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Politischer Brief Nr. 19 19160422

Nr. 19 vom 22. April 1916

[nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 153-164]

POLITISCHE BRIEFE

22. April 1916

W. G.!

Wir bitten Sie, zu Ihrer persönlichen Information von folgenden Mitteilungen Kenntnis zu nehmen.

Mit Parteigruß

Spartacus

KAMPF UM DIE PARTEI!

Die deutsche Partei ist in Revolution. Die Ereignisse überstürzen sich.

Am 24. März maßregelte die Mehrheit der Reichstagsfraktion unter grobem Verstoß gegen das Organisationsstatut die 18 um Haase aus der Fraktion. Am 25. März drückte die Mehrheit des Parteivorstandes unter grobem Verstoß gegen das Organisationsstatut den Genossen Haase aus dem Parteivorstand. Am 27. März fällte der Parteiausschuss, unter grobem Missbrauch seiner Stellung, sein Verdammungsurteil gegen die Arbeitsgemeinschaft und gab dem Parteivorstand Blankovollmacht und -auftrag, gegen die Genossen der entschiedenen Opposition vorzugehen. Schlag auf Schlag folgte die Etablierung der Parteivorstands-Zensur gegen oppositionelle Pressorgane und der unerhörte Eingriff gegen die „ Vorwärts "-Redaktion1, ein Eingriff, dessen rücksichtslose Planmäßigkeit sich in der Tatsache offenbart, dass der Parteivorstand, trotz einmütiger Missbilligung durch die Berliner Presskommission, pfeifend auf die klarsten Bestimmungen des Organisationsstatuts, die Knebelung der „Vorwärts"-Redaktion bis zum heutigen Tage unbekümmert aufrechterhält.

Seit unserm Brief vom 30. März hat er sich zu zwei neuen Staatsstreichen erdreistet.

Am 31. März kündigte er über den Kopf der zuständigen Parteiinstanzen der Kreise Duisburg-Mörs den Genossen Minster und Schoch, Redakteuren der „Niederrheinischen Arbeiterzeitung" in Duisburg. Am 3. April wurden die beiden Redakteure von Otto Braun, als delegiertem Hausknecht des Parteivorstands, persönlich sofort aus der Redaktion aufs Pflaster geworfen und durch den parteivorstands- und regierungsfrommen Pokorny ersetzt. All dies „wegen Missbrauch des Blattes und wegen Schädigung der Partei", die darin bestanden, dass die beiden Genossen – das Blatt im Sinne der entschiedenen Opposition geleitet hatten. Trotz aller Proteste der Duisburger Parteigenossen und Funktionäre, des engeren und weiteren Kreisvorstandes und der Bezirksleitung Niederrhein hat der Parteivorstand auch diesen Handstreich bis zum heutigen Tage nicht rückgängig gemacht.

Am 15. April beschloss der Parteivorstand, einen zur entschiedenen Opposition gehörenden „Vorwärts"-Redakteur2 zu entlassen, weil er an dem Flugblatt „Die Lehre des 24. März" mitgewirkt hatte, das im gleichen Geiste wie unser Brief vom 30. März den Kampf zur Rückeroberung der Partei für den internationalen Sozialismus aufnimmt und die Organisationen auffordert, dem Parteivorstand die Beiträge zu sperren. Die telegraphisch zusammenberufene Presskommission des „Vorwärts" lehnte diesen Schlag gegen den sozialistischen Geist in der Partei und gegen die Meinungsfreiheit, diese parteioffizielle Ergänzung des Belagerungszustandes, das traurige Ansinnen, die außerredaktionelle Tätigkeit des Inkulpaten3 zur Maßregelung zu benutzen, einstimmig ab. Die Schnapphähne des Parteivorstandes, die bereits angekündigt hatten, dass sie ihren Beschluss auf alle Fälle durchführen würden, begnügten sich nicht mit der moralischen Stäupung durch die Presskommission. Sie appellierten an die Kontrollkommission und ließen sie telegraphisch zum Abend des Karfreitag einberufen. Sie taten dies, nachdem der dem Parteivorstand nahestehende geschäftsführende Ausschuss des Großberliner Zentralvorstandes es wegen der Feiertagszeit abgelehnt hatte, den in seiner Mehrheit auf dem Boden der Opposition stehenden Zentralvorstand – wie die Presskommission verlangte – zur Stellungnahme in dem Konflikt auf den Gründonnerstag einzuberufen, und obwohl der „Beschuldigte" an der Sitzung der Kontrollkommission nicht teilnehmen konnte: zum Parteihochverrat wurde eine Illoyalität gröbsten Kalibers gehäuft, eine Übertrumpfung selbst der hässlichsten Machenschaften, deren man sich bei einer beschränkten und bösartigen Bürokratie des Klassenstaats zu versehen hat. Nur gegen den erbitterten Widerstand des Parteivorstandes konnte in stundenlangem Kampf die Vertagung der Karfreitagssitzung erzwungen werden!

In der Tat geht's aufs Ganze. Die Rücksichtslosigkeit des Parteivorstandes kennt keine Grenze; nur dreifache Rücksichtslosigkeit kann dagegen aufkommen. Jetzt in der Defensive bleiben heißt kapitulieren. Nur die entschlossene Offensive kann helfen. Sperrung der Beiträge bleibt das wirksamste Mittel, um die Scheidemann-Ebert unschädlich zu machen.

Wenn der Parteivorstand gegen diese Parole in schäumender Wut losschlägt, so beweist das nur, dass sie ins Schwarze trifft, dass sie ein taktischer Schachzug ist, der die Machtposition des Parteivorstandes im Kern bedroht. Und die beiden neuen Akte des Terrorismus beweisen nur aufs Neue und so schlagend wie möglich, dass der Parteivorstand zu allem fähig ist, dass die stärksten Notwehrakte geboten sind, dass die Beitragssperre als das radikalste Mittel die einzige Sicherung des Sieges bietet.

Die Duisburger Funktionäre haben sie als treffende Antwort auf den Schlag gegen ihre Redakteure einstimmig beschlossen. Auch an anderen Orten ist sie von den Organisationen aufgenommen worden. Sie wird und muss sich durchsetzen und wie ein fliegendes Feuer über die ganze Partei verbreiten. Alle böswilligen Missdeutungen, alle ängstlichen und missverständlichen Berufungen auf das Organisationsstatut werden das nicht hindern. Berufungen auf das Organisationsstatut – im Kampf gegen einen Parteivorstand, der Programm und Organisationsstatut seit Jahr und Tag mit Füßen tritt! Gegenüber einem Parteivorstand, der stündlich beweist, dass er sich wahrlich nicht durch die Zwirnsfäden der schönsten Paragraphen von seinen Gewaltakten abhalten lässt!

Es gibt gute Seelen und schlechte Musikanten, die auch jetzt noch meinen: durch vorsichtiges Verharren auf dem formalen Rechtsstandpunkt werde der Parteivorstand matt gesetzt werden. Als ob nicht bereits der Stuttgarter Fall das Gegenteil bewiese! Der Parteivorstand hat sich auf den Boden der Gewalt gestellt, auf diesem Boden muss er bekämpft werden. Die ehrlichste Berufung auf die Buchstaben des Organisationsstatuts, das reinste Paragraphengewissen, wird diese Staatsstreichpolitiker nicht rühren. Nur durch die Entfaltung und Einsetzung der größten Macht kann ihnen ein Paroli geboten werden. Als Machtkampf, nicht als Formalprozess muss dieser Entscheidungskampf durchgefochten werden. Speer gegen Speer, Macht gegen Macht. Dasjenige Mittel ist das richtige, das die stärkste Macht gewährt. Und wer kann zweifeln, dass die stärkste Macht der Opposition entfaltet wird, wenn die dem Sozialismus treu gebliebenen oder ihm mit Aufbietung aller agitatorischen Kraft wiedergewonnenen Organisationen ihre Mittel für sich selbst, für ihren Kampf gegen Krieg und Imperialismus und alle seine Helfershelfer einschließlich der verräterischen Parteiinstanzen in den Händen behalten und aufwenden? Wer kann daran zweifeln, dass diese Instanzen durch Entziehung der Geldmittel am energischsten geschwächt werden? Wer kann zweifeln, dass der Parteivorstand, wenn ihm die Parteiorganisationen in größerer Zahl, in breiter Front so gerüstet entgegentreten, matt gesetzt ist? Nur auf die entschlossene Ausführung der Tat kommt es an; wer sich ihr widersetzt, lädt die Mitverantwortung für einen Sieg des Parteivorstandes auf sich, für die Parteizerrüttung, für die weitere Auslieferung der Partei an die Regierung, für die Hemmung des Kampfes gegen den Krieg. Nur Unentschlossenheit der Opposition kann den Erfolg dieser Taktik in Frage stellen.

Und wahrhaftig: was sollen engherzige Buchstabenbedenken, was soll kleinliche Paragraphen-Rechnungsträgerei in einem Augenblick von so entscheidender geschichtlicher Bedeutung für die Partei. Wie uns die großen Grundsätze des Sozialismus heiliger sind als Beschlüsse der Fraktionsmehrheit, so ist uns der Geist des Organisationsstatuts, das organisatorische Wesen der Partei, das Demokratie heißt, heiliger als einzelne Buchstaben des Organisationsstatuts, die spitzfindig gegen das innerste Wesen der Partei missbraucht werden.

Aber es kommt auch kein formeller Verstoß gegen das Parteistatut in Frage. Nicht um Verweigerung der Beiträge durch die einzelnen Mitglieder handelt es sich. Im Gegenteil. Wir fordern eifrigste Werbung und Schulung neuer Mitglieder für die Partei, damit sie unsern Kampf führen helfen. Es handelt sich um die Sperrung der den Organisationen zugeflossenen Parteigelder gegenüber den parteiverräterischen Instanzen. Nicht der Partei sollen diese Mittel entzogen werden, sondern diesen Instanzen, die die Mittel der Partei systematisch und pflichtvergessen gegen die Partei verwenden und der Partei, dem sozialistischen Kampf rauben. Die Beiträge sollen der Partei nicht vorenthalten, sondern zugeführt und ihren großen Aufgaben gesichert werden, indem sie den parteizerrüttenden und programmverhöhnenden Funktionären, den Usurpatoren ihrer Ämter und Mandate, vorenthalten werden. Das organisatorische Wesen der Partei, die Demokratie in der Partei, soll nicht vernichtet, sondern verwirklicht werden, indem von unten auf und von innen heraus der Wille der parteigenössischen Massen, indem die Verwendung der Parteigelder im Sinne unserer Grundsätze durchgeführt wird.

Unsere Parole steht mit dem Organisationsstatut so wenig im Widerspruch, dass sie von ihm, von seinem Geiste vielmehr geradewegs zur Pflicht gemacht wird. Nicht wir verstoßen gegen das Organisationsstatut, sondern der Parteivorstand, der nicht nur die heiligsten Grundsätze und das organisatorische Wesen der Partei schnöde verleugnet, sondern auch im Bunde mit Fraktionsmehrheit und Parteiausschuss jede klare Einzelbestimmung des Organisationsstatuts, die im Wege steht, unbedenklich durchbricht.

Es bleibt dabei: die Alternative heißt Parteirettung oder Parteizerstörung. Die Notwehr zwingt uns im Kampf um die Partei zur Anwendung der schärfsten Mittel, die allein den Sieg des sozialistischen Geistes in der Partei sichern.

Es bleibt dabei: alle unsere Kräfte für die Partei, für den Sozialismus. Aber diesem Parteisystem, diesen verräterischen Parteiinstanzen keinen Mann und keinen Groschen, sondern Kampf aufs Messer.

Und wer dabei nicht für uns ist, der ist wider uns.

AUS DEM ELENDESTEN DER PARLAMENTE

Am 8. April spielte sich im Deutschen Reichstag eine Szene ab, über die in der deutschen Presse nur ein vom Reichstagspräsidenten auf Kommando der Regierung zurechtgefälschter Bericht erschien, während die Zensur unter grobem Verfassungsbruch die Veröffentlichung wahrheitsgetreuer Berichte und selbst des amtlichen Stenogramms brutal verhinderte. Diese zitternde Angst vor der Wahrheit erklärt sich aus dem Gegenstand, bei dessen Verhandlung der Konflikt eintrat. Es handelte sich um die Kriegsanleihe, um den gemeingefährlichen Humbug der neuen Assignatenwirtschaft, um Herrn Helfferich, den Vertreter der Deutschen Bank in der Reichsregierung, den Apostel des Finanzkapitals im Kriege des Imperialismus. Es handelte sich um den empfindlichsten Punkt der wirtschaftlichen Machtposition Deutschlands, um den Schwindel von der „Volksanleihe", von der Beteiligung der kleinen Sparer an den Anleihen, die einen Beweis für die kriegsfreundliche Stimmung der Masse des deutschen Volkes bilden soll. Schon als Helfferich am 24. März diesen Schwindel auftischte, kam es zu einem ungemein heftigen Zusammenstoß zwischen einigen Mitgliedern der äußersten Linken und Herrn Helfferich und zu dem Anfang von Tätlichkeiten des Abgeordneten Müller-Meiningen gegen Liebknecht. Auch damals griff der Präsident als Kommis der Regierung und der beteiligten Interessentenkreise – in die Berichterstattung ein: er veranlasste, dass auf einer sofort zusammentretenden Konferenz der Pressevertreter im Reichstage beschlossen wurde, diesen Vorgang gänzlich zu verschweigen; auch aus dem stenographischen Bericht vom 24. März ist er fortretuschiert.

Das amtliche Stenogramm über die Szene vom 8. April (beim Etat des Reichsschatzamts) ist – auch in der Wiedergabe der Worte des Redners – sehr unvollständig und in dem, was es bringt, wenig zuverlässig. Immerhin gibt es, in Verbindung mit dem Schreiben Liebknechts an den Präsidenten, ein ungefähres Bild der Wirklichkeit.

Wir lassen beide Dokumente folgen.

Das amtliche Stenogramm vom 8. April 1916

Dr. Liebknecht, Abgeordneter: Meine Herren, die Hauptleistung des Herrn Staatssekretärs, dessen Gehalt hier zur Debatte und Entscheidung steht, war im vergangenen Jahre ja wohl die Tätigkeit für die Kriegsanleihen. Es wird meine Aufgabe sein, diese Tätigkeit einer kritischen Betrachtung zu unterwerfen. (Lachen.) Meine Herren, die neue Anleihe hat zwar 1400 Millionen Mark weniger ergeben als die vorangegangene, aber immerhin rund 10,7 Milliarden. (Lebhafte Rufe: „Bravo!")

Meine Herren, wie ist dieser Erfolg zu erklären und zu bewerten? Welche Methoden sind angewendet worden, um diesen Erfolg zu erzielen? Meine Herren, im vergangenen Herbst hat das Reichsschatzamt einige Propagandaschriften herausgegeben, die die Methoden, nach denen die englische Regierung ihre Kriegsmittel aufgebracht hat, in ein ungünstiges Licht stellen sollen. Meine Herren, wer diese Schriften kritisch durchlas, sah sofort, dass die vom Reichsschatzamt, von den Verfassern der Propagandaschriften, der englischen Regierung zum Vorwurf gemachten Methoden neben anderen keineswegs erfreulicheren tatsächlich fast sämtlich im stärkstem Maße von der deutschen Regierung angewendet worden sind – was natürlich in der Presse und sonst in der Öffentlichkeit nicht gesagt werden darf! (Erregte Zurufe.)

Man hat in Bezug auf die Anleihen von Inzucht des deutschen Kapitals gesprochen. Und die deutschen Kriegsanleihen sind wegen der Einführung der Möglichkeit, früher erworbene Kriegsanleihe zu beleihen, um mit dem Entliehenen neue Anleihe zeichnen zu können, nicht übel als perpetuum mobile bezeichnet worden. Sie gleicht auch in gewissem Sinne einem Karussell. Dieselben Mittel drehen sich fortgesetzt im Kreise. Es handelt sich zu einem guten Teil auch nur um eine Zentralisierung der öffentlichen Mittel der Reichskasse – (Glocke des Präsidenten. Große Unruhe auf allen Seiten. Erregte Zurufe: „Müssen wir uns das gefallen lassen, Herr Präsident!" – „Landesverrat!" – „Das ist unerhört!" – Anhaltendes Läuten der Glocke.)

Ich habe das Recht, hier Kritik zu üben! Die Wahrheit muss gesagt werden! Sie wollen mich daran hindern! (Andauernde erregte Zurufe. Andauerndes Läuten der Glocke.)

Präsident: Meine Herren, ich bitte, die Zwischenrufe auch hier zu unterlassen. Ich kann allerdings nur meinem Bedauern darüber Ausdruck geben, dass ein Deutscher von dieser Tribüne Äußerungen gemacht hat, wie dies seitens des Abgeordneten Dr. Liebknecht geschehen ist. (Lebhafte Zustimmung. Erregte Zurufe: „Das ist kein Deutscher!")

Dr. Liebknecht, Abgeordneter: Und Sie sind Vertreter der kapitalistischen Interessen! Ich bin Sozialdemokrat – Vertreter des internationalen Proletariats. (Stürmische Rufe: „Irrenhaus!" „Unsinn!" – Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Meine Herren, ich muss – (Andauernde große Erregung. Andauerndes Läuten der Glocke.)

Dr. Liebknecht, Abgeordneter: Ihre Zurufe sind eine Ehre für mich! Das ist – (Fortwährende Unterbrechungen. Erregte Zurufe. Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Meine Herren, das geht doch nicht so! Ich bitte um Ruhe! (Zuruf: „Herr Präsident, Sie müssen uns hier Recht schaffen! Der muss runter, das dulden wir nicht!")

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (versucht weiter zu sprechen). (Andauernde erregte Zurufe. Andauerndes Läuten der Glocke. Stürmische Rufe. Andauerndes Läuten der Glocke.)

Präsident: Ich muss Sie bitten, meine Herren, die Ruhe zu bewahren. Sie können sich darauf verlassen, dass ich die Ordnung aufrechterhalten werde, (erregte Zurufe) auch die Ordnung gegenüber dem Herrn Abgeordneten Dr. Liebknecht. (Andauernder Lärm. Zuruf: „Ich bitte ums Wort zur Geschäftsordnung!") – Ich kann jetzt das Wort zur Geschäftsordnung nicht geben; ich muss hier nach der Geschäftsordnung verfahren! (Andauernde erregte Rufe: „Nein! Nein! Er darf nicht reden!")

Dr. Liebknecht, Abgeordneter: Meine Herren, es ist gestern in der Presse eine Zusammenstellung erschienen – (Stürmische Rufe: „Schluss! Schluss!") Haben Sie soviel zu verbergen? Die Wahrheit muss gesagt werden! Es ist gestern eine Zusammenstellung erschienen über „die vierte Kriegsanleihe" – (Anhaltende große Unruhe und heftige Schlussrufe. Ein Abgeordneter entreißt dem Redner seine schriftlichen Aufzeichnungen und wirft sie zu Boden. Andauerndes stürmisches Beifallklatschen im Hause und auf den Tribünen. Immer erneute Zurufe: „Bravo!" – Abgeordneter Dr. Liebknecht verlässt die Rednertribüne, kehrt alsdann wieder zurück.)

Präsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, Sie hatten die Tribüne verlassen. (Abgeordneter Dr. Liebknecht: „Nein!")

Dr. Liebknecht, Abgeordneter: Herr Präsident, das ist doch geradezu eine schnöde Vergewaltigung! Ich habe mich nicht entfernt! Meine Papiere, die mir von einem Mitgliede des Reichstags hier im Hause heruntergerissen worden sind – (Andauernde erregte Zurufe: „Nein, er soll nicht reden!") – habe ich aufgehoben, Herr Präsident! Haben Sie denn nicht gesehen, dass mir die Papiere weggerissen wurden? Ich bin noch auf der Tribüne! (Andauernde stürmische Rufe: „Schluss! Schluss!" – Glocke des Präsidenten.)

Herr Präsident, das ist infam von Ihnen! Können Sie das vor Ihrem Gewissen verantworten? (Stürmische Erregung. Zurufe: „Runter mit ihm!")

Präsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich rufe Sie zunächst zur Ordnung und dann schließe ich Sie auch von der Sitzung aus wegen gröblicher Verletzung der Ordnung des Hauses! (Anhaltender stürmischer Beifall. Abgeordneter Dr. Liebknecht will weitersprechen, ruft wiederholt: „Das ist eine Infamie!" – Fortgesetztes Läuten der Glocke. Nachhaltige Erregung im ganzen Hause.)

Es liegen weiter keine Wortmeldungen vor; die Debatte ist geschlossen. (Abgeordneter Dittmann: „Ich bezweifle die Beschlussfähigkeit des Hauses!") – Die Beschlussfähigkeit des Hauses ist angezweifelt worden. Das Büro ist darüber einig, dass das Haus nicht beschlussfähig ist. Die Verhandlung ist daher abzubrechen.

Das Schreiben an den Präsidenten

Berlin, 9. April 1916

Herr Präsident!

Ich besprach in der gestrigen Sitzung beim Etat des Reichsschatzsekretärs das Ergebnis der jüngsten Anleihe, die Mittel, durch die es erzielt ist und seine Bedeutung. Als ich den materiellen Wert des Anleiheergebnisses und die Behauptung, dass eine „wahre Volksanleihe" vorliege, kritisch untersuchen wollte, wurde ich aus dem Hause, das schon vorher wachsende Unruhe zeigte, unausgesetzt stürmisch unterbrochen, und zwar zu dem ausgesprochenen Zweck, mich am Vortrag meiner kritischen Bemerkungen zu hindern. Dies geschah, obwohl der Herr Präsident keine Handhabe fand, gegen mich einzuschreiten. Der Herr Abgeordnete Junck rief mit anderen Abgeordneten, „das Vaterland geht über die Geschäftsordnung". Der Herr Präsident wusste mir kein Gehör zu verschaffen. Ein Abgeordneter entriss mir meine Papiere und warf sie zu Boden. Weder dagegen, noch gegen andere Angriffe auf mich schritt der Herr Präsident ein. Ich trat einige Schritte links neben das Rednerpult – noch auf der Tribüne –, um einige der herumgeworfenen Zettel aufzuheben, und stellte mich sofort wieder an das Pult.

Der Herr Präsident erklärte nunmehr, ich hätte das Wort nicht mehr, da ich die Tribüne verlassen gehabt hätte. Ich stellte sofort klar, dass ich nur einige der mir gewaltsam entrissenen Zettel aufgehoben hatte und noch am Reden sei. Trotz der evidenten Sachlage beharrte der Herr Präsident, ohne gegen die mich angreifenden Mitglieder des Hauses einzuschreiten, auf seinem in keiner Weise zu rechtfertigenden Standpunkt und schloss mich, da ich mich scharf gegen dieses Verfahren wehrte, aus der Sitzung aus. Gegen die weiteren Tätlichkeiten, die nunmehr einige Abgeordnete gegen mich unternahmen, griff der Herr Präsident wiederum nicht ein.

Der Herr Präsident hat nach all dem noch die Presse veranlasst, über den Inhalt meiner Rede völlig zu schweigen und über die gesamten geschilderten Vorgänge eine irreführende, ganz unvollständige und falsche Darstellung zu geben.

Die Zensurbehörde wendet alle Mittel an, um die Presse zur Wiedergabe dieses irreführenden Berichts zu veranlassen und am Abdruck eines genauen Berichts, selbst des amtlichen Stenogramms, zu hindern.

Ich halte es für geboten, alles dies hier festzustellen.

Ergebenst gez.

K. Liebknecht

Dass ich gegen die Fassung des stenographischen Berichts über die Sitzung vom 8. d. Mts. ernste Einwendungen zu erheben habe – z. B. hatten Sie nicht nur gesagt: „Herr Abgeordneter Liebknecht, Sie hatten die Tribüne verlassen", sondern weiter ganz deutlich: „Sie haben das Wort nicht mehr!"; von den tätlichen Angriffen gegen mich ist kein Wort gesagt; usw. usw. – möchte ich nachträglich noch ausdrücklich hinzufügen.

Berlin, den 11. April 1916

gez. Karl Liebknecht

Parlamentarische Kirchhofsruhe

Der Deutsche Reichstag hat der Militärdiktatur als gefälliges Mädchen zu dienen. Jede Opposition gegen den Krieg, jede ernsthafte Äußerung des Klassenkampfes wird erdrosselt: durch Schlussanträge, durch Wortentziehung, durch Verweigerung des Worts auch nur zur Geschäftsordnung, durch Etablierung einer geschäftsordnungswidrigen politischen Zensur des Präsidenten: „Das Vaterland geht über die Geschäftsordnung!" Gegenüber der von Liebknecht nach § 59 der Geschäftsordnung überreichten schriftlichen Abstimmungsbegründung zu seiner Kreditverweigerung vom 2. Dezember 1914 wurde sie zuerst geübt – der Präsident lehnte die Aufnahme dieser Begründung, wie übrigens auch der in unserm Brief vom 13. d. Mts. erwähnten Begründungen vom 6. und 10. April 1916, unzulässigerweise ab.

Bei den Anfragen wurde die politische Präsidialzensur unter Zustimmung der Mehrheit des Seniorenkonvents und allerdings auch unter Förderung durch die jetzigen Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft ganz förmlich eingeführt. Sie ist inzwischen auch gegen eine Anfrage aus den Reihen der Arbeitsgemeinschaft angewandt. Und wie es scheint auch gegen die durch die Vorgänge vom 8. April veranlassten Geschäftsordnungsanträge der Arbeitsgemeinschaft, deren Druck der Präsident vorläufig verweigert. Bereits bei Erörterung der Anfragen – im Dezember und Januar – wurde der Präsident von der Mehrheit des Seniorenkonvents aufgefordert, mit allen Mitteln zu verhindern, dass diese Geschäftsordnungsbrüche im Plenum, sei es auch nur in einer Geschäftsordnungsdebatte, öffentlich zur Sprache gebracht werden. Der Präsident hat das prompt ausgeführt; auch die jetzige Behandlung jener Geschäftsordnungsanträge verfolgt den gleichen Zweck. Bisher hat die Arbeitsgemeinschaft gegen diese Erhebung der politischen Willkür zum Grundsatz der präsidialen Geschäftsführung, gegen die Verwüstung der Grundlagen der Geschäftsordnung durch den Präsidenten und den Seniorenkonvent nichts unternommen. Der 8. April hat sie aufgeschüttelt, aber bei ihrem Vorstoß gegen die Wolfsgruben des 8. April sind sie vorläufig nur in den Drahtverhau der politischen Präsidialzensur geraten. Der Kampf dagegen muss aufgenommen werden, der Generalkampf für die politische Meinungsfreiheit im Reichstage. Auch im Kampf gegen parlamentarische Vergewaltigung gibt es nur ein Entweder-Oder.

Keine Zwischenrufe mehr!

Zwischenrufe sind eine schmerzhafte Geißel, sind eine Waffe unterdrückter parlamentarischer Minderheiten. Als sie im preußischen Abgeordnetenhause vor einigen Jahren allzu gefährlich wurden, erging die Anordnung, sie nicht mehr ins amtliche Stenogramm aufzunehmen, eine Anordnung, die freilich bald wieder aufgegeben werden musste, da sich ihre Wirkungslosigkeit herausstellte. Jetzt ist eine gleiche Anordnung im Reichstag getroffen, der damit auch hier unter das Niveau des Dreiklassenparlaments herunter gesunken ist. Bereits im Bericht über die Sitzung vom 10. Februar ist sie zur Durchführung gelangt. Die Zwischenrufe sind nicht mehr oder nur noch als „Zurufe" ohne Angabe des Wortlauts erwähnt. Viel Glück zur immer weiteren Zerstörung des Trugbildes von einem Parlament, das sich Deutscher Reichstag nennt. Wir sind's zufrieden.

1 Im April 1916 versuchte der Vorstand der SPD, den von Zentristen beherrschten „Vorwärts" seiner Burgfriedenspolitik nutzbar zu machen. Zu diesem Zwecke ließ er ihn seit dem 1. April 1916 durch einen Beauftragten vorzensieren.

2 Gemeint ist Ernst Meyer, der am 14. April 1916 die Berliner Presskommission davon informierte, dass ihm der Vorstand der SPD seine Entlassung mitgeteilt habe. Die Presskommission legte sofort Beschwerde bei der Kontrollkommission ein. Obwohl diese, nachdem Clara Zetkin wegen ihrer Zugehörigkeit zur Stuttgarter Parteiopposition aus ihr ausgeschaltet worden war, das Vorgehen des Vorstandes der SPD mit 2 gegen 2 Stimmen missbilligte, wurde Meyer am 6. Mai 1916 aus der Redaktion des „Vorwärts" entfernt.

3 Beschuldigten

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