen Militarismus den Garaus machen. Kautsky lehnt das Kriterium des Angriffs- und des Verteidigungskrieges ab. Aber nur, um den deutschen Chauvinismus mit dem französischen zu versöhnen. Ihr habt alle beide recht, – sagt ihnen Kautsky. Sowohl die einen, wie die andern müssen das „Vaterland" verteidigen; die einen wie die andern haben das Recht, für das Budget zu stimmen, sich mit ihrer Bourgeoisie auszusöhnen und ihre Arbeiter zur Niedermetzelung ihrer Brüder zu schicken. Erkennt dieses Recht einander zu. Ihr habt das Recht, „gute Deutsche" zu sein und sie „gute Franzosen". Und wenn einer ein wenig zu weit geht, es im Patriotismus zu weit treibt, so wollen wir „tolerant" sein (das Lieblingswort Kautskys), wollen niemandem nachtragen, wollen von vornherein einander amnestieren. Ist es denn schlimm, wenn in der Verteidigung einer guten Sache einer ein bisschen zu weit gegangen ist? Man muss nachsichtig sein. Wir wollen uns gegenseitig amnestieren, und somit basta!

Ein anderer Priester der „Amnestie", Viktor Adler, drückt sich noch direkter aus („Wiener Arbeiterzeitung", Nr. 44): „Wenn wir diese Zeit der Ungeheuerlichkeiten überstanden haben werden, wird es erst Pflicht sein, einander nicht beim Wort zu nehmen", d. h. einander die Sünden erlassen, vergessen, dass „wir" Sozialisten im Kriege – nur während der Kriegszeit – zu Nationalisten wurden, dass wir den Imperialisten unseres Landes „ein bisschen" halfen, die Arbeiter des feindlichen Landes abzuschlachten und mit Feuer und Schwert zu vernichten. Offener kann man sich nicht ausdrücken.

Die Amnestie-Theorie hat bei den Sozialchauvinisten aller Länder großen Erfolg. Und je näher das Ende des Krieges heranrücken wird, umso mehr werden sich die Sozialchauvinisten dieser „Theorie" anschließen. Die einflussreichsten unter den früheren Führern der II. Internationale verfechten sie auch jetzt schon aufs eifrigste. Man nehme den Vorsitzenden des Internationalen Sozialistischen Büros und Kaiserlichen Minister Emile Vandervelde. Der Hauptprophet der „Amnestie", Karl Kautsky, nennt in seiner Broschüre seine Stellungnahme „höchst korrekt" und betont, dass seine Verdienste umso größer seien, da Belgien unter der feindlichen Invasion am meisten gelitten habe. Und wirklich, Vandervelde erklärte wiederholt, dass er die deutschen Sozialdemokraten „verstehe", dass ihre Situation sehr schwierig gewesen sei, dass er niemanden verdamme, kurz und gut, dass er ebenfalls auf dem Boden der „Amnestie" stehe.

Das Hauptargument aller deutschen Sozialchauvinisten läuft immer auf das Folgende hinaus: man wirft uns Verrat am Sozialismus vor – aber haben die Franzosen nicht ebenso gehandelt? Und die Engländer mit Hyndman an der Spitze? Und bei den Russen – Plechanow? (Der letztere wird nicht nur von Bernstein, Legien und Südekum, sondern auch von „Nowoje Wremja" usw.. gehätschelt.) Warum sollen wir denn schlimmer dran sein, als die anderen?

Die Haltung der Deutschen und selbstverständlich auch der österreichischen Sozialdemokratie ist von den französischen Sozialisten als Verrat an der Internationale erklärt worden. Die Franzosen haben kein Verständnis dafür, dass wir genau dasselbe getan haben, was auch sie tun mussten!" So schreibt der gescheiteste unter den Opportunisten und heutigen Sozialchauvinisten, Viktor-Adler. Die Linie der Verteidigung ist vorgezeichnet. Sowohl wir wie sie mussten dasselbe tun, d. h. zu Dienern der Bourgeoisie werden. Was hat es denn für einen Sinn, einander zu beschuldigen? Und wenn wir so tun wollen, als würden wir die Internationale wiederherstellen, kann uns denn eine andere Plattform vereinigen, als die Plattform der gegenseitigen „Amnestie"?

Man nehme einen x-beliebigen Durchschnittsrenegaten unter den Deutschen. Man betrachte sich das Geschreibsel irgendeines Lensch, Haenisch, Scheidemann oder Pernerstorfer. Vor allem werden Sie von ihnen hören: Schön, wir sind Verräter, – aber sind die Franzosen besser? Wir sagen ja nicht, dass wir ohne Sünde seien. Aber die Engländer und Franzosen sind ebenfalls keine Heiligen. Hunde sind wir ja alle – das ist die Psychologie dieser Leute.

Der eine von ihnen, Herr Heilmann, Redakteur der „Chemnitzer Volkszeitung", schrieb neulich (in der Nummer vom 27. März) direkt, wir wären Dummköpfe in der Internationale, wenn wir vor der Tür um Verzeihung flehen wollten! Die französischen Sozialisten sind ja nicht um ein Haar besser als wir. Internationaler Sozialist sein, heißt Deutscher sein, denn die Franzosen meinen, ja auch, dass internationaler Sozialist Franzose sein heiße.

Ihr Herz gehört Frankreich … ich respektiere Ihr Gefühl", schrieb neulich im „März" der Führer der österreichischen Sozialchauvinisten Pernerstorfer in Beantwortung des offenen Schreibens einer Französin aus der französischen Schweiz, die ihm Chauvinismus vorwarf. „Ich würde einen Franzosen nicht verstehen können, der in diesen Tagen der nationalen Krise nicht auf Seiten seiner Nation stünde. Aber ebenso wie Sie eine gute Französin sind, halte ich mich für einen guten Deutschen, und daher …" usw..

Die typische Betrachtung eines guten, wohlerzogenen Bourgeois! Aber was hat das mit Sozialismus und Internationalismus zu tun?

Der Revisionist und Monarchist Heine argumentiert ebenfalls ganz nach Kautsky. „Es ist überhaupt ganz gleich, aus welchen Tendenzen dieser Krieg entstanden ist," schreibt dieser Herr (in seiner Broschüre „Gegen die Quertreiber", S. 20). „Weder wir Deutsche noch die Genossen der anderen Länder haben durch die Unterstützung der Landesverteidigung … eine Pflicht der internationalen Sozialdemokratie verletzt … Weshalb aber will man uns Deutschen nicht dasselbe Recht in unserem Vaterlande einräumen?" (Ebenda, S. 14.)

Allen diesen Leuten kommt es auch nicht in den Sinn, dass man mit dieser Logik das „Recht" auf Streikbrecherei begründen kann, sobald die andern zu Streikbrechern werden … Ich werde doch kein Gelber werden, auch wenn meine Genossen zu den Gelben gegangen sind …

Natürlicherweise muss bei solchen Personen die Theorie der Amnestierung einen Erfolg haben, und nur auf Grund der Amnestierung denken sie sich die Wiederherstellung der Internationale. Kautskys „Theorie" ist geradezu eine Fundgrube für diese Individuen. Kautsky ist geradezu ihr Mann.

Faktisch haben sich die deutschen Sozialdemokraten auf den Boden des reinsten Monarchismus gestellt. Der Abgeordnete Heine predigt unter Applaus der offiziellen deutschen Sozialdemokratie den Arbeitern das Vertrauen zum Kaiser. Derselbe Heine erklärt in den „Sozialistischen Monatsheften": „Ich sage es offen, wenn die Deutsche Regierung in der Tat an allem Schuld hätte, wenn es in Wirklichkeit wahr wäre, dass sie den Krieg angefangen hat, um sich Europa zu unterwerfen, auch dann hätten wir nicht anders handeln können, wie wir gehandelt haben. Denn, steht einmal das Haus in Flammen, so muss man es retten, unabhängig davon, von wem es in Brand gesteckt wurde".

Die französischen Sozialisten haben faktisch den Standpunkt der französischen Bourgeoisie angenommen. Sogar Guesde wiederholt die Worte vom brennenden Hause und gebärdet sich ganz im Geiste Heines.

Und da eilt Kautsky herbei und erklärt „tolerant": „Bis jetzt wurden von keiner Seite Stimmen ernsthafter Sozialisten laut, die das Schicksal der Internationale usw. gefährden würden." (Broschüre, S. 36.)

Gewiss, diese verlogenen „beschwichtigenden" Erklärungen Kautskys sind sowohl für die französischen, wie auch für die deutschen Sozialchauvinisten vorteilhaft. Die Amnestierung wird ja unbedingt gegenseitig sein. Aber was hat das mit Sozialismus und den Arbeiterinteressen zu tun, wo bleibt hier die einfache politische Ehrlichkeit? Die Chauvinisten fühlen sich durch das Benehmen der russischen und serbischen Sozialisten einigermaßen irritiert, die gegen die Kredite stimmten. Auch da eilt Kautsky zur Hilfe herbei mit seinem unversiegbaren Vorrat an „Beschwichtigungsphrasen". Er hat immer die nötige „Theorie" parat. Gewiss, das Verhalten der russischen und serbischen Genossen verdient „allgemeine Anerkennung". Es war ein Akt der Tapferkeit. Aber … aber die Sache lässt sich einfach durch die Jugend, durch die Schwäche dieser Partei erklären. „Je stärker eine Partei wird, desto mehr mischen sich in den Begründungen ihrer Beschlüsse die propagandistischen Rücksichten mit Erwägungen der praktischen Folgen, desto schwieriger wird es, den Motiven beider Art in gleichem Maße gerecht zu werden." (S. 30.)

Die jungen sozialistischen Parteien, die ihre Pflicht tun, sind für „uns" nicht maßgebend. Ganz anders die Parteien, die altersschwach sind! Ihr Benehmen ist mustergültig …

(Die Gerechtigkeit erfordert hinzuzufügen, dass diese Theorie, wonach die sozialistische Prinzipientreue bloß eine Jugendsünde ist, nicht von Kautsky allein erfunden wurde. Sie wird ebenso wie die Wissenschaft von der „Amnestie" auch eifrig von Bernstein bearbeitet.)

Die bisherigen schwachen Versuche zur Wiederherstellung der internationalen Verbindungen bewegten sich gerade auf diesem gefährlichen Wege der „Amnestierung". Gleich die erste Konferenz in Lugano stellte sich auf den Boden, dass niemand zu „verdammen" sei. Als ob man gegen den unerhörten, ungeheuerlichen Verrat kämpfen könnte, ohne ihn zu verdammen, ohne den Verrat als Verrat zu brandmarken. Die Kopenhagener Konferenz verwandelte sich schon direkt in eine Komödie, weil sie sich fürchtete, irgendein bestimmtes Wort auszusprechen. Die Londoner Konferenz hat das getan, was die englische und französische Bourgeoisie brauchte, aber ließ sich den Weg zur gegenseitigen Amnestierung offen. Die internationale Frauenkonferenz in Bern vertrat denselben philisterhaften Standpunkt, dass man vor allem niemanden „verdammen" dürfe. Ihre Resolutionen sind ganz im Geiste der Amnestie abgefasst.

Dabei kann es nichts Verderblicheres für den internationalen Sozialismus geben, als die „Lösung" der jetzigen Krise durch gegenseitige Amnestierung.

Was heißt: die Amnestie anerkennen? Das heißt: das, was geschehen ist, als mehr oder minder gesetzmäßige und übliche Erscheinung anerkennen. Das heißt, anerkennen, dass man für Kriegskredite stimmen kann, dass man die Arbeiter des einen Landes auf die Arbeiter eines andern Landes hetzen darf, dass Sozialisten zu Dienern der Imperialisten werden, in Ministerien eintreten und Soldaten für die Königliche Armee anwerben dürfen. Das heißt, die Internationale zu einer Organisation degradieren, über die sich die Bourgeoisie aller Länder mit Recht lustig machen könnte; das heißt wortlos die Pille der Südekumerei schlucken; das heißt den Sozialismus zum Niveau einer bürgerlichen Richtung herabwürdigen, die sich nur mit sozialistischen Paradephrasen bemäntelt; das heißt den bürgerlichen Richtungen selbst in den nationalen sozialistischen Parteien Hilfe leisten, das heißt den Sozialismus um einen ganzen Kopf verkleinern.

Wenn das eintreten wird, wenn es zu einer gegenseitigen Amnestie kommen wird, so wird die Verwesung der Internationale unvermeidlich beginnen, und sie wird immer mehr zur Internationale der beschränkten Trade-Unionisten und der bürgerlichen Sozialreformisten werden. Alles, was in der Arbeiterbewegung lebendig ist, wird sich von ihr abwenden. Die Arbeiter werden gezwungen sein, diese, mit Verlaub zu sagen, Internationale zu spalten und eine echte ehrliche internationale Arbeiterassoziation zu schaffen.

Die ausgebrochene Krise kann auch ihre gute Seite haben: sie kann zum Ausgangspunkt der Erneuerung werden, – wenn wir die uns von den Lakaien des Chauvinismus zugeflüsterte Theorie der Amnestie von uns weisen werden. Die Fragen stehen hart und unerbittlich da. Die Arbeiter aller Länder haben eine Lektion in gewaltigen, im Weltmaßstab erhalten. Unerbittlicher Kampf gegen die „Amnestie", organisatorischer Bruch mit den Opportunisten und Sozialchauvinisten – das ist das einzige, was die Internationale retten kann.

Wenn Ihr als Antwort auf den Vorschlag, den Opportunisten einen entscheidenden Kampf anzusagen und sich von den Sozialchauvinisten organisatorisch zu trennen, rufen hört: „Hilfe, Hilfe, Skandal! Spaltung!" – so wisset: Ihr habt es mit Leuten zu tun, die sich selbst nicht als Sozialchauvinisten fühlen und die Schlussrechnung nicht gezogen haben. Ihr werdet eine ganze Reihe wohlklingender Argumente vernehmen. Man wird Euch mit Binsenwahrheiten vom Schaden der Sektiererei traktieren. Man wird Euch beweisen, dass es besser sei, zehn Millionen organisierte Arbeiter zu haben, als bloß zehntausend. (Man vergisst dabei, dass zehntausend Sozialisten besser sind, als eine Million Sozialchauvinisten.) Aber Genosse Leser, fordern Sie dennoch eine direkte Antwort auf die Frage der „Amnestie" …

Wir sind jetzt wenige. Doch der Krieg 1914/15 belehrt die Arbeiter und belehrt die Soldaten. In den rückständigsten Schichten des Proletariats wird der Gedanke aufdämmern, dass die imperialistischen Kriege nicht unsere Kriege sind, sondern Kriege, die auf unsere Unterdrückung gerichtet sind.

In einem französischen sozialistischen Soldatenliedchen heißt es schon längst:

Une guerre plus légitime

C'est la guerre à qui nous opprime –

Le seule que nous ne faisons pas.

(Ein berechtigter Krieg ist der Krieg gegen unsere Unterdrücker – der einzige Krieg, den wir nicht führen.)

Die Ungeheuerlichkeit der jetzigen Lage, wo wir zu Gunsten unserer Unterdrücker Krieg führen, aber den einzig berechtigten Krieg gegen unsere Feinde, gegen die Kapitalisten und Regierungen, nicht führen, springt jedem einigermaßen bewussten Arbeiter ins Auge. Aus dem Kriege werden die Arbeiter lernen, diesen einzig berechtigten Krieg vorzubereiten und zu verwirklichen, d. h. den Bürgerkrieg.

21. Mai 1905.

G. Sinowjew.

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