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Politische Briefe Nr. 13 19160127

NR. 13 VOM 27. JANUAR 1916

[nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 99-109]

POLITISCHE BRIEFE


W. G.!

Wir bitten Sie, zu Ihrer persönlichen Information von folgenden Mitteilungen Kenntnis zu nehmen.

Mit Parteigruß

Spartacus

FORTSETZUNG!

SITZUNG DER SOZIALDEMOKRATISCHEN REICHSTAGSFRAKTION VOM 12. JANUAR 1916

Scheidemann berichtet über die Sitzungen des Seniorenkonvents1 vom 11. und 12. Januar, in denen die Behandlung der Liebknechtschen Anfragen erörtert wurde, etwa wie folgt:

Der Präsident wollte die Anfrage über die Chemnitzer Nahrungsmittelkrawalle2 wegen Gefährdung des Reiches nicht zulassen. Die auf die Schweizer Friedensinterpellation3 bezügliche Frage liege auf der Grenze. Scheidemann und Geyer betonten, es sei besser, die Anfragen würden ordnungsmäßig erledigt, als wenn sie nach ihrer Zurückweisung ins Ausland getragen würden, was doch zu gewärtigen sei. Haußmann führte aus, Liebknecht erstrebe offenbar für die in den Anfragen aufgestellten Behauptungen Publizität; die Anfragen dürften nicht zugelassen werden, sonst käme Liebknecht jeden Tag mit neuen Anfragen, die das Reich schädigten; es müsse sofort Schluss gemacht werden. Dem stimmte Westarp mit dem Bemerken zu, Liebknecht suche das Land mit einem Trommelfeuer von Anfragen zu strafen. Während Paasche es bedenklich fand, wegen Gefährdung der Reichsinteressen Anfragen zurückzuweisen, und meinte, es solle rein geschäftsordnungsmäßig verfahren werden, erklärte Payer, der Schade sei groß, gleichviel wie man die Sache erledige; keinesfalls aber dürfe man den Reichsapparat zu einem solchen schädlichen Zwecke benutzen lassen. Gröber erachtete den § 13 der Geschäftsordnung, der die Aufrechterhaltung der Ordnung des Hauses in die Hände des Präsidenten legt, für ausreichend. Am Schluss der Sitzung vom 11. stellte der Präsident fest, dass die große Mehrheit des Seniorenkonvents der Auffassung sei, die Anfragen seien nicht zuzulassen.

In der Sitzung des Seniorenkonvents vom 12. Januar, in der über die abgeänderte Fassung der Anfragen verhandelt wurde, forderte Fehrenbach für den Präsidenten das Recht, schlankweg alle Anfragen abzulehnen. Müller-Meiningen begehrte Änderung der Geschäftsordnung; mindestens müsse dem Präsidenten während der Kriegszeit das Recht gegeben werden, Anfragen, die das Interesse des Reiches gefährden, zurückzuweisen. Geyer warnte vor einer Geschäftsordnungsabänderung ab irato4.

Bassermann wies darauf hin, dass eine Änderung der Geschäftsordnung zunächst das Plenum beschäftigen müsse und damit die Gelegenheit zu bedenklichen öffentlichen Debatten gebe. Gröber erinnert daran, dass eine solche Änderung umfassend seit längerer Zeit vorbereitet werde; bis dahin solle nichts unternommen werden; § 13 der Geschäftsordnung reiche völlig aus; wenn der Präsident das Recht habe, einzelne Personen zu schützen, so dürfe er auch das Deutsche Reich schützen.

Es wurde weiter für den Präsidenten die Vollmacht verlangt, nach eigenem Ermessen über die Zulassung von Anfragen zu entscheiden, und gefordert, dass der Präsident auch keine Geschäftsordnungsdebatte zulassen solle, durch die der mit der Verhinderung der Anfragen verfolgte Zweck illusorisch gemacht werden könne. Haußmann verwies auf den bereits am 30. November vom Seniorenkonvent gefassten Beschluss, der den Präsidenten ermächtigte, wegen Gefährdung des Reiches Anfragen zurückzuweisen. Fehrenbach und Dove legten sich gleichfalls für diskretionäre Macht des Präsidenten ins Zeug. Dove forderte eine Bestimmung in die Geschäftsordnung, wonach Anfragen nicht mehr von einem einzelnen, sondern von 15 Personen gestellt werden müssten. Oertel warf die Frage auf, ob es sich der Reichstag gefallen lassen müsse, dass mit ihm Schindluder gespielt wird. Ledebour erklärte es für ausgeschlossen, dass sich für einen Antrag ans Plenum, wie ihn Liebknecht beabsichtigt habe, 15 Unterschriften finden würden.

Geyer ergänzte den Bericht Scheidemanns, indem er sich in heftiger Weise gegen die Gefährdung eines Parlamentsrechts aussprach, wie sie durch Liebknechts Vorgehen herbeigeführt werde. Die Vertreter aller Parteien seien über das Vorgehen Liebknechts ungehalten gewesen. In der Tat sei es unerklärlich, dass ein Mitglied des Hauses auf ein Parlamentsrecht losstürme, um es zu vernichten. Es sei nicht angebracht, die bürgerlichen Parteien so zu provozieren. Die Fortschrittler hätten in dem Seniorenkonvent sich reaktionärer gezeigt als alle bürgerlichen Parteien. Wegen der Geschäftsordnungsänderung solle man aber nicht allzu ängstlich sein, das habe gute Wege. Natürlich müsse gegen jeden solchen Versuch Opposition gemacht werden.

Buch stellte die Frage, ob die Fraktion mit sich Schindluder spielen lassen solle, das Maß der Geduld müsse zum Überlaufen kommen. Die Fraktion mache sich im Lande lächerlich, wenn sie nicht endlich scharf gegen Liebknecht einschreite, dessen Vorgehen den Eindruck erwecke, als ob er der einzige sei, der die Interessen des Volkes vertrete. Bück stellte den bekannten, zum Beschluss erhobenen Antrag, nach dem Liebknecht die Rechte, die aus der Fraktionszugehörigkeit hervorgehen, verwirkt habe. Die Fraktion habe ihr Verhalten so einzurichten, dass Liebknecht für sie nicht mehr existiere. Es habe den Anschein, als ob Liebknecht der einzige Hüter der Volksinteressen sei. Der Parteitag werde ja noch zu sprechen haben. Jedenfalls müsse sich die Fraktion von einem Ballast befreien.

Noske: Die Fraktion habe keinen Anlass, sich mit den Liebknechtschen Anfragen zu beschäftigen, sich mit dem Zeug zu befassen, das da zu Papier gebracht sei. Liebknecht habe in sträflicher Weise ein Recht verungeniert. Natürlich wird es sich kein Parlament der Welt gefallen lassen, von Querulanten und Herostraten in der Arbeit gehindert zu werden. Weder der Präsident noch der Seniorenkonvent werden sich gefallen lassen, dass ihnen die Zeit direkt gestohlen wird mit Anfragen, von deren Schädlichkeit auch er – Noske – und wohl alle anderen überzeugt seien. Es sei von Liebknecht die Erklärung zu verlangen, dass er sich der Fraktionsdisziplin unterwerfe und ihre Gesetze respektiere. Er habe auf die Fraktion gepfiffen. Heine ruft dazwischen: „Und uns noch im Plenum dazu beschimpft."

Die Redezeit wird nach Noskes Rede auf 10 Minuten verkürzt. Ein Antrag Ledebour, Liebknecht sofort das Wort zu erteilen, war bereits vorher mit dem Bemerken abgelehnt worden, Liebknecht brauche keine Extrawurst.

Bender beantragt, den Fraktionsmitgliedern das gesamte Material zum Fall Liebknecht zu unterbreiten.

Bauer bezeichnet Liebknechts Verfahren als groben Unfug, als Versündigung am Parlament; er fordert, die sozialdemokratische Fraktion solle selbst eine Abänderung der Geschäftsordnung vorschlagen, und zwar dahin, dass Anfragen nur durch die Fraktionsvorstände eingereicht werden dürfen. Damit wäre dem Liebknechtschen Treiben ein Riegel vorgeschoben.

Ledebour meint, Liebknechts Taktik sei verfehlt und widerspreche der Auffassung, die die Parteien bei Einführung der Anfragen geäußert hatten. Freilich stehe in der Geschäftsordnung nichts davon. Man müsse auch einen Missbrauch in Kauf nehmen.

Keil behauptet, die Chemnitzer Verurteilten seien zum Teil die Opfer der Liebknechtschen Politik. Die Nachsicht gegen Liebknecht sei von der Fraktion bis zur Selbstverleugnung und Selbstentehrung gegangen. Die Frage des formellen Rechts könne nicht mehr aufgeworfen werden. Man könne zweifeln, ob man es bei ihm noch mit einem normal denkenden Menschen zu tun habe. Jedenfalls sei sein Treiben für die Fraktion verhängnisvoll. Die Fraktion müsse ihn von sich abweisen. Am besten wäre ein Beschluss, ihn aus der Fraktion auszuschließen, aber der Antrag Bück besage ja mit andern Worten auch nichts anderes und genüge.

Liebknecht5 schob die persönlichen Angriffe beiseite und bemerkte: Mein Kampf gilt nicht mehr der Kreditbewilligung allein, sondern Ihrer Gesamtpolitik, die in der Kreditbewilligung gipfelt, Ihrer Politik der Regierungsunterstützung und Klassenharmonie, des parlamentarischen und außerparlamentarischen Burgfriedens. Nicht nur die Bewilligung der Kriegskredite bedeutet eine schroffe Verleugnung der Parteigrundsätze, sondern die Gesamtpolitik, die Sie seit ein und einem halben Jahre6 auf Schritt und Tritt verfolgen. Ist es Pflicht, der Fraktion im Punkt der Kreditbewilligung mit aller Schroffheit und öffentlich entgegenzutreten, so ist es nicht minder Pflicht, ihre Gesamtpolitik ohne Rücksicht und öffentlich zu durchkreuzen. Die Disziplinbruch-Taktik der 20 vom 21. Dezember 1915 ist Nichtigkeit, wenn sie nicht auf der ganzen Linie gegen die Politik des 4. August durchgeführt wird.

Der parlamentarische Burgfrieden ist, wo immer sich Gelegenheit bietet, zu entlarven und zu zerstören. Dem dienen auch die Anfragen. Jeder Versuch, die Genehmigung der Fraktionsmehrheit zu diesem Kampfe zu erlangen, wäre töricht. Es gehört zu seinem Wesen, dass er gegen den Willen der Fraktionsmehrheit, unter unausgesetztem Bruch der parteiwidrigen Fraktionsdisziplin geführt wird. Hier gibt es nur ein Entweder – Oder.

Ob die Anfragen das idealste Mittel für diesen Zweck sind, spielt keine Rolle, da einem einzelnen jedenfalls kein besseres Mittel zur Verfügung steht und es ein Verbrechen wäre, heute irgendein vorhandenes Mittel ungenutzt zu lassen. Die Anfragen sind genau das, was man daraus macht, und können dem, der will, eine mächtige Waffe sein. Weshalb dieses Wutgeheul? Eben weil sie sich als mächtige Waffe der Opposition erproben. Der Grad der Empörung gegen sie bildet nur den Maßstab ihres Wertes in meinem Sinn!

Das Beispiel des englischen, französischen, italienischen Parlaments, wo die „unbequemen", die „lästigen Fragen" als selbstverständliche Methode hingenommen werden, sollte belehren.

Man bleibe [mir] mit dem Gezeter über „Missbrauch" vom Leibe! Die skandalösesten Missbräuche der Geschäftsordnung sind an der Tagesordnung; der ganze Reichstag wird als gefälliges Werkzeug der Regierung missbraucht; keine Hand regt sich dagegen! Und die der Kriegshetze dienenden Anfragen der Bassermann und Konsorten fanden noch gestern begeisterte Aufnahme. Nicht aus Abneigung gegen einen „Missbrauch", der gar nicht vorliegt, sondern um ihres politischen Inhalts und Zwecks willen wütet man gegen die Anfragen. Und ebenso wird man wüten gegen jede andere noch so geschäftsordnungsmäßige Methode der Opposition; man wird sie niederzutrampeln versuchen, wo immer sie angewandt wird. Einst wussten auch Sie das Geschrei über den Missbrauch politischer Rechte zu würdigen. Haben Sie die Zolltarifkämpfe vergessen? Damals, 1902, war es einem Eugen Richter7 vorbehalten, die Sozialdemokratie der Geschäftsordnungsverwüstung zu bezichtigen, weil sie ihre Schuldigkeit ohne Scheu getan hatte. Im preußischen Abgeordnetenhaus suchte man unser kleines Häuflein durch die Lex Kröcher8 niederzuzwingen. Hätten wir uns ins Bockshorn jagen lassen sollen? Haben wir nicht auch das Koalitionsrecht dauernd „missbraucht"? Und das Reichstagswahlrecht? Erhoben sich nicht stets, wenn das Proletariat von irgendeinem Rechte rücksichtslosen Gebrauch machte, die reaktionären Gewalten, um ihm dieses Recht wegen „Missbrauchs" zu rauben? Welche Antwort fand die Partei früher auf solche Attentatsgelüste und Drohungen? Sich dadurch vor der Ausnutzung eines Rechts abschrecken zu lassen, heißt: dieses Recht aus Furcht, dass es künftig gewaltsam entrissen werde, schon für die Gegenwart freiwillig preisgeben. Aber freilich, die Fraktionsmehrheit hat das Kämpfen, den Kampf ums Recht mit dem Klassenkampf verlernt. Noch mehr: sie hat ihm abgeschworen, sie will ihn nicht mehr.

Klassenkampf gegen den Krieg, gegen die Regierung und die bestehende Gesellschaftsordnung wäre Pflicht der Partei, der Fraktion gewesen. Die wildesten Verfolgungen und alle Staatsstreiche einer imperialistischen Vabanquepolitik hätte sie unbekümmert dabei in Kauf nehmen müssen. Und nun sollte die Gefahr einer Geschäftsordnungsänderung den einzelnen hindern, wenigstens an seinem Teil diejenige Politik zu verfolgen, die das höchste Lebensinteresse des internationalen Proletariats befiehlt? Im Zeitalter des Belagerungszustandes, der Aufhebung der Verfassung, der Knebelung aller Freiheiten, wo von der Militärdiktatur nur solche „Rechte" geduldet werden, die als Theaterkulissen für die Heuchelkomödie des Burgfriedens dienen, sollten ernsthafte Politiker vor einer Gefährdung der Reichstagsgeschäftsordnung erzittern? Das „bisschen" Krieg, das „bisschen" Internationale und das „bisschen" Sozialismus soll nicht das Risiko einiger Paragraphen rechtfertigen? Wenn das Recht der Anfragen nur wie ein rohes Ei behütet in die Friedenszeit hinübergerettet werden kann, so mag es auch heute zerschlagen werden – und Sie tragen die Verantwortung! Heute, für die Konflikte dieser Zeit, hat sich alles zu bewähren, oder es breche zusammen. Das Morsche mag sinken. Illusionen über Macht, die wir nicht besaßen, über Recht, das nur Scheinrecht war, über Grundsätze von Papier und nicht Leben liegen im Haufen zerfetzt am Wege der Politik des 4. August. Sie haben den jämmerlichen Zusammenbruch der Internationale und vor allem der deutschen Partei mit verschuldet. Keine Illusionen mehr! Nackte erbarmungslose Wahrheit allein kann der Zukunft des Sozialismus frommen.

Ist aber das Recht der Anfragen, dieses hochheilige Recht, um das die Fraktion heute in atemloser Begeisterung gegen mich kämpft, nicht bereits seit dem 30. November 1915 entwurzelt, seitdem der Präsident die politische Zensurgewalt über die Anfragen erhielt? Hätte er diese Gewalt erhalten gegen Ihren entschlossenen Widerstand? Haben Sie etwas Ernsthaftes gegen diesen schnöden Rechtsraub unternommen? Indem Sie das unterließen und obendrein – auch Genossen der Minderheit! – in dieser Situation mit den bürgerlichen Parteien in das „Missbrauch"-Gezeter einstimmten, haben Sie den bereits vor anderthalb Monat unternommenen Raub trotz Ihres formellen Protestes politisch erst ermöglicht und dann gedeckt. Und die heutige Diskussion, in der Sie nach einem Ausnahmegesetz gegen mich schreien! Und der Antrag Bauer! Sie wagen mich der Gefährdung eines Parlamentsrechts anzuklagen? Ihr Zorn richtet sich gegen meine gesamte Politik, und die Methode der Anfragen hat sich um so mehr in meinem Sinne bewährt, je mehr sich Ihre Empörung und die Empörung der bürgerlichen Parteien dagegen aufbäumt9. Die Antwort ist kurz: eine Fraktionspolitik und Fraktionsbeschlüsse, die den wichtigsten Parteigrundsätzen zuwiderlaufen, werde ich auch in Zukunft nicht befolgen, sondern mit allen Mitteln bekämpfen.

Nunmehr wird ein Schlussantrag, gegen den sich Stadthagen und für den sich Frohme ausspricht, mit großer Mehrheit angenommen.

Zur Geschäftsordnung beantragt Herzfeld, die Abstimmung über den Antrag Buck zu verschieben. Das wird abgelehnt.

Oskar Cohns Antrag auf namentliche Abstimmung über die Anträge Buck und Bauer wird mit 37 gegen 32 Stimmen angenommen. Danach erfolgt die Annahme des Antrages Buck mit 60 gegen 25 Stimmen bei einer Enthaltung (Liebknecht) und des Antrages Bender mit 59 gegen 9 Stimmen. Über den Antrag Bauer (auf Herbeiführung einer Geschäftsordnungsänderung durch Verleihung des Anfragemonopols an die Fraktionsvorstände) findet keine Abstimmung statt, da Bauer keinen förmlichen Antrag gestellt haben will.

DIE PRESSZENSUR GEGEN DIE ANFRAGEN

Gegen die am 31. Juli 1915 gestellte Anfrage über die Bereitschaft zu einem Frieden ohne Annexionen erging alsbald ein Zensurverbot; freilich ein wenig als „Senf nach dem Essen": Die Anfrage war von der Presse bereits publiziert, und nur ihre weitere Erörterung konnte verhindert werden. Am 12. und 13. November liefen im Reichstagsbüro die am 14. Dezember 1915 verhandelten fünf Anfragen (über die Bereitschaft zu einem Frieden ohne Annexionen; über die Vorlegung des Materials zur Entstehung des Krieges und die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission; über die Demokratisierung der auswärtigen Politik; über die wirtschaftliche Kriegsnot; über die Neuorientierung der inneren Politik) sowie eine sechste, vom Präsidenten nicht zugelassene, ein. Diese Anfragen wurden erst am 30. November „in Geschäftsgang genommen". Dennoch müssen sie bereits spätestens am 14. November der Zensurbehörde bekannt geworden sein. An diesem Tage erging an die gesamte deutsche Presse das Verbot, über künftige Liebknechtsche Anfragen außer bei ihrer Verhandlung im Reichstag zu berichten. An diesen Tatsachen messe man den triumphierenden Hohn gewisser Zeitungen über die Nichtbeachtung dieser „unbequemen Anfragen" in der Presse.

PARLAMENTSZENSUR GEGEN DIE ANFRAGEN

Die am 14. Dezember 1915 verhandelten fünf Anfragen und weiter die folgenden:

1. Ist der Regierung bekannt, dass die Masse des deutschen Volkes in- und außerhalb der Armee – ähnlich der Bevölkerung der übrigen kriegführenden Länder – dringend fordert: dass ihr die Schrecknisse eines neuen Winterfeldzuges erspart werden und dass gegenüber diesem Ziel alle Eroberungspläne und alle kapitalistischen Rücksichten schlechthin zurückzutreten haben?

2. Was hat die Regierung bisher zur Erfüllung dieser Forderung getan?

3. Ist die Regierung bereit, dieser Forderung wenigstens noch in letzter Stunde zu genügen?

waren dem Reichstagsbüro spätestens am 13. November zugegangen. Die erste Reichstagssitzung vom 30. November fiel auf einen Dienstag, d. h. einen Anfragetag. Unter allerhand Geschäftsordnungsvorwänden verweigerten das Büro und der Präsident, sie auf die Tagesordnung dieser Sitzung zu stellen. An den darauffolgenden Anfragetagen, dem 3., 7. und 10. Dezember, vermied man Plenarsitzungen, so dass die Verhandlung um volle 14 Tage hinausgezögert wurde, und die erst Ende November eingebrachte Interpellation der sozialdemokratischen Fraktion vorher (am 9. Dezember) in der bekannten Weise erledigt werden konnte.

Die gegen den Winterfeldzug gerichtete Anfrage lehnte der Präsident unter dem 30. November ab, dem Reichstag zu unterbreiten: „weil ihre Wirkung eine schwere Schädigung der Interessen des Deutschen Reichs herbeizuführen geeignet ist." Diese Entscheidung des Präsidenten erging im Einverständnis mit der Mehrheit des Seniorenkonvents, in dem sich auch der sozialdemokratische Abgeordnete Fischer im Sinne dieser Präsidialdiktatur aussprach. Obwohl die Geschäftsordnung eine derartige politische Zensur der Anfragen ausschließt, blieben alle Remonstrationen ergebnislos. Am 18. Dezember wurden außer den drei am 11. Januar verhandelten Anfragen (über die Armeniergräuel, über den Belagerungszustand usw., über die Lage der Bevölkerung in den von Deutschland okkupierten Gebieten) die folgende eingereicht:

Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass die Masse des deutschen Volkes in und außerhalb der Armee, ähnlich der Bevölkerung der übrigen kriegführenden Länder, dringend fordert, dass den Schrecken des jetzigen neuen Winterfeldzuges unter Beiseiteschiebung aller Eroberungspläne ohne Verzug ein Ende gesetzt werde?

Weiß der Herr Reichskanzler, dass durch die Proklamation der Eroberungspolitik, die am 9. ds. Mts. in seiner Rede und der Erklärung der bürgerlichen Parteien erfolgt ist, im Gegensatz zu dieser Forderung der Massen die Entschlossenheit zur Fortführung des Krieges in den feindlichen Ländern gestärkt und die Aussicht auf baldigen Frieden verringert worden ist?

Auch diese Anfrage lehnte der Präsident ab, und zwar einmal aus dem gegen die früher zurückgewiesene Anfrage angeführten Grunde und sodann, weil der zweite Absatz ein Urteil enthalte.

Unter dem 7. Januar folgten zwei Anfragen: eine über die Nahrungsmittelkrawalle in Deutschland, insbesondere in Chemnitz, über die aus diesen Anlässen erfolgten zahlreichen und schweren Verurteilungen und das Verbot der Zensurbehörde, über diese Krawalle und Prozesse irgend etwas zu veröffentlichen; und ferner die andere:

Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass am 22. v. Mts. (Dezember 1915) im Schweizer Nationalrat der Bundesrat Hoffmann im Namen der Schweizer Regierung auf sozialdemokratische Anfrage erklärt hat, dass die Schweizer Regierung grundsätzlich gewillt ist, als Friedensvermittlerin aufzutreten, dass sie dazu jedoch bisher nicht habe schreiten können, weil beiden Kriegführenden das erforderliche Friedensbedürfnis noch fehle? Ist dem Herrn Reichskanzler weiter bekannt, dass die Schweizer Regierung Friedensverhandlungen auf Grundlage des Verzichts auf Annexionen aller Art bei entsprechender Bereitschaft der deutschen Regierung schon jetzt für möglich und aussichtsreich erachtet?

Ist die deutsche Regierung bereit, der Schweizer Regierung von dem Friedensbedürfnis des deutschen Volkes Kenntnis zu geben und sich nunmehr zu Friedensverhandlungen auf Grundlage des Verzichts auf Annexionen aller Art bereit zu erklären?

Diese Anfragen wies der Präsident zurück, weil sich die erste nicht auf die Bezeichnung der Tatsachen, über welche Auskunft erwünscht wird, beschränke und die zweite im Absatz 2 ein Urteil enthalte.

Zur Beseitigung dieser an den Haaren herbeigezogenen Geschäftsordnungsbedenken wurden beide Anfragen in veränderter Fassung wiederholt eingereicht. Sie wurden jedoch auch in dieser Form unter Berufung auf eine angebliche Gefährdung der Interessen des Deutschen Reiches zurückgewiesen. Damit waren jene formalen Geschäftsordnungsbedenken als nackte Vorwände enthüllt.

Alle diese Entscheidungen des Präsidenten ergingen im Einverständnis mit der Mehrheit des Seniorenkonvents, in dem auch die sozialdemokratischen Vertreter aus ihrer Unzufriedenheit mit der von Liebknecht angewandten Anfragentaktik keinen Hehl machten.

Am 15. Januar wurde folgende Anfrage übergeben:

Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass das amtliche Wolffsche Depeschenbüro das auf dem jüngsten Nationalkongress der französischen Sozialdemokratie (Dezember 1915) beschlossene Manifest, insbesondere den darin enthaltenen Abschnitt über den deutschen Militarismus, in Wortlaut und Sinn völlig entstellt wiedergegeben hat?

Ist der Herr Reichskanzler bereit, darauf hinzuwirken, dass wenigstens nachträglich eine Richtigstellung durch das amtliche Wolffsche Büro erfolgt?

Auch sie wurde – aus nichtigen geschäftsordnungsmäßigen Gründen – zurückgewiesen.

Liebknecht hatte Anfang Dezember sämtlichen Reichstagsmitgliedern und noch besonders dem Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion das bis dahin erwachsene Material über die Vergewaltigung der Geschäftsordnung durch den Präsidenten unterbreitet. Es fanden sich jedoch – auch unter der „Minderheit" – nicht die nach der Geschäftsordnung erforderlichen 15 Abgeordneten für einen Antrag, der es ermöglicht hätte, im Plenum des Reichstages gegen die am 30. November 1915 errichtete Diktatur des Präsidenten aufzutreten.

1 Ausschuss von Vertretern der Reichstagsfraktionen, der Fragen der Geschäftsordnung und Ähnliches regelte.

2 Gemeint sind die Unruhen vom 15. bis 19. Oktober 1915, bei denen zahlreiche Verhaftungen vorgenommen und 150 Personen, darunter viele Frauen und Jugendliche, zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt oder in Schutzhaft genommen wurden.

3 Am 22. Dezember 1915 forderte die sozialdemokratische Fraktion des schweizerischen Bundesrats diesen auf, allein oder mit den Regierungen anderer neutraler Länder den Kriegführenden ihre Dienste zur Einleitung von Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen anzubieten.

4 aus Wut

5 Wir geben diese Darlegungen ausführlicher wieder, weil sie zum Verständnis der Vorgänge gegenüber den zahlreichen Angriffen erforderlich sind. (Fußnote in der Quelle. Die Red.)

6 In der Quelle irrtümlich: seit einem halben Jahre

7 Eugen Richter (1838-1906) war Führer der Partei des liberalen Bürgertums, der Fortschrittspartei (später Freisinnige Volkspartei). Er war einer der erbittertsten Feinde der Sozialdemokratie.

8 Um die sieben sozialdemokratischen Abgeordneten des preußischen Landtages mundtot zu machen, beschloss die reaktionäre Mehrheit des Abgeordnetenhauses auf Ersuchen seines Präsidenten, des Junkers Jordan von Kröcher, in der Sitzung vom 6. Mai 1910 eine gesetz- und verfassungswidrige Änderung und Verschärfung der Geschäftsordnung. Diese sogenannte Lex Kröcher gab dem Präsidenten das Recht, zur „Wahrung der Ordnung" unbequeme Abgeordnete für eine bestimmte Zeit von den Sitzungen auszuschließen und sie sogar mit Polizeigewalt aus dem Sitzungssaale entfernen zu lassen.

9 In der von Ernst Meyer besorgten Ausgabe der Spartakusbriefe, Bd. I, Berlin 1926, S. 77, befindet sich folgender Vermerk:

.Hier fehlt im Original eine Zeile. Auf der nächsten endet der Satz mit den Worten: ,Beschlüssen stellen werde'."

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