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Politische Briefe Nr. 12 19160127

NR. 12 VOM 27. JANUAR 1916

[nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 86-98]

POLITISCHE BRIEFE

27. Januar 1916

W. G.!

Wir bitten Sie, zu Ihrer persönlichen Information von folgenden Mitteilungen Kenntnis zu nehmen.

Mit Parteigruß

Spartacus

DIE DEZEMBER-MÄNNER VON 19151

Nach anderthalb Kriegsjahren wuchs am 21. Dezember 1915, bei der fünften Milliardenvorlage, das Häuflein der Kreditverweigerer auf zwanzig. Heißt das Erlösung? Die Situation kann verwirren. Ziehen wir scharfe Linien.

Erlösung könnte sein eine Fraktionsminderheit, die, einig über das Wesen von Sozialismus und Imperialismus, einig über die Aufgaben des Proletariats gegen Imperialismus und Krieg, einig über die Kampfmethoden, einig im Kampfwillen eine aktionsfähige, zielklar, konsequent und rücksichtslos vorwärtsdrängende Gemeinschaft bildete, eine Fraktionsminderheit, die entschlossen wäre, den außerparlamentarischen Burgfrieden auf Schritt und Tritt mit allen Mitteln in zäher öffentlicher Fronde gegen die Fraktionsmehrheit zu zerstören, den Klassenkampf gegen Krieg, Regierung und herrschende Gesellschaftsordnung rastlos zu führen, eine Fraktionsminderheit, die keine revolutionären Kräfte hemmen, sondern unter Entfesselung der kühnsten Initiative immer neue revolutionäre Kräfte schaffen würde.

Messen wir an diesem Maße die Männer vom 21. Dezember und ihre Leistungen.

Sind sie einig in der Grundauffassung? Mitnichten! Wer sind sie? Wenige Vertreter des grundsätzlichen Internationalismus, die die Verwirrungsphrase von der Vaterlandsverteidigung schlechthin ablehnen, neben allerhand Eroberungsgegnern, die dieser Phrase anhängen, die bei jeder Gelegenheit ihr „wahrhaft patriotisches" Herz öffentlich ausstellen, aber nach Jahr und Tag das Haar der Annexionspolitik in der Suppe der imperialistischen „Vaterlandsverteidigung" entdeckt haben, und neben diversen „Sicherungs"-Gläubigen, die im Vertrauen auf Hindenburg und Falkenhayn leben und meinen, Deutschland habe genug gesiegt. Feinde und Verfechter der Politik des 4. August – Feuer und Wasser nebeneinander! Auch Verfechter des Vergeltungsprinzips, denen die diplomatische „Aufhebung des Seebeuterechts" – just im Augenblick der Zerstampfung alles Völkerrechts – Wundersalbe gegen Rasereien der Kriegsbarbarei und Schlüssel zum Paradies des Völkerfriedens oder doch zu seinem Vorhof scheint.

Prinzipielle Einmütigkeit ist die erste Voraussetzung aller ernsthaften Aktionsfähigkeit. Den Dezember-Männern fehlt diese Voraussetzung.

Sind sie einig in der Haltung zur Fraktionsmehrheit? Mitnichten! Nur wenige sind gewillt, den unerbittlichen öffentlichen Widerstand und die unerbittliche öffentliche Offensive gegen sie zum dauernden Prinzip ihres Handelns zu machen. Die Mehrzahl wagt sich nicht über den „Disziplinbruch" in der Kreditfrage hinaus, sucht ihr „Disziplingewissen" advokatorisch zu betäuben, schwört, die Parteieinheit zu schirmen, preist ihren spätgeborenen Radikalismus als das beste Öl zur Beruhigung der aufsässigen Massen und tröstet sich und die Fraktionsmehrheit mit der Erwartung baldiger Erneuerung treuer Waffenbrüderschaft. Und die Festigkeit, die Zuverlässigkeit der Dezember-Bekehrten, die von der Massenstimmung in die Opposition geweht sind? Dieser politische Flugsand müsste erst zu Stein erhärten, ehe auf ihn zu bauen wäre.

Einmütige Bereitschaft zu entschlossenem revolutionärem Handeln ist die zweite Voraussetzung für die einzige Leistung, die heute vor dem Sozialismus legitimiert, für den internationalen revolutionären Klassenkampf gegen Krieg und Imperialismus. Den Dezember-Männern fehlt auch diese Voraussetzung.

Die Minderheit vom 21. Dezember, die unter dem Segen Kautskys erstand, war schon an diesem Tage keine Gemeinschaft, nur eine für den Einzelfall zusammengewürfelte Schar verschiedenartiger Elemente, eine Schar von so widersprechenden Auffassungen in Theorie und Taktik, von so verschiedenem Grade der Energie und Festigkeit, dass sie von vornherein zur gemeinsamen Durchführung einer folgerichtigen sozialistischen Politik unfähig war, ein Konglomerat, das, wenn es die fortgeschrittensten Elemente in ihrer freien Initiative binden und hemmen würde, ein böser Schaden wäre.

Ist aber der 21. Dezember 1915 selbst nicht eine schlagende Widerlegung dieser These? Mitnichten! Er trägt alle Schwächen jener „Gemeinschaft". Gewiss, die öffentliche Abstimmung gegen die Kredite war ein Schritt voran. Gewiss, dass nun auch die 18 durch das Fegefeuer des „Disziplinbruchs" gingen, als sie im Plenum des Reichstags handelten und redeten, war nicht ohne, wenn es auch 17 Monate zu spät kam. Aber der Inhalt der Erklärung zeigt sofort die peinliche Halbheit der Leistung. Sie vermeidet eine schroffe Stellungnahme gegen Fraktionsmehrheit und selbst gegen Regierung und bürgerliche Parteien: man wollte nicht das öffentliche Schauspiel heftiger Szenen zwischen Fraktionsgenossen und – um Himmelswillen! – auch keine Empörung der Bürgerlichen. Man war artig und vornehm, wie sich's im Zeitalter des Weltkrieges und des Belagerungszustandes für wohlerzogene Sozialdemokraten ziemt; Burgfrieden immerhin! Mit Blitz und Donner hätte die Erklärung dreinfahren sollen – sie trug den gedämpften Ton, den gemäßigten Geist „besonnener" Staatsmännerei.

In allen Stellungen ist die Opposition gegen den Krieg schwach und verloren; nur auf einem Standpunkt steht sie unanfechtbar, unverwundbar. Und dieser Standpunkt ist: Anerkennung der internationalen Interessengemeinschaft der Arbeiterklasse, ihres internationalen Interessengegensatzes gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung und der Notwendigkeit des internationalen Klassenkampfes als der souveränen Bestimmungsgründe für die sozialistische Taktik im Frieden und im Kriege; daraus hergeleitet: grundsätzliche Kampfstellung gegen den Imperialismus als der höchsten Phase der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und gegen Krieg und „Burgfrieden" als intensivste Lebensäußerungen des Imperialismus, als Verneinungen der internationalen Solidarität und des Klassenkampfes.

Jede Politik, die den grundsätzlichen Internationalismus verwirft und ihre Stellung zu Krieg und Burgfrieden nicht nach dem geschichtlichen Wesen des Krieges, der Regierungen und der bestehenden Gesellschaftsordnung bestimmt, jede Politik, die der Verwirrungsphrase von der Landesverteidigung folgt und die Unterstützung und Bekämpfung der Regierungen und des Krieges von der jeweiligen militärischen Lage oder irgendwelchen Kriegsziel-Kundgebungen abhängig macht, unterscheidet sich von der „Mehrheits"-Politik des Regierungsoffiziösentums sans phrase nur durch geringere Folgerichtigkeit. Jedes Zugeständnis an sie bedeutet Kapitulation vor der Mehrheitspolitik.

Die Erklärung vom 21. Dezember weicht einer Stellungnahme zu jenem Grundprinzip jämmerlich aus. Sie bietet einen Satz des Misstrauens gegen die Gesamtpolitik der kapitalistischen Regierung; und sofern diese freilich sehr sanftmütige und vorsichtige Phrase der Ablehnungserklärung unmittelbar vorangeht, möcht's leidlich scheinen. Sie unterlässt aber jede geschichtliche Charakterisierung des Krieges, vermeidet selbst das Wort Imperialismus, erwähnt die Eroberungspläne, als seien sie erst in kürzlichen Regierungskundgebungen offenbart, und bringt schließlich die Wendung: unsere Landesgrenzen und unsere Unabhängigkeit sind gesichert, uns droht kein Einbruch feindlicher Heere. Diese Wendung ist absichtlich zweideutig gehalten; sie soll nach ihrer Entstehungsgeschichte die „Sicherung der Landesgrenzen" nicht als Motiv für die Kreditablehnung bezeichnen, sondern nur als Tatsache feststellen; sie soll demagogische Einwendungen abschneiden und etwa besagen: „Selbst dieses Motiv – wo immer es gehegt wurde – ist für Deutschland bei seiner günstigen militärischen Lage erledigt." Sie drückt das jedoch – eine Konzession an die „Sicherungs"gläubigen! – so undeutlich aus und knüpft so deutlich an eines der bedenklichsten Schlagworte aus der Erklärung vom 4. August 1914 an, dass sie in hohem Maße gefährlich ist. Es gilt von der Erklärung, was einer2 der 20 noch am 21. Dezember den anderen 19 schrieb:

„… sie grenzt an eine Anerkennung der Politik vom 4. August 1914; sie enthält Wendungen, die z. B. der französischen Fraktionsmehrheit ein Argument zur Fortsetzung ihrer bisherigen Kriegspolitik bieten, der französischen Minderheit Schwierigkeiten machen und – bei Umschwung der Kriegslage – den Umfall der deutschen Fraktionsminderheit vorbereiten können; sie ist nur schwer mit dem Zimmerwalder Beschluss in Einklang zu bringen."

Und es gilt weiter von der ganzen Aktion des 21. Dezember, was am Schlusse dieses Briefes gesagt ist:

So erfreulich und wertvoll die heutige Abstimmung der zwanzig und die Tatsache der Abgabe einer Erklärung im Plenum ist, sie wird – zumal bei dem Inhalt der Erklärung – ihre Bedeutung erst durch die weitere Politik dieser Genossen erhalten. Nur wenn sie durch diese Politik als Kundgebung des entschlossenen Willens zur Aufnahme des Klassenkampfes, zur grundsätzlichen Zerstörung des parlamentarischen Burgfriedens gekennzeichnet wird, wird sie mehr sein als eine ,schöne Geste'. Eine konsequente, unerbittliche Opposition im Reichstag, u. zw. gegen den Willen der Fraktionsmehrheit, ist das ,Gebot der Stunde', dieser Stunde.

Versagen hier die zwanzig, so verdammen sie sich selbst zur Ohnmacht, ihre Ohnmacht wird offenbar, ihr aufkeimender Einfluss auf die Massen geht zum Teufel, und Fraktionsmehrheit wie Regierung werden in Zukunft parlamentarisch stärker sein als vor dem 21. Dezember 1915."

Wie aber steht es mit der Erfüllung dieses Postulats? Hat die spätere Politik der Dezember-Männer ihrer Aktion den Stempel aufgeprägt, der ihr erst Wert verliehen hätte? Danach ist heute das Urteil zu fällen. Bereits in der ersten Fraktionssitzung nach der Dezember-„Tat" wehte ein sentimentales Mailüfterl statt des Konfliktorkans, den die Lage erforderte; ein Landregen rann statt des stürmischen Wolkenbruchs. Die Mehrheit3 spielte mit dem Gedanken des Ausschlusses aus der Fraktion, im Ernst dachte kaum einer daran. Das Strafgericht gegen die neuen Disziplinbrecher wurde zu einem Kusch-Kusch, zu einem aussichtsreichen Drohen mit dem Bakel gegen künftige gröbere „Ausschreitungen" der Minderheit. Der Wille zu diszipliniertem Zusammenwirken auf allen Gebieten außerhalb der Kreditfrage, die Hoffnung baldiger fleckenloser Eintracht verklärte die Stimmung bei Mehrheit und Minderheit.

Bereits am 20. Dezember hatten die Dezember-Männer ihre historische Arbeit begonnen mit einem Versuch zur Unterbindung der freien Initiative ihrer entschlossensten Elemente, zur Dämpfung der gesamten Opposition auf den flauen Ton ihrer unsichersten Kantonisten. Dass der Versuch missglückte, war nicht ihr Verdienst. Unter dem Zeichen dieser Dämpfung stand die Tätigkeit der Geyer und Genossen während der Januartagung des Reichstags, in der die Probe der Zuverlässigkeit und Energie abgelegt werden musste. Soviel Sitzungstage, soviel verpasste Gelegenheiten! Man unterstützte die Anfragenaktion nicht, sondern bekämpfte sie mit kleinlichen Gründen engbrüstiger Rechnungsträgerei. Man regte sich nicht zur energischen Abwehr der unausgesetzten brutalen Unterdrückung eines einzelnen im Reichstag, auch nicht zum pflichtgemäßen Kampf gegen den schnöden Geschäftsordnungsbruch, der die politische Freiheit der Anfragen eskamotierte; man ermöglichte, ja deckte damit auch den Ausschluss dieses einzelnen aus der Fraktion, gegen den man nur papierne Proteste fand4. Aber allem setzte die Krone auf, was am 15. Januar geschah. Bei dem infamen und heuchlerischen Völkerverhetzungsmanöver, zu dem der Reichstag den „Baralong" -Fall5 missbrauchte, ergriff zwar einer der Dezember-Männer – Ledebour – das Wort, aber ohne eine Silbe der Brandmarkung gegen die Hetzkumpanei und ihre sauberen Zwecke, unter kaum gedämpfter Zustimmung zu dem verächtlichen Entrüstungschorus, unter Inschutznahme der deutschen Kriegführung gegen jede Aufrollung ihres Sündenregisters, unter prinzipieller Anerkennung des Vergeltungsprinzips und nur unter so schüchternen Vorbehalten, dass ihm von der reaktionärsten bürgerlichen Presse wohlverdientes Lob zuteil ward. Und als der Abgeordnete Oertel die Einmütigkeit des gesamten Reichstags in der Empörung über den – auch noch unbewiesenen – „Baralong-Mord" und die englische Note feststellen wollte und ein einzelner diesen sauberen Plan durch ein schneidendes „Nein" durchkreuzte, konnte der Abgeordnete Oertel ihn unter dem brüllenden Beifall des Reichstags als den einzigen Dissidenten verhöhnen, ohne dass von denen um Geyer auch nur einer Widerspruch erhoben hätte. Und bei der Rede Noskes, die das Niederträchtigste an Rohheit und Verrat am Sozialismus enthielt, was je dem Munde eines „Sozialdemokraten" entfloss, blieb der Protest eines einzelnen ebenso einsam wie das gegen Oertel geschleuderte „Nein".

Heißt der 21. Dezember Erlösung? Nein. Er war bestenfalls Verheißung, eine Verheißung, die nicht erfüllt worden ist. Er konnte sein eine Überschreitung des Rubikon, aber keine Schlacht auf den pharsalischen Gefilden ist ihm gefolgt. Und keine wird ihm folgen, ehe nicht ein Märzsturm des Massenunwillens die Dünste der Opportunitätspolitik zerfegt und das morsche Geäst und Gestrüpp der Halbheit, das die Bahn noch versperrt, erbarmungslos niederbricht.

EIN SCHWARZER TAG IM REICHSTAG

Wir sind es seit dem 4. August 1914 gewohnt, dass der Deutsche Reichstag sich durch sein ganzes Verhalten vor aller Welt diskreditiert. Aber die Vorgänge, die sich am 15. Januar bei der Besprechung der „Baralong"-Affäre in dem „hohen Hause" abspielten, müssen jeden Demokraten und Sozialisten mit Ekel erfüllen. Diese Affäre ist bekanntlich noch keineswegs geklärt; die Zuverlässigkeit der Zeugen, die bisher den „Mord" bestätigten, wird von neutraler Seite bezweifelt; die deutsche Regierung selbst fordert erst eine Feststellung im geordneten Verfahren; und die englische Regierung lehnt das gar nicht ab, sondern erbietet sich, diesen „Fall" nebst einigen anderen nicht nur, wie die deutsche Regierung fordert, einem englischen, sondern sogar einem neutralen Gericht zu unterbreiten. Dennoch benutzte die deutsche Regierung und der Reichstag die englische Antwortnote mit ihren „diplomatischen" Bosheiten als erwünschte Gelegenheit, eine unverschämte Hetze gegen das ganze englische Volk zu entfesseln und die Kriegs„begeisterung" im eigenen Lande zu schüren. Das Beschämendste bei dem ganzen, wohl inszenierten Entrüstungs- und Hetzaufzug war die Teilnahme der sozialistischen Reichstagsfraktion. Schon der Berichterstatter Graf v. Westarp begann seine Rede mit der Konstatierung, dass im Haushaltsausschuss über den Fall und die deutsche Antwortnote, die bekanntlich Repressalien ankündigt, volle Einigkeit geherrscht habe. Der Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion, Noske, hat sich denn auch nach Kräften bemüht, diese Einmütigkeit in aller Öffentlichkeit zu unterschreiben. Noske scheute sich nicht, die abgedroschene Phrase vom „Aushungerungskrieg" Englands zu wiederholen – als ob nicht alle Staaten, auch Deutschland, in ihrer Kriegführung die wirtschaftliche Schädigung des Gegners anstrebten. Noske war weiter so albern, sich über feindliche „Franktireurschiffe und Schiffe unter falscher Flagge" zu entrüsten, als ob er nicht wüsste, dass auch unsere Flotte nach altem Kriegsbrauch sich falscher Flaggen (bis zum Moment der Aufnahme des eigentlichen Kampfes) bedient. Dieser „Demokrat" sprach es ohne Scham aus, dass ihm noch „derbere Töne" in der deutschen Antwortnote recht gewesen wären. Aber den Gipfel erreichte dieser „Sozialist", als er statt eines „papiernen Protestes" energische Vergeltungsmaßregeln forderte.

Die bürgerlichen Redner wussten, wie der Schriftleiter des ausgesprochenen deutschen Hetzorgans, Dr. Oertel, schmunzelnd konstatierte, diese Rede nicht zu übertreffen, und sie unterließen es nicht, diese Einmütigkeit mit der Sozialdemokratie gebührend hervorzuheben. Als Oertel konstatierte, dass alle im Reichstag einig in der Forderung nach Vergeltungsmaßnahmen seien, da protestierte niemand von den 110 sozialdemokratischen Abgeordneten außer dem Genossen Liebknecht, dem natürlich wieder das Wort abgeschnitten und so die politische Kennzeichnung der Szene unmöglich gemacht wurde. Auch Ledebour sprach sich in seiner Rede ausdrücklich für Repressalien aus. Dabei hat sich gerade in diesem Kriege gezeigt, dass die Vergeltungsmaßregeln eines Landes sofort andere in dem betreffenden Lande nach sich ziehen und so eine endlose Kette von Nachteilen für einzelne Unschuldige entsteht, bis beide Regierungen vernünftig genug sind, alle Maßnahmen aufzuheben. Die Einschränkung, die Ledebour machte, dass bei den Vergeltungsmaßregeln nicht „unschuldige" Personen … ihr Leben „verlören", ist natürlich vom sozialistischen Standpunkt aus völlig unzureichend. Verbrecher mag man bestrafen, wenn man sie fasst. Unschuldige aber dürfen nie und in keiner Form für andere irgendwie herangezogen werden. Die öffentliche Brandmarkung in der Presse dient dem Zwecke der „Sühne" viel mehr als irgendwelche Repressalien.

Genosse Ledebour verteidigte zwar das englische Volk gegen die plumpsten Beschimpfungen. Aber statt das heuchlerische Getue des Reichskanzlers zu brandmarken, was in jenem Moment geboten war, verlor er sich in eine Polemik gegen das Seebeuterecht, als ob es im Moment der Völkerverhetzung im eigenen Lande nichts Wichtigeres zu tun gibt, als das Ausland zu kritisieren. Matt und verklausuliert fiel Ledebours Kritik des U-Boot-Krieges aus, dessen frühere und jetzige Formen zur Verschärfung des Wirtschaftskrieges geführt haben.

Auch Ledebours Rede war letzten Endes bestimmt durch die Rücksicht auf den parlamentarischen „Burgfrieden", den zu durchbrechen gerade in jenem Moment der Hetze und Raserei unnachlässliche Pflicht jedes Demokraten und Sozialdemokraten war.

Von den übrigen 18 der 20 wollen wir völlig schweigen; denn auch sie schwiegen wie immer.

Sie hatten kein Wort des Protestes, auch nur in Zwischenrufen, gegen die frohlockende Feststellung Oertels, dass er mit ihnen in der Forderung von scharfen Repressalien einig sei, kein Wort der Entrüstung gegen die schamlose England-Hetze. Sie billigten stumm um des lieben „Burgfriedens" und der geheiligten Fraktionsdisziplin willens selbst die Reden eines Oertels und Noske.

LIEBKNECHTS KLEINE ANFRAGEN

Über die Taktik Karl Liebknechts bei Einbringung der Kleinen Anfragen scheinen eigentümliche Missverständnisse obzuwalten, und es dürfte notwendig sein, sie klarzustellen.

Die sozialdemokratische Fraktion hat nicht nur am 4. August und dann wiederholt für die Kriegskredite gestimmt, sondern sie hat darüber hinaus Regierungspolitik, d. i. Kriegspolitik, getrieben. Dokumentierte schon die Zustimmung zu den Krediten, dass die Fraktion bereit war, die Verantwortung für die Kriegführung mitzutragen – denn das und nichts anderes bedeutet trotz aller „Erklärungen" der parlamentarische Akt der Zustimmung –, so hat darüber hinaus die Fraktion, indem sie in den „Burgfrieden" willigte und die Kritik an den Handlungen der Regierung verstummen ließ, diese Verantwortung in der Weise übernommen, dass sie gegen alle Akte der Kriegführung und der Knechtung des Volkes, gegen die Säbelherrschaft nicht reagierte, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Gegen diese Taktik, gegen die Preisgabe aller sozialdemokratischen Grundsätze anzukämpfen, wäre Pflicht eines jeden Sozialdemokraten. Als ein Mittel, diese Pflicht zu erfüllen, betrachtete Karl Liebknecht die „Kleinen Anfragen", und es erwies sich als brauchbar.

Die „Kleinen Anfragen" sind ein im Deutschen Reichstage neues, im englischen Parlamente längst erprobtes Mittel der Geschäftsführung. Ihre Bedeutung im Sinne der parlamentarischen Praxis beruht darauf, dass die Regierung zur Rede in irgendeiner Angelegenheit gestellt werden kann, ohne dass die jeweils zu verhandelnden Angelegenheiten dadurch einen Aufschub erleiden. Die Form ist deshalb vereinfacht, jeder einzelne Abgeordnete kann Fragen stellen, die Regierung kann antworten oder nicht, eine Debatte darf an die Antwort nicht geknüpft werden. Die parlamentarische Praxis hat dazu geführt, dass die Regierung zuweilen Fragen bestellt, um Gelegenheit zu einer Kundgebung zu erhalten (in der letzten Tagung ist das auch im Deutschen Reichstage geschehen, denn die Anfragen des Herrn Bassermann waren offenkundig bestellte Arbeit6). Für uns Sozialdemokraten ist der Parlamentarismus nichts anderes als ein Mittel der Propaganda und Agitation, ein Mittel, für den Sozialismus zu wirken, den Interessen des Proletariats zu dienen, er ist nicht an sich ein Heiligtum, das wir zu hüten und zu wahren haben, sondern eine Waffe, deren wir uns bedienen. Die Kleinen Anfragen sind für diesen Zweck im Allgemeinen wenig geeignet. Da aber eine Interpellation nach der Geschäftsordnung nur von einer größeren Zahl von Abgeordneten eingebracht werden kann, eine Rede stets verhindert werden kann, wenn die Fraktion oder die Mehrheit es will, so blieb unter den gegebenen Umständen für den einzelnen Sozialdemokraten nichts anderes übrig, als dieses Mittel auszunützen.

Nun wird zuweilen eingewendet, es sei von vornherein sicher gewesen, dass die Regierung nicht antworten oder durch nichtssagende Antworten den Zweck der Frage vereiteln würde; daher sei es überflüssig zu fragen. Es hat sich gezeigt, dass das eine durchaus falsche Anschauung ist; die Fragen haben ihre Wirkung getan.

Nehmen wir die von Liebknecht am 14. Dezember gestellten Fragen. Die Regierung hatte am 10. November die Annexionspolitik proklamiert, sie wird gefragt, „auf welcher Grundlage sie bereit sei, in sofortige Friedensverhandlungen einzutreten". Sie verweigert die Antwort! Sie wird weiter gefragt, wie sie sich zu dem Friedensvermittlungsvorschlage neutraler Regierungen stellt, den Schweizer Sozialdemokraten beim Schweizer Bundesrat beantragen? Die Frage wird unterdrückt! Das sind indessen Antworten, Antworten, die eine sehr eindringliche Sprache führen; wäre es ernst mit dem „Verteidigungskriege", käme es der Regierung darauf an, der Menschenschlächterei ein Ende zu bereiten, den Frieden herbeizuführen, so hatte sie hier die Gelegenheit, diesen Willen kundzutun; ihr Schweigen ist die deutlichste Antwort.

Alle Welt weiß, dass in dem sog. „Weißbuch"7 der deutschen Regierung Dokumente von größter Wichtigkeit unterschlagen sind, dass die deutsche Regierung bisher die Verhandlungen mit Österreich seit dem Attentat von Sarajewo geheim hält, während alles dafür spricht, dass beide Regierungen dieses Attentat planmäßig praktizierten, um den Krieg mit Russland herbeizuführen. Alle Welt weiß ferner, wie die deutsche Regierung den Reichstag direkt belogen hat, indem sie ihm am 4. August 1914 das an Belgien gerichtete Ultimatum verschwieg, während sie wissen musste, dass die Vergewaltigung der Neutralität Belgiens den Krieg auch mit England bedeutete. Es gilt, die Öffentlichkeit erneut auf diese Dinge hinzuweisen, es gilt, den Gedanken Ausdruck zu geben, dass das deutsche Volk die Schuldigen, die diesen Krieg angezettelt haben, die nicht alles getan haben, ihn zu vermeiden, zu Rechnung ziehen muss. Daher fragt Liebknecht: Will die Regierung alle Dokumente veröffentlichen, will sie dafür eintreten, dass eine parlamentarische Kommission unter Kontrolle der Öffentlichkeit die Schuld prüft und die Verantwortlichen der Sühne zuführt? Die Regierung antwortet mit einer Phrase über ihre Unschuld und lehnt jede Kontrolle ab – wie zu erwarten war! Aber die Frage erheben, von der einzigen Stelle, wo es heute möglich ist, hieße von neuem die Gedanken auf die Blutschuld der deutschen und der österreichischen Regierung hin lenken, von neuem daran erinnern, was allen Sozialdemokraten nach dem nichtswürdigen österreichischen Ultimatum klar war: Dass nämlich die Zentralmächte den Krieg wollten, dass die Phrasen vom Verteidigungskrieg eine Lüge sind. Ebenso galt es, daran zu erinnern, dass alles Gezeter über den Bruch des Völkerrechts seitens der Gegner blödes Gerede ist, nachdem die deutsche Regierung durch das Verbrechen an Belgien alle Satzungen des Völkerrechts über den Haufen warf.

Liebknecht fragte weiter, will die Regierung mitwirken, dass die Geheimdiplomatie beseitigt, die auswärtige Politik der öffentlichen Kontrolle unterstellt, die Entscheidung über Krieg und Frieden der Volksvertretung übertragen wird? Die Regierung antwortete mit einem höhnischen Nein! Das war zu erwarten – selbstverständlich! Aber in einer Zeit, in der die Scheidemann, Noske, Heine das schmähliche Handwerk der Regierungskommissare besorgen, jedes Verbrechen der Regierung zu decken bereit sind, ist es nützlich, daran zu erinnern, dass die 3 Millionen Menschen, die ihr Leben bereits gelassen haben, und die vielen Millionen Krüppel das Opfer eines infamen, von den Regierungen und den herrschenden Klassen gewollten, von den Völkern verdammten Verbrechens sind. Es war Zeit, daran zu erinnern, dass die angeblichen Sozialdemokraten, die die Regierungen bei der Kriegführung unterstützten, dahin wirken, dass dieser Zustand, bei dem ein Haufen von kapitalistischen Interessenten über Wohl und Wehe der Völker entscheiden, verewigt wird.

Die Regierung hat, um die Volksmassen zu ködern, bei Beginn des Krieges von der „Neuorientierung" der inneren Politik gesprochen, sie regiert mit dem Schrecken des Belagerungszustandes; Liebknecht fragt: Was ist es mit der Neuorientierung, was versteht die Regierung darunter, wann wird sie mit Reformen beginnen? Die Regierung verweigert die Antwort! Ist etwa die Frage überflüssig? Sollte nicht vielmehr jeder sozialdemokratische Abgeordnete diese Frage der Regierung jeden Tag stellen und die Reformen fordern? Es wurde gefragt, um vor aller Welt die Lüge von der Neuorientierung zu brandmarken.

Ähnlich die Anfragen vom 14. Januar: die türkische Regierung hat ein furchtbares Gemetzel unter den Armeniern angerichtet; alle Welt weiß davon und – in aller Welt macht man Deutschland dafür verantwortlich, weil in Konstantinopel die deutschen Offiziere die Regierung kommandieren. Nur in Deutschland weiß man nichts, weil die Presse geknebelt ist. Auf diese Schandtaten hinzuweisen, war ein Verdienst. Die zweite Frage bezog sich auf die Verwaltung in den von den deutschen Truppen besetzten Gebieten. Die Wahrheit ist, dass, entgegen dem verlogenen Geschwätz in der deutschen Presse, die Bevölkerung Belgiens, Nordfrankreichs, Polens, Litauens, Kurlands unsäglich leidet, dass die deutsche Verwaltung dort den deutschen Namen schändet und unauslöschbaren Hass sät. Die dritte Frage bezog sich auf die Schande des Säbelregiments unter dem Belagerungszustand in Deutschland; Tausende von Menschen sind eingekerkert, es sind schwarze Kabinette errichtet, das Briefgeheimnis besteht nicht mehr, die Generale haben ein Regiment der Willkür etabliert. Zu fragen war Pflicht, die dadurch nicht aufgehoben wird, dass man weiß, die Regierung wird schweigen oder schnoddrige Antwort erteilen.

Im Einvernehmen mit der Regierung hat der „freisinnige" Präsident verschiedene Fragen unterdrückt, hat die Geschäftsordnung mit Füßen getrampelt, indem er die Ergänzungsfragen Liebknechts nicht zuließ. Das „hohe Haus" aber, einschließlich der Sozialdemokraten, hat durch wieherndes Gelächter seine Zustimmung erteilt zur Schändung der Rechte der Volksvertreter. Dann stellen sich parlamentarische Klopffechter hin und behaupten, Liebknecht diskreditiere und gefährde die parlamentarischen Rechte! Ach nein! Das Verhalten des Reichstags beweist nur, dass der Deutsche Reichstag im Kriege sich zum Trossknecht der Generalstäbler herabgewürdigt hat. Da in der proletarischen Politik noch immer die vornehmste Aufgabe bleibt, zu zeigen, was ist, so ist auch dieser Effekt der Anfragen Liebknechts nur zu begrüßen. Folgt das Possenspiel: die „Entrüstung" der sozialdemokratischen Fraktion, über die weiter unten das Nötige gesagt ist. Das Wort vom „Disziplinbruch" ist abgetan; wenn die Fraktion Verrat an der Arbeiterklasse übt, so ist es verdienstlich, ihr gegenüber die Disziplin zu brechen. Es ist das so verdienstlich wie das Verhalten eines Soldaten, der rebelliert und Alarm schlägt, weil das Regiment vor dem Feinde Verrat übt, oder des Beamten, der die Solidarität bricht, weil er nicht durch Schweigen Mitschuldiger werden will, wenn seine Kollegen einen Raub an der Kasse begehen.

Leider haben auch Mitglieder der parlamentarischen Opposition sich an der Hetze gegen Liebknecht wegen der „Kleinen Anfragen" beteiligt, haben mit helotischem Eifer ihre Reisigbündel zu dem Scheiterhaufen geschleppt, auf dem der Frevler gegen den heiligen Parlamentarismus verbrannt werden sollte. Sie beweisen damit, dass auch sie von dem parlamentarischen Kretinismus befallen sind, der unter anderem bewirkt, dass die Form über das Wesen gestellt wird, dass man die Hauptaufgabe, den Parlamentarismus als Werkzeug des Klassenkampfes zu benutzen, vergisst und den Formelkram und die falsch verstandene Disziplin über alles stellt.

Auch das ist gut so: der ungestüme Frager hat auf solche Weise den Parteigenossen durch sein Vorgehen auch in dieser Hinsicht gezeigt, wohin der Kurs geht.

1 Verfasst von Karl Liebknecht.

2 Gemeint ist Karl Liebknecht.

3 In der Quelle irrtümlich: Minderheit

4 Gemeint ist die Unterdrückung der parlamentarischen Aktionen Karl Liebknechts (besonders seiner Kleinen Anfragen) durch die Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, die von der Minderheit, die im Dezember 1915 die Kriegskredite abgelehnt hatte, unterstützt wurde.

5 Gemeint ist die Versenkung eines deutschen U-Bootes durch den englischen Hilfskreuzer „Baralong" am 19. August 1915.

6Gemeint sind die Anfragen Bassermanns in der Reichstagssitzung vom 14. Januar 1916, die die Verhaftung des deutschen Konsuls in Saloniki durch das französische Oberkommando betrafen. Die Antwort benutzte der Gesandte von Stumm, Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, um die Ententemächte des ständigen Völkerrechtsbruches zu bezichtigen.

7 Gemeint ist Das deutsche Weißbuch. Vorläufige Denkschrift und Aktenstücke zum Kriegsausbruch, dem Reichstag am 4. August 1914 zur Kenntnis vorgelegt.

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