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Politische Briefe Nr. 18 19160413

NR. 18 VOM 13. APRIL 1916

[nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 142-152]

POLITISCHE BRIEFE

13. April 1916

W.G.!

Wir bitten Sie, zu Ihrer persönlichen Information von folgenden Mitteilungen Kenntnis zu nehmen.

Mit Parteigruß

Spartacus

ALLERLEI AUS DEM REICHSTAG

Zur U-Boot-Frage und dem Tirpitz-Konflikt

Was bereits am 22. März jeder Einsichtige voraussehen musste, verwirklichte sich am 5. und 6. April. In Nachahmung der im preußischen Abgeordnetenhause von den bürgerlichen Parteien befolgten Taktik wurde im Reichstag nach dem Ausscheiden der U-Boot-Frage aus der ersten Etatlesung die Regierung von den Kriegsscharfmachern in der Budgetkommission hinter verschlossenen Türen zur Raison geprügelt und dann allen Versprechungen zuwider auch bei der zweiten Etatlesung die Erörterung der U-Boot-Frage in der Öffentlichkeit fast völlig verhindert. Die sozialdemokratischen Reichstagsfraktionen freilich schnitten dabei ganz anders ab als die preußische Landtagsfraktion. Die alte Fraktion trat aus der Budgetkommission hervor, eingeschirrt und eingesträngt vor den Wagen der Tirpitz, Oertel, Bassermann und Genossen; durch Mitunterzeichnung des gemeinsamen U-Boot-Antrags zum imperialistischen Block verschworen. Die Arbeitsgemeinschaft konnte sich gegen die Unterdrückung der Debatte zweiter Lesung nur mit halb gebundenen Händen wehren, nachdem ihre Mitglieder dem Protest gegen die Unterdrückung der Debatte erster Lesung kurzsichtig und unentschieden nicht beigetreten waren. Das Resultat des U-Boot- und Tirpitz-Kampfs aber war das bereits in erster Lesung Prophezeite: der als Staatssekretär gegangene Tirpitz hatte als Staatsmann, in seiner Kriegszielpolitik gegen England, gesiegt. Tirpitz redivivus!

Die U-Boot-Anträge

Der Vertreter der Arbeitsgemeinschaft hatte in der Budgetkommission ein Verbot des warnungslosen Torpedierens gefordert: dazu haben wir uns im Brief vom 30. März1 geäußert. Zur Plenardebatte zweiter Lesung beantragte die Arbeitsgemeinschaft: „Auch für den U-Boot-Krieg haben die Bestimmungen des Völkerrechts zu gelten.

Insbesondere darf der rücksichtslose U-Boot-Krieg, also die warnungslose Torpedierung von Handels- und Passagierschiffen gegnerischer und neutraler Staaten, unter keinen Umständen zur Anwendung gebracht werden.

Der Reichstag erwartet, dass der Reichskanzler schleunigst durch die Einleitung von Friedensverhandlungen eine Verständigung unter den Völkern herbeizuführen sucht."

Die Bedenklichkeit dieses Antrags springt in die Augen. Das Völkerrecht liegt in Atome zerfetzt in den Gossen. Sein Gedanke einer Reglementierung der Kriegsraserei ist als närrischer Wahn erwiesen. Seine Bestimmungen heute als Zauberformeln gegen die Gefahren des U-Boot-Kriegs anpreisen, kann nur Sache einer Politik sein, die aus der bitterernsten Predigt des Weltkriegs nichts gelernt hat und bestenfalls die Politik zerstörter Illusionen durch eine Politik neuer Illusionen ersetzen will. Dass „auch" für den U-Boot-Krieg das Völkerrecht zu gelten habe, bedeutet noch obendrein die Unterstellung, als ob die Bestimmungen des Völkerrechts, abgesehen vom U-Boot-Krieg, heute tatsächlich in Geltung seien!

Die Forderung des Verbotes der warnungslosen Torpedierung haben wir am 30. März charakterisiert. Sie ist durch die Verbindung mit dem „Völkerrecht" nicht schöner geworden. Der letzte Absatz bringt die verschwommene, inhaltsleere Formel von der „Verständigung" unter den Völkern, ohne auch nur ein Wort über den Inhalt des geforderten Friedens zu sagen. Er schlägt dazu noch einen Ton der Unsicherheit und des Illusionismus an, indem er die Einleitung von Friedensverhandlungen vom Reichskanzler „erwartet", statt sie zu fordern.

Die Genossen Liebknecht und Rühle hatten einen Antrag entworfen, den sie der Arbeitsgemeinschaft mit der Bitte vorlegten, ihn geschäftsordnungsmäßig zu unterstützen, damit er zur Verhandlung und Abstimmung kommen könne; wozu nach der Geschäftsordnung des Reichstags 15 Stimmen nötig sind. Eine solche Unterstützung, die keineswegs eine Zustimmung zu dem Antrag bedeutet, sondern nur eben seine Verhandlung ermöglichen soll, wurde von der Arbeitsgemeinschaft abgelehnt. Die beiden Genossen stimmten nunmehr dem Antrag der Arbeitsgemeinschaft zu. Ein Versuch, ihre Stellung in der Debatte klarzulegen, wurde bekanntlich durch Mundtotmachung verhindert. Sie übergaben daraufhin dem Reichstag folgende schriftliche Abstimmungsbegründung:

Berlin, den 6. April 19162. Zu der heutigen Abstimmung über den Antrag Bernstein und Genossen auf Nr. 258 der Drucksachen, zu dem wir uns infolge des Schlusses der Debatte nicht äußern konnten, bemerken wir nach § 59 der Geschäftsordnung:

Da wir für einen Antrag: den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, in sofortige Friedensverhandlungen auf Grundlage des Verzichts auf Annexionen aller Art (auch ,Grenzberichtigungen', zwangsweise wirtschaftliche ,Angliederungen' usw.) einzutreten, und insbesondere dahin zu wirken, dass der U-Boot-Handelskrieg, der nur zur Verhinderung von Friedensverhandlungen und zur weiteren Ausbreitung und Verlängerung des Kriegs zu führen geeignet ist, sofort eingestellt wird, nicht die geschäftsordnungsmäßige Unterstützung fanden, haben wir für den Antrag Nr. 258, obwohl wir mit seiner Fassung nicht einverstanden sind, um deswillen gestimmt, weil er immerhin nach seiner Tendenz einen Protest gegen die Führung des U-Boot-Handelskriegs und eine Äußerung des Friedenswillens enthält."

Militäretat

Niemals so sehr wie jetzt in der Zeit des Weltkriegs ist eine Politik der Flickreformen, der Kritik an einzelnen Schönheitsfehlern und Auswüchsen des imperialistischen Systems zu verwerfen. Niemals so sehr wie heute in der Zeit des Weltkriegs ist die scharfe Hervorkehrung der sozialistischen und demokratischen Grundprinzipien, ihre rücksichtslose und deutliche Hervorkehrung in allen Anträgen und Reden geboten.

Die Arbeitsgemeinschaft bewegte sich in ihren Anträgen und Reden fast durchweg in den Bahnen eines gemäßigten Reformismus. Statt beim Militäretat die großen Forderungen der Demokratisierung der Wehrverfassung zu erheben, statt, wie es dringendste Pflicht war, weit über das hinauszugehen, was die Sozialdemokratie in den idyllischen Friedenszeiten zu fordern pflegte, blieb sie dahinter zurück. Bei der Militärjustizverwaltung stellte sie den Antrag, den Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstag sofort einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen die Mindeststrafen des Militärstrafgesetzbuchs herabgesetzt werden.

Die Herabsetzung der militärischen Mindeststrafen ist gewiss dringlich. Aber wenn man einen solchen Gelegenheits-Reform-Antrag, der den Antrag Müller-Meiningen durch das Wörtchen „sofort" überbot, für zweckmäßig halten mochte; selbst in Friedenszeiten hatte die Sozialdemokratie die Aufhebung der militärischen Sondergerichtsbarkeit und des Militärstrafgesetzbuches gefordert. Ein solcher Antrag wäre vor allem erforderlich gewesen. Ihn legte die Arbeitsgemeinschaft nicht vor.

Wer aber etwa – in Erinnerung an den erfolgreichen Vorstoß des Reichstags aus Anlass des Erfurter Bluturteils von 19133 – die Gelegenheit günstig wähnte, dem waffenstarrenden Militarismus just in der Zeit seiner Allmacht ein Konzessiönchen abnötigen zu können, wurde alsbald ernüchtert. Es blieb nicht nur bei der Annahme einer Resolution, wie sie sprichwörtlich in den Papierkorb des Bundesrats zu wandern pflegen: am folgenden Tage erklärte ein Vertreter des Kriegsministeriums noch rund heraus, dass die Regierung an die gewünschte Reform ganz und gar nicht denke. Womit der etwaigen Neigung zu Ausflügen in das Sumpfgebiet der militaristischen Kleinreformpolitik für Urteilsfähige ein Riegel vorgeschoben sein dürfte.

Kapitalabfindungsgesetz4

In allen politischen Fragen die Stellung nach dem Krieg zu orientieren, alle politischen Tatsachen zum Kampf gegen den Krieg und Imperialismus auszunützen, ist in der gegenwärtigen Lage nach unseren Beschlüssen das allenthalben maßgebende taktische Grundprinzip. Die Rolle, die das Kapitalabfindungsgesetz in der Kriegsregie spielt, blieb bei der Debatte vom 10. April unerörtert. Die Genossen Liebknecht und Rühle, die auch hier wieder nicht zu Worte kamen, haben dem Reichstag folgende schriftliche Abstimmungsbegründung überreicht:

Berlin, den 10. April 1916 In der heutigen Sitzung des Reichstages haben wir gegen die Überweisung des Entwurfs zum Kapitalabfindungsgesetz an die Kommission gestimmt, weil wir ihn grundsätzlich ablehnen. Zur Begründung bemerken wir nach § 59 der Geschäftsordnung: Der soziale Wert und der Sinn des Entwurfs stehen im krassen Gegensatz zu den hohen Worten, mit dem er heute vom Kriegsminister und den Rednern der bürgerlichen Parteien begrüßt wurde.

Die bisherige Fürsorge für die Kriegsbeschädigten ist völlig unzureichend. Der Entwurf gibt ihnen aber keinen neuen Pfennig. Er will lebensunfähige und unselbständige landwirtschaftliche Kleinexistenzen künstlich schaffen oder erhalten, die, an die Scholle gefesselt, in politische und wirtschaftliche Abhängigkeit geraten müssen und dem Großgrundbesitz bequeme Arbeitskräfte, den reaktionären Parteien ein günstiges Rekrutierungsfeld bieten sollen.

Die Dankesschuld der Regierung und der herrschenden Klassen an die Masse der Bevölkerung, die sich für kapitalistische und absolutistische Interessen verblutet, ist allerdings riesengroß. Der Entwurf aber bedeutet keinen Versuch zur Austragung dieser Dankesschuld, sondern das Gegenteil, ein Stück Kriegsregie. Wie auch die Worte des Kriegsministers zeigen, soll er den Willen zum Durchhalten im Volke festigen. Er soll die Bereitschaft der Massen steigern, noch weitere Opfer für das imperialistische Kriegsziel zu bringen. Er ist nicht für das Wohl der Massen der Kriegsbeschädigten, sondern für das Wohl der herrschenden Klassen bestimmt.''

Der parlamentarische Burgfrieden

Nur sehr unsicher tastete sich die Arbeitsgemeinschaft zum Anfang eines gewissen Widerstandes gegen den parlamentarischen Burgfrieden durch. Angriffe gegen die alte Fraktion vermied sie auch im April noch immer vorsichtig, obgleich die alte Fraktion mit Wollust jede Gelegenheit ergriff, um sich vor aller Öffentlichkeit an der Arbeitsgemeinschaft zu reiben – vergleiche Scheidemanns Ausfälle gegen die „Kindsköpfe" in der Rede vom 6. April, seinen Überfall auf Haase in der Sitzung vom 10. April und Davids Überfall auf Ledebour vom 6. April. Wie wenig die Arbeitsgemeinschaft sich zu einem entschlossenen Bruch mit ihrer bisherigen Burgfriedenstaktik aufschwingen kann, beweist ihre stumme Anhörung der Fanfaren-Rede des Kanzlers vom 5. April und der provokatorischen Reden der Ebert und Scheidemann vom 6. April.

Eine zurückgewiesene Anfrage

Unter dem 5. April hat Genosse Liebknecht dem Reichstagsbüro folgende Anfrage überreicht:

Nach den Anlagen zur Deutschen Denkschrift über die Behandlung bewaffneter Kauffahrteischiffe vom 8. Februar d. J. heißt es nach Eröffnung des deutschen U-Boot-Kriegs (18. Februar 1915) in den für die Kapitäne britischer Handelsschiffe erlassenen britischen ,Anweisungen betreffend Unterseeboote, herausgegeben für Schiffe, die zu Verteidigungszwecken bewaffnet sind' vom 25. Februar und vom April 1915 unter Ziffer III:

,Wenn bei Tage ein U-Boot ein Schiff offensichtlich verfolgt und wenn dem Kapitän augenscheinlich ist, dass es feindliche Absichten hat, dann soll das verfolgte Schiff zu seiner Verteidigung das Feuer eröffnen, auch wenn das U-Boot noch keine entschieden feindliche Handlung, wie z. B. Abfeuern eines Geschützes oder Torpedos, begangen hat.'

In Ziffer VI dieser ,Anweisungen' vom April 1915 wird zur Vermeidung von Irrtümern über die Nationalität des U-Boots ,ernstlich empfohlen:

,Wenn ein zu Verteidigungszwecken bewaffnetes Schiff von einem U-Boot verfolgt wird', ,mit dem Feuern zu warten, bis das U-Boot auf eine Entfernung von etwa 800 Yard herangekommen ist, auf welche Entfernung das Feuer wahrscheinlich wirksam ist.'

Diese ,Empfehlung' wird in der eingehenden Instruktion über die Regeln für die Benutzung und Instandhaltung der zur Verteidigung bewaffneten Schiffe vom 7. Mai 1915, die sich mit den Voraussetzungen für die Eröffnung des Gefechts nicht befassen, für den Fall eines eröffneten Gefechtes wiederholt und technisch näher begründet.

In der Deutschen Denkschrift vom 8. Februar d. J. wird unter III 2a diese Instruktion vom 7. Mai 1915 vor den ,Anweisungen' vom 25. Februar und April 1915 erörtert, und zwar ohne Erwähnung des Zeitverhältnisses, und dazu bemerkt:

grundsätzlich hat hiernach das Kauffahrteischiff die Aufgabe, das Feuer zu eröffnen, ohne Rücksicht auf die Haltung des U-Boots.'

Unter III 2b der Denkschrift heißt es zu den britischen ,Anweisungen' vom 25. Februar und April 1915:

,Auch hiernach genügt also das bloße Erscheinen eines Unterseeboots im Kielwasser des Kauffahrteischiffs als Anlass für einen bewaffneten Angriff.'

Unter III 3 der Deutschen Denkschrift ist zusammenfassend gesagt:

,Hiernach ist klargestellt, dass die bewaffneten englischen Kauffahrteischiffe den amtlichen Auftrag haben, die deutschen U-Boote überall, wo sie in ihre Nähe gelangen, heimtückisch zu überfallen, also rücksichtslos gegen sie Krieg zu führen.'

Ist der Herr Reichskanzler bereit, diese Bemerkungen der Deutschen Denkschrift öffentlich richtigzustellen und klarzulegen, dass der amtliche Auftrag der englischen Regierung lediglich dahin geht, die Waffen zur Abwehr verfolgender Unterseeboote zu benutzen?

Was gedenkt der Herr Reichskanzler zu tun, um den oder die für diese Bemerkung der Denkschrift verantwortlichen Beamten zur Rechenschaft zu ziehen?"

Selbstverständlich ist diese peinliche Anfrage, die die U-Boot- und Tirpitz-Hatz in der Wurzel traf, indem sie den Ausgangspunkt ihrer Demagogie als eine Fälschung entlarvt, vom Präsidenten Kämpf auf Grund der von ihm unter gröblichem Geschäftsordnungsbruch angemaßten politischen Zensur zurückgewiesen worden, und zwar wegen angeblicher Gefährdung der Interessen des Deutschen Reiches. In unmittelbarem Zusammenhang damit steht die Rücksichtslosigkeit, mit der in der Sitzung vom 7. April der Vizepräsident Paasche bei Beratung des Marineetats die Besprechung der Denkschrift vom 8. Februar geschäftsordnungswidrig hinderte.

ALLERLEI AUS DER GROSSBERLINER OPPOSITION

Vom Großberliner Zentralvorstand

Am 31. März nahm der Großberliner Zentralvorstand Stellung zum 24. März und zur Arbeitsgemeinschaft. Es wurde der schließlich angenommene, im „Vorwärts" mit einer Zensurlücke abgedruckte Antrag vorgelegt, der eine vorbehaltlose Solidaritätserklärung mit der Arbeitsgemeinschaft darstellt. Ein Ersuchen der Genossin Luxemburg, ihr Gelegenheit zur Abfassung eines Abänderungsantrags zu geben, wurde abgeschlagen. Ohne Debatte wurde sofort zur Abstimmung geschritten.

Als die Genossin Luxemburg den „Vorwärts" um Aufnahme einer Erklärung ersuchte, in der sie einen Vorbehalt gegen die angenommene Resolution aussprechen und ihre Zustimmung zu ihr motivieren wollte, wurde ihr dies von der Redaktion verweigert, so dass sie sich an auswärtige Parteiorgane wenden musste.

Dieser Vorgang hat ein frappantes Gegenstück. Wie die Zentralvorstandssitzung vom 31. März zu einer Solidaritätskundgebung für den 24. März gestaltet wurde, so die Zentralvorstandssitzung vom 5. Januar zu einer solchen für den 21. Dezember. In dieser Sitzung wurde eine Resolution vorgelegt, die die Zustimmung zur „Erklärung" der Dezember-Männer aussprach und angenommen wurde – vgl. „Vorwärts" vom 6. Januar. Liebknecht beantragte erstlich, nicht die – äußerst bedenkliche „Erklärung" zu billigen, sondern die Abstimmung, die Ablehnung der Kriegskredite und weiter folgende Einfügung:

Der Zentralvorstand fordert die Fraktionsminderheit auf, von nun an den parlamentarischen Burgfrieden rücksichtslos zu zerstören und im Reichstag den sozialistischen Kampf gegen den Krieg, die Regierung und die herrschende Gesellschaftsordnung bei jeder Gelegenheit unablässig und mit aller Schärfe zu führen."

Nachdem Ledebour gegen diese Anträge polemisiert hatte, wurde Debatteschluss gemacht, ohne dass der Antragsteller Gelegenheit zu ihrer Begründung gehabt hätte. Erregt wurde die Zurücknahme der Anträge gefordert, weil sie die Einheitlichkeit des Eindrucks stören und die Kundgebung schwächen müssten, und weil zudem der zweite Antrag – wegen der Zensurbedenken nicht abgedruckt werden könne! Die natürlich aufrecht erhaltenen Anträge wurden abgelehnt; der erste mit einigen 40 gegen 10, der zweite mit einigen 30 gegen 21 Stimmen. Die drei Monate später am 31. März angenommene Resolution bringt einen Absatz, der dem am 5. Januar abgelehnten zweiten Antrag ähnelt und – aus Zensurrücksichten nicht abgedruckt werden konnte. So hinkt der Zentralvorstand hinter der Entwicklung her, statt ihr voranzueilen und die Wege zu weisen.

Aus der Berliner Presskommission

In der Sitzung der Berliner Presskommission vom 6. April wurde über den ungeheuerlichen Staatsstreich verhandelt, den der Parteivorstand im Bunde mit der Geschäftsleitung des „Vorwärts" und unter dem Segen des Parteiausschusses gegen die Redaktion des „Vorwärts" und zugleich die Presskommission unternommen hatte, indem er sich zum Herrn über das Geschäftspersonal und den technischen Geschäftsapparat aufwarf und seine Zensurdespotie etablierte.

Von den Anhängern der offiziellen Berliner Opposition wurde folgende Resolution vorgeschlagen:

Die Presskommission erklärt: Die Redaktion des ,Vorwärts' unterliegt keinen anderen als den durch das Organisationsstatut der Partei festgesetzten Beschränkungen. Danach wird die prinzipielle und taktische Haltung des Zentralorgans von der Presskommission kontrolliert. Presskommission und Parteivorstand entscheiden nur gemeinsam über alle Angelegenheiten des Zentralorgans.

Wenn der Parteivorstand, wie geschehen, eigenmächtig in die Redaktionsführung eingreift, indem er die Geschäftsleitung oder das Druckereipersonal veranlasst, gegen den Willen der Redaktion den Text des Blattes zu verändern, so muss das als Verletzung der Rechte der Redaktion und der Presskommission und als Bruch des Organisationsstatuts entschieden zurückgewiesen werden.

Die Presskommission erklärt es ferner für eine Selbstverständlichkeit, dass der Geschäftsführer der ,Vorwärts'-Druckerei, Genosse Fischer, keinerlei Befugnis hat, sich in die Redaktionsführung zu mischen.

Die Redaktion wird aufgefordert, sich allen mit dem Organisationsstatut in Widerspruch stehenden Eingriffen in ihre Rechte zu widersetzen." Diese Resolution fand Annahme.

Genossin Luxemburg hatte prinzipielle Stellungnahme gefordert und folgende Resolution vorgelegt:

Die Presskommission erblickt in den Eingriffen des Parteivorstandes und des Geschäftsführers Fischer in die Redaktionsführung des ,Vorwärts' einen Gewaltstreich, der allen demokratischen Grundlagen der Sozialdemokratie ins Gesicht schlägt und namentlich seitens des Geschäftsführers Fischer eine unerhörte Anmaßung darstellt. Die Presskommission erblickt in diesem Vorgehen einen Versuch des Parteivorstandes, das Zentralorgan der Partei zum Werkzeug der Politik der Fraktionsmehrheit zu machen, einer Politik, die im schroffsten Widerspruch steht zu den Parteigrundsätzen, Parteitraditionen und den internationalen Pflichten der Sozialdemokratie und die zur tiefsten Zerrüttung der Partei wie zur Untergrabung der Parteieinheit führen muss. Insbesondere bedeutet das Vorgehen des Parteivorstandes einen skandalösen Eingriff in die Rechte der Berliner Parteigenossenschaft. Der ,Vorwärts' ist nicht bloß Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie, sondern auch Organ der Berliner Genossen. Nach der ausdrücklichen Stellungnahme des Großberliner Zentralvorstandes vom 31. März bedeutet der Versuch des Parteivorstandes, die Redaktionsführung des ,Vorwärts' durch gewaltsame Maßnahmen im Sinne seiner Politik zu beeinflussen, eine unqualifizierbare Herausforderung der Berliner Parteigenossenschaft. Die Presskommission weist die Gewaltpolitik des Parteivorstandes mit Entrüstung zurück und spricht die Überzeugung aus, dass, falls der Parteivorstand von seinen Methoden nicht Abstand nimmt und, den demokratischen Grundsätzen folgend, der Redaktion des ,Vorwärts' die unentbehrliche Freiheit der Redaktionsführung nicht einräumt, die Berliner Parteigenossenschaft mit aller Energie ihr Organ von diesem Druck unabhängig zu machen wissen wird, damit es im Sinne der Berliner Genossen und im Geiste der sozialdemokratischen Grundsätze geführt werden kann."

Diese Resolution wurde gegen vier Stimmen abgelehnt.

Nachschrift:

Die am 6. April von der Presskommission abgelehnte Resolution der Genossin Luxemburg wurde am 14. April vom Großberliner Zentralvorstand angenommen, nachdem sich der Konflikt zwischen „Vorwärts" und Parteivorstand weiter zugespitzt hatte!

Die Differenzen in der Opposition5

Die Genossen Hoffmann und Ledebour polemisieren in einem Rundschreiben gegen unseren vorletzten Brief, den sie eigenwillig in die Zeit nach dem 24. März verlegen. Ihre Ausführungen, die an unwichtigen Einzelheiten haften, sind durchweg verfehlt. Da wir es vorziehen, die großen sachlichen Probleme der jetzigen Lage und die großen sachlichen Gegensätze in der Opposition zu behandeln, so begnügen wir uns, noch einmal festzustellen:

Wir haben nie behauptet, dass von den Berliner Zusammenkünften ohne Zuziehung der „Spartakusleute" Beschlüsse gefasst worden seien, die man den „Spartakusleuten" habe aufzwingen wollen.

Über unsere prinzipiellen und taktischen Anschauungen bestand bei diesen Zusammenkünften so wenig Zweifel, dass es immer erneut zu Auseinandersetzungen darüber kam.

Nie haben wir die Freiheit aufgegeben, uns nach freiem Ermessen mit engeren Gesinnungsfreunden zu treffen und zu verständigen.

Eindeutig haben wir unseren Entschluss mitgeteilt, auch vor der Internationale und speziell bei der Schweizer Konferenz vom Februar 1916 unsere Anschauungen durch Delegierte und schriftlich zu vertreten. Am Schluss der entscheidenden Besprechung wurde von ihrem Leiter ausdrücklich bemerkt, dass die Ausführung dieses Entschlusses unsere Sache sei. Der im Rundschreiben erwähnte Delegierte wurde gegen unseren Vorschlag gewählt.

Unsere Kritik der offiziellen Berliner Opposition und der Arbeitsgemeinschaft dient nicht dazu, die einen zu „diskreditieren" oder die anderen zu „lähmen", sondern dazu, beide voranzutreiben, die Gesamtbewegung zu klären und zu kräftigen. Kritik, und wäre es die schärfste, als „Diskreditierung" zu verschreien, sich durch Kritik, und wäre es die rücksichtsloseste, lähmen zu lassen, ist oder wäre in der Tat ein solches Zeichen innerer Schwäche, dass gerade damit die schroffste Kritik dreifach gerechtfertigt würde.

1 Siehe „Nüchterne Prüfung …“ im Politischen Brief Nr. 16

2 In der Quelle irrtümlich: 6. März 1916.

3 Am 27. Juni 1913 (in der Quelle irrtümlich: 1914) wurden in Erfurt sieben Reservisten von einem Kriegsgericht zu hohen Zuchthaus- beziehungsweise Gefängnisstrafen verurteilt, da sie am 16. April 1913, nach einer sogenannten Kontrollversammlung der Reservisten, „unter Alkoholeinfluss randaliert" hatten. Der Reichstag, der gerade die Wehrvorlagen in dritter Lesung behandelte, nahm am 30. Juni 1913 unter dem Eindruck dieses skandalösen Urteils ein Notgesetz an, wonach einige Paragraphen des Militärstrafgesetzbuches gemildert wurden.

4 Der Grundgedanke des „Kapitalabfindungsgesetzes" war, dass den Kriegsversehrten und Kriegerwitwen nach bestimmten Richtlinien ein Stück Land zur Ansiedlung beziehungsweise eine Heimstätte für die Ausübung eines Handwerks vom Staat zur Verfügung gestellt werden sollte. Dies war als einmalige Abfindung für einen Teil der Rente gedacht.

5 Siehe Politische Briefe Nr. 15, Die Gegensätze in der „Opposition".

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