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Politischer Brief Nr. 20 19160515

NR. 20 VOM 15. MAI 1916

[nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 165-177]

POLITISCHE BRIEFE

15. Mai 1916

W. G.!

Wir bitten Sie, zu Ihrer persönlichen Information von folgenden Mitteilungen Kenntnis zu nehmen.

Mit Parteigruß

Spartacus

DIE MAIFEIER

Die Anhänger der entschiedenen Opposition waren sich klar, dass diesmal alles daran gesetzt werden müsse, um eine Maifeier zustande zu bringen. Völliges Schweigen, völlige Untätigkeit der Massen am Tage der internationalen Weltfeier der Arbeit wäre eine Schmach gewesen, ein Zeichen, dass die Opposition in Wirklichkeit politisch ebenso wenig existiert und zu bedeuten hat wie die offizielle Partei. Da schickt man Emissäre nach dem Haag, nach der Schweiz, um dort die Internationale wiederherzustellen, und hier in Deutschland, in Berlin, wo es zu zeigen gilt, ob der Gedanke der internationalen Solidarität in den Massen lebt, da sollte kein Finger gerührt werden, um eine Demonstration zustande zu bringen, um gegen den fortgesetzten Völkermord zu protestieren? Kein Genosse, der seine Opposition gegen die offiziellen Parteiinstanzen und ihre leitenden Parteiverderber ernst nimmt, konnte einen Augenblick schwanken, was seine Pflicht war. Ebenso klar war es, dass die Maifeier eine Sache darstellt, die über allen Unterschieden der Oppositionstaktik steht und allen sich zur Opposition zählenden Elementen gemeinsam ist. Wir haben uns auch an die sogen. Ledebour-Gruppe gewandt und sie aufgefordert, mit gemeinsamen Kräften in Berlin eine Maidemonstration zustande zu bringen. Zur Antwort bekamen wir – eine runde Absage. Zum Teil aus kleinlichen Prioritätsrücksichten: es wurde uns als arge Sünde angekreidet, dass das Maiflugblatt bereits geschrieben war, statt froh zu sein, dass wenigstens andere bei der vorgerückten Zeit die allernotwendigsten Vorbereitungen getroffen hatten! Sodann aber und als Hauptgrund der Absage galt das Argument: es fehle jede Stimmung in den Massen, es werde nichts zustande kommen, wir machen uns nur lächerlich.

Es blieb uns nichts übrig, als auf eigene Faust die Maidemonstration vorzubereiten, so gut oder so schlecht wir es konnten: den Vorwurf, das Geringste unterlassen zu haben, was Bewegung in die Massen bringen, was Lebenszeichen der Oppositions- und Kampfesstimmung nach dem Auslande tragen und dort neuen Kampf und Mut anfachen konnte, diesen Vorwurf durften wir vor uns selbst nicht verdienen. Die Agitation wurde mit Handzetteln und Flugblättern intensiv betrieben, und siehe da, am 1. Mai kam eine imposante Demonstration in Berlin zustande! Den üblichen verlogenen Polizeiberichten zum Trotz waren die Angst der Polizei und ihre Vorbereitungen außerordentlich groß. Der Potsdamer Platz und seine Zugänge waren schon um 7 Uhr mit Schutzleuten zu Fuß und zu Pferde überfüllt. Um 8 Uhr pünktlich sammelte sich am Platze eine so dichte Menge demonstrierender Arbeiter, unter denen Jugendliche und Frauen sehr zahlreich vertreten waren, dass die üblichen Scharmützel mit der Polizei alsbald begannen. Die „Blauen" und namentlich ihre Offiziere wurden bald von äußerster Nervosität befallen und fingen an, die Masse mit Fäusten hin und her zu stoßen.

In diesem Moment, an der Spitze der Masse, mitten auf dem Potsdamer Platze, erscholl die laute sonore Stimme Karl Liebknechts: „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!" Sofort bemächtigte sich seiner ein ganzer Knäuel Polizisten, die ihn durch einen Kordon von der Menge trennten und auf die Wache am Potsdamer Bahnhof abführten. Hinter dem Verhafteten erscholl der Ruf: „Hoch Liebknecht!", worauf sich die Polizisten in die Menge stürzten und zu neuen Verhaftungen schritten. Nach der Abführung Karl Liebknechts begann die Polizei, angefeuert durch die Offiziere, die sich am brutalsten benahmen, die Menschenmassen in die Seitenstraßen abzuschieben. So formierten sich drei große Züge von Demonstranten, in der Köthener Straße, in der Linkstraße und in der Königgrätzer Straße, die sich unter fortwährenden Zusammenstößen mit der Polizei langsam vorwärts wälzten. Rufe „Nieder mit dem Kriege!", „Es lebe der Frieden!", „Es lebe die Internationale!" erschallten einmal über das andere und wurden vieltausendstimmig wiederholt. Am lautesten aber wurde immer wieder der Ruf „Hoch Liebknecht!" von den Massen aufgegriffen. Die Kunde von seiner Verhaftung verbreitete sich rasch unter den Demonstranten. Tausende hatten ihn an der Spitze der Demonstration gesehen und seine laute anfeuernde Stimme gehört. Die Erbitterung und der Schmerz um den geliebten Führer, den man in den Fängen der Polizeischergen wusste, erfüllte alle Herzen, war auf aller Lippen. Namentlich Frauen klagten laut weinend und brachen in Verwünschungen gegen die Polizei, gegen den Krieg, gegen die Regierung aus. Bis 10 Uhr dauerte die Demonstration, wobei die Menge immer wieder durch die Seitenstraßen aus den drei Hauptzügen zusammenzuströmen suchte, aber durch die wimmelnden, springenden und drein hauenden Polizisten daran immer wieder verhindert wurde. Abwechselnd mit revolutionären Rufen wurden Lieder laut: die Arbeitermarseillaise, der Sozialistenmarsch. Erst gegen Hll Uhr, stellenweise noch später, verlief sich allmählich die Masse der Demonstranten, die von ausgezeichneter Stimmung beseelt war. Die Anzahl der Demonstrierenden wird nach mäßiger Schätzung auf zehntausend gerechnet.

Welchen Schreck die Demonstration der Regierung eingejagt hatte, beweist der Umstand, dass die ganze Stadtgegend um den Potsdamer Platz noch bis Mitternacht förmlich von berittener Polizei überschwemmt war und in der Wache am Potsdamer Fernbahnhof, wo das Hauptkommando etabliert war, nervöses Hin- und Herrennen der Patrouillen, Instruktionen und Rapporte bis fast ein Uhr nachts kein Ende nahmen.

So muss die Maidemonstration in Berlin als vollauf gelungen bezeichnet werden. Freilich ist sie durch einen ungeheuren Preis erkauft: durch den Verlust Karl Liebknechts, der auf jeden Fall von seinem Posten, wo er unersetzlich ist, für die nächste Zeit entfernt, aus unserer Mitte entrissen ist. Schon wirkt der Deutsche Reichstag wie ein verächtlicher Hundestall, nachdem der einzige Mann fehlt, der mit der ganzen Kraft und Würde den internationalen Sozialismus, grundsätzliche Politik und männliche Charakterfestigkeit vertrat. Aber wie immer hat auch dieses große Opfer den unschätzbaren Wert der moralischen Wirkung. Karl Liebknecht hat gezeigt, dass man an der Spitze der Massen sein ganzes Ich in die Schanze schlägt, um einen Schritt wirklicher revolutionärer Bewegung zu erstreiten.

Er hat gezeigt, wo der Platz des echten Führers der Massen ist, welche Gefahren ihm persönlich auch drohen mögen. Wo waren die anderen „Führer", die sich auch zur „Opposition" zählen? Sie hatten sich von der Maifeier ausgeschaltet, sie lehnten die Mitwirkung an der Demonstration ab, sie lähmten ihre eigenen Anhänger unter den Arbeitern durch schwächliche Bedenken, durch Mangel an Mut und Initiative.

Es hat sich wieder gezeigt, dass sie die Stimmung der Massen unterschätzten und die eigene Indolenz für diejenige der Massen ausgaben. Aber eine große Anzahl von Arbeitern, die hinter der Gruppe Ledebour stehen, hatte brav und treu die Demonstration und die Agitation dafür mitgemacht, von dem richtigen proletarischen Klasseninstinkt geleitet, der die große Sache über die kleinlichen Bedenken der Konventikel stellt. Der schlagende Unterschied im Verhalten Liebknechts und „der anderen" am 1. Mai sowie der ganze ermunternde Verlauf der wohlgelungenen Demonstration wird sicher als heilsame Lehre auf die wohlmeinenden Genossen wirken, die sich immer noch einbilden, es seien bloß persönliche Lappalien oder Rechthabereien, was unsere entschiedene Opposition von der Richtung der Arbeitsgemeinschaft trennt.

In Dresden, Pirna und Jena haben gleichfalls Demonstrationen am 1. Mai stattgefunden. Einzelheiten darüber teilen wir im nächsten Spartakusbrief mit.

In Hanau ist am 1. Mai von der gesamten Mitgliederversammlung der Partei die folgende Resolution angenommen worden:

Die Versammlung bekämpft ganz entschieden die Fraktions- und Parteivorstandspolitik, die in direktem Widerspruch zur Völker Solidarität, Völkerverbrüderung und des Maigedankens steht.

Die Versammelten geloben, zu den alten Grundsätzen treu zusammenzustehen und die alte Fahne des Sozialismus rein zu halten. Um dies herbeizuführen, unterstützen die Hanauer Genossen und Genossinnen die grundsätzliche Politik und Haltung der Genossen Liebknecht und Rühle und bringen ihnen die vollsten Sympathien entgegen.

Auch begrüßen wir das Ausscheiden der jetzigen Arbeitsgemeinschaft aus der alten Fraktion und fordern auch von ihr, dass sie in grundsätzlicher sozialdemokratischer Politik in Zukunft alle Kriegskredite ablehnt."

FINANZSPERRE UND ORGANISATIONSSTATUT

Es handelt sich noch um eine ins Einzelne gehende, gewissermaßen juristische Untersuchung, wie sich die Finanzsperre der Organisationen gegenüber dem Parteivorstand mit dem Organisationsstatut verträgt.

Die Pflichten gegen die Partei sind nach § 1 des Organisationsstatuts: Mitglied der Organisation zu sein und „sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms zu bekennen"; und nach §261 sich keiner ehrlosen Handlung und keines groben Verstoßes gegen die Grundsätze des Parteiprogramms schuldig zu machen; d.h. diese Grundsätze nicht nur zu bekennen, sondern auch zu befolgen. Wer diese Pflichten verletzt, kann nicht zur Partei gehören. (§ 26 Org. St.)

Ferner Pflicht ist, den „Beschlüssen der Parteiorganisation und der Parteitage" nachzukommen; wer durch beharrliches Zuwiderhandeln dagegen das Parteiinteresse schädigt, kann ausgeschlossen werden. (26 a. a. O.) Zu diesen Beschlüssen gehören auch das Organisationsstatut und die Beschlüsse der internationalen Kongresse. Soweit die letzteren programmatische Festlegungen sind, genießen sie den höheren Schutz; wer sie verletzt, „kann" nicht nur „ausgeschlossen werden"; er kann überhaupt nicht zur Partei gehören. Das gilt von den Kongressbeschlüssen über die Stellung zum Kriege.

Was heißt Finanzsperre gegen den Parteivorstand?

Nicht: die von den Einzelorganisationen aufgebrachten Geldmittel der Partei und ihren Zwecken zu entziehen, sondern: sie nicht in die Hände des Parteivorstandes liefern. Und weshalb das? Weil der Parteivorstand sie gegen die Partei, gegen ihre programmatisch und durch Parteitagsbeschlüsse (z. B. Budgetbewilligung) festgelegten Zwecke verwendet. Was geschieht bei Finanzsperre mit diesen dem Parteivorstand vorenthaltenen Geldmitteln? Sie verbleiben in den Händen solcher Organisationen und Funktionäre (Ortsvereine, Kreisvereine usw.), die Gewähr bieten, dass sie die Parteimittel für die Parteizwecke verwenden oder aufbewahren, um sie an die Zentralkasse abzuführen, sobald sie von einem Parteivorstand verwaltet wird, der die pflichtmäßige Verwendung der Geldmittel gewährleistet.

Liegt in dieser Finanzsperre ein Verstoß gegen Programm oder Parteitagsbeschlüsse?

Die Sperre bezweckt den Schutz und die Durchführung des Programms, die Abwehr von dauernden schweren Verstößen gegen das Programm. Dass sie nicht gegen das Programm verstößt, springt in die Augen.

Wie steht es mit dem Organisationsstatut?

Nach § 5 des Statuts sind von den Organisationen mindestens 20 Prozent der erhobenen Mitgliederbeiträge an die Zentralkasse abzuführen. Das Statut sagt nicht ausdrücklich, dass die Zentralkasse von dem als Kassierer gewählten Mitglied des Parteivorstandes verwaltet wird; es setzt das, wie vieles sonst, als selbstverständlich voraus. Es setzt aber auch als selbstverständlich voraus, dass diese Verwaltung im Sinne des Parteiprogramms, im Geist des internationalen Sozialismus, unter Befolgung der Parteibeschlüsse geführt wird. Nach § 17 verfügt der Parteivorstand über die vorhandenen Gelder. Der Kassierer ist nur ein Glied des Parteivorstandes, der eine kollegiale „Behörde" darstellt. Die im § 5 vorgeschriebene Abführung der Gelder ist also eine Abführung an den Parteivorstand.

Kann der jetzige Parteivorstand beanspruchen, dass diese statutarische Verpflichtung ihm gegenüber erfüllt wird? Besteht für die Organisationen die Pflicht oder auch nur das Recht, sie diesem Parteivorstand gegenüber zu erfüllen?

Gewiss, auch dieser Parteivorstand ist auf einem Parteitag gewählt und besitzt damit den formellen Titel seiner Zuständigkeit. Aber seine gesamte Politik seit Kriegsausbruch bildet nicht nur ein beharrliches, das Parteiinteresse schädigendes Zuwiderhandeln gegen die Beschlüsse oder Parteitage, das seinen Ausschluss2 rechtfertigen würde; sie bildet auch in fortwährender Steigerung einen dauernden groben Verstoß gegen die Grundsätze des Parteiprogramms; und wer sich dessen schuldig macht, „kann" nach § 26 „nicht zur Partei gehören". Natürlich kann er am allerwenigsten Parteivorstand, Vertreter der Gesamtpartei sein; er kann nicht die wichtigsten Parteifunktionen ausüben.

§ 19 des Statuts legt dem Parteivorstand die Pflicht auf, die Parteigeschäfte zu führen und über die Wahrung der Parteiprinzipien zu wachen. Aber statt die Geschäfte der Partei zu besorgen, besorgt er die Geschäfte der Parteifeinde, der Regierung, der Imperialisten. Statt auf prinziptreue Haltung der Parteiorgane hinzuwirken, fördert er die prinzipwidrigen Parteiorgane und vergewaltigt die prinziptreuen nach allen Regeln der Kunst.

Der dauernde grobe Verstoß gegen die wichtigsten Parteigrundsätze, der unfähig zur einfachen Parteimitgliedschaft macht, macht doppelt unfähig zum Amt des Parteivorstandes.

Der jetzige Parteivorstand verletzt zudem – wie neulich gezeigt und wie jedem bekannt – immer wiederholt und in gröbster Form das Parteistatut; er hat sich in der Gewissenlosigkeit gegen das Statut durch die Kündigung des Genossen Meyer neuerdings selbst übertroffen. Er hat sich damit selbst außerhalb des Parteistatuts, außerhalb der Partei gestellt.

Die Organisationen haben nicht die Pflicht, ja nicht einmal das Recht, diesem nicht-sozialdemokratischen Parteivorstand gegenüber die Verpflichtungen zu erfüllen, die nach dem Parteistatut gegenüber dem sozialdemokratischen Parteivorstand zu erfüllen sind. Das gilt auch ganz besonders von der Verpflichtung zur Abführung der Gelder nach § 5.

Das gleiche ergibt eine weitere Darlegung. Nach § 17 des Statuts verfügt der Parteivorstand „nach eigenem Ermessen" über die vorhandenen Gelder. Aber dieses „Ermessen" ist nicht willkürlich und unbeschränkt. Das Statut begnügt sich freilich mit jenem Satz; aber es ist ein Schulbeispiel dafür, dass das Statut zuweilen gerade das Wichtigste und Grundlegende nicht ausspricht, sondern es als selbstverständlich voraussetzt.

Selbstverständlich ist, dass der Parteivorstand die Gelder für die Partei verwenden muss; daran wird niemand zweifeln. Ebenso selbstverständlich aber, dass eine Verwendung für die Partei nur vorliegt, wenn sie im Sinne des Parteiprogramms und der Parteitagsbeschlüsse stattfindet. Zu einer solchen Verfügung und nur zu einer solchen Verfügung über das Parteivermögen ist der Parteivorstand durch § 17 des Statuts ermächtigt und beauftragt. Jede andere Verfügung heißt auftragswidrig, programm- und statutwidrig handeln, heißt der Partei ihr Vermögen entziehen.

Der Parteivorstand verstößt seit Kriegsausbruch beharrlich gegen Programm, Parteibeschlüsse, Parteistatut; er verwendet tatsächlich seit Kriegsbeginn die Parteimittel nicht für, sondern gegen die Partei und ihre durch Programm und Beschlüsse festgelegten Zwecke und Aufgaben. Wer könnte vertrauen, dass er die von jetzt ab in seine Hände gelangenden Gelder für die Partei, für diese Zwecke und Aufgaben verwenden wird?

Dieses Vertrauen wäre vollendete Narrheit; denn die nackten, harten Tatsachen lehren, dass der Parteivorstand seine pflichtwidrige Haltung von Tag zu Tag nicht nur fortsetzt, sondern verschärft.

Diesem Parteivorstand Parteigelder abzuliefern, heißt also: sie einer Programm- und statutwidrigen Verwendung zuführen, heißt: sie der Partei entziehen, heißt also nicht, den Zweck des § 5 des Statuts erfüllen, sondern vereiteln.

Auch hieraus folgt, dass die Finanzsperre gegen den Parteivorstand nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht der Organisation ist.

Diese Folgerung ist unausweislich.

Eine kurze Betrachtung wird sie auch dem Verständnis dessen, den sie noch befremden sollte, näher bringen.

Gesetzt den Fall, ein Parteivorstand verwende die vorhandenen Gelder für private Zwecke und entziehe sie so der Partei. Jede Organisation, die einem solchen Parteivorstand noch einen Pfennig ablieferte, würde pflichtwidrig handeln und sich für den Verlust der Parteigelder mitverantwortlich machen. Gesetzt den Fall, der Parteivorstand zahle aus der Parteikasse an nationalliberale Zeitungen oder fortschrittliche Organisationen. Der Fall läge politisch noch schlimmer und klarer. Gesetzt den Fall, ein Parteivorstand spiele die Parteigelder in die Kassen der Unternehmerorganisationen, der Scharfmacherverbände, der Junkerbünde, der Polizei-und Militärverwaltung des Klassenstaats, in die Hände der Tirpitz und Falkenhayn, der Heydebrandt und Oertel, der Loebell und Beseler, in die Hände der Krone. Läge der Fall weniger schlimm? Er liegt nicht anders, wenn wir statt Tirpitz und Falkenhayn sagen: Bethmann Hollweg und Capelle, und statt Loebell und Beseler: Delbrück, Helfferich, Wahnschaffe. Und er liegt nicht anders, wenn keine Auszahlung baren Geldes erfolgt, sondern nur mittelbare Zuwendung für diese Parteien, Verbände, Staatsmänner, Minister usw. Und er liegt nicht anders, sondern noch schlimmer, wenn wir, statt von der Zeit des Friedens von der Zeit des Krieges sprechen – so wahr der Krieg die intensivste und konzentrierteste Ausbeutung, Ausnutzung, Unterdrückung des Proletariats durch die herrschenden Klassen darstellt, so wahr die Regierungen des Klassenstaats im Kriege des Imperialismus intensiver und konzentrierter noch als im Frieden der Ausschuss der herrschenden Klassen sind, so wahr die bürgerlichen Klassen und Parteien, die Unternehmerverbände und alle Exponenten der Reaktion im Kriege ihre arbeiterfeindliche Politik hinter der spanischen Wand burgfriedlicher Redensarten nur noch intensiver und konzentrierter verfolgen als im Frieden.

Der heutige Parteivorstand nun verwendet die Parteigelder freilich nicht für eigene persönliche Zwecke; er zahlt sie auch nicht in bar an bürgerliche Parteien, Unternehmerverbände usw. Aber die übrigen oben gesetzten Fälle liegen durchweg vor.

Indem der Parteivorstand die Politik der kapitalistischen Regierung in ihrer Sünden-Maienblüte unterstützt und mit den bürgerlichen Parteien von Westarp bis Müller-Meiningen Urfehde schwörend durch dick und dünn stapft, indem er kein Mittel der Täuschung und Gewalt scheut, um das Proletariat mit gefesselten Händen und verbundenen Augen der Regierung zu überantworten, verwirklicht er alle jene möglichen Fälle zugleich auf einen Schlag.

Woraus wiederum folgt: Wenn man die Sache reiflich überlegt und sich nicht scheut, zu Ende zu denken, so handelt jede Organisation, die diesem Parteivorstand Parteigelder abliefert, streng genommen, pflichtwidrig und macht sich, natürlich ohne es zu wollen, gewissermaßen mitverantwortlich für den Verlust der Parteigelder, wie sie sich, ohne es zu wollen, in gewissem Sinne mitverantwortlich macht für die parteiverräterische Politik des Parteivorstandes.

Auch hier entscheidet der Geist, die Politik und nicht der tote Buchstabe, was dem Parteistatut in Wirklichkeit entspricht und was ihm zuwiderläuft. Die Wahrheit ist, dass nicht die Parteiorganisation, die durch die Finanzsperre das Parteivermögen für die Partei rettet, den Ausschluss verdient, sondern dass der Parteivorstand, der längst unfähig zur Bekleidung seines Amtes ist, längst – nach § 26 des Statuts – außerhalb der Partei steht.

Und es bleibt dabei; diesem Parteivorstand, diesem System keinen Groschen, sondern Kampf aufs Messer. Die Parteigelder müssen von den Organisationen so lange für die Partei aufbewahrt werden, bis an ihrer Spitze ein Parteivorstand steht, der selbst Programm und Parteistatut hochhält.

Das am 1. Mai verbreitete Flugblatt hatte folgenden Wortlaut:

AUF ZUR MAIFEIER!

3. In der Internationale liegt der Schwerpunkt der Klassenorganisation des Proletariats …

4. Die Pflicht zur Ausführung der Beschlüsse der Internationale geht allen anderen Organisationspflichten voran …

(Leitsätze)

Genossen und Genossinnen!

Zum zweiten Male steigt der Tag des 1. Mai über dem Blutmeer der Massenmetzelei auf. Zum zweiten Male findet der Weltfeiertag der Arbeit die proletarische Internationale in Trümmer geschlagen, während die Kämpferscharen des völkerbefreienden Sozialismus als widerstandsloses Kanonenfutter des Imperialismus einander abschlachten.

Die sozialistische Internationale liegt seit zwei Jahren danieder. Und was haben die Arbeiter aller Länder, was haben die Völker gewonnen? Millionen von Männer haben bereits ihr Leben gelassen auf Geheiß der Bourgeoisie. Millionen sind zu elenden Krüppeln geschlagen. Millionen von Frauen sind zu Witwen, ihre Kinder zu Waisen gemacht, in Millionen Familien sind unstillbares Leid und Trauer eingezogen. Nicht genug! Not und Elend, Teuerung und Hungersnot herrschen in Deutschland, in Frankreich, in Russland. Belgien aber, Polen und Serbien, die von dem Vampir des deutschen Militarismus bis aufs Blut und auf das Mark der Knochen ausgesogen werden, gleichen großen Friedhöfen und Trümmerhaufen. Die ganze Welt, die vielgerühmte europäische Kultur gehen zugrunde in der entfesselten Anarchie des Weltkrieges.

Und zu wessen Nutz und Frommen, zu welchem Zwecke all diese Schrecken und Bestialitäten? Damit die ostelbischen Junker und die mit ihnen versippten kapitalistischen Profitmacher durch Unterjochung und Ausbeutung neuer Länder ihre Taschen füllen können. Damit die Scharfmacher von der schweren Industrie, die Heereslieferanten von den blutigen Leichenfeldern goldene Ernten in ihre Scheunen schleppen. Damit Börsenjobber mit Kriegsanleihen Wuchergeschäfte treiben. Damit Lebensmittelspekulanten sich auf Kosten des hungernden Volkes mästen. Damit der Militarismus, die Monarchie, die schwärzeste Reaktion in Deutschland zur nie dagewesenen Macht, zur ungeteilten Herrschaft emporsteigen.

Um ihre schlimmsten Feinde stark und übermütig zu machen, lässt sich die Arbeiterklasse wie eine Herde Schafe zur Schlachtbank treiben. Und die blutige Orgie findet gar kein Ende, ja, sie dehnt sich immer weiter aus! Morgen vielleicht wird sich der Völkermord auf neue Länder und Weltteile erstrecken. Die deutschen Kriegshetzer treiben mit Macht zum Kriege mit den Vereinigten Staaten. Morgen vielleicht sollen wir das Mordeisen gegen neue Bruderscharen: gegen die Brust unserer amerikanischen Arbeits- und Kampfgenossen zücken!

Arbeiter! Parteigenossen! Ihr Frauen des Volkes! Wie lange wollt ihr dem Spuk der Hölle ruhig und gelassen zusehen? Wie lange wollt ihr stumm die Verbrechen der Menschenmetzelei, die Not und den Hunger ertragen? Bedenkt, solange sich das Volk nicht rührt, um seinen Willen kundzutun, wird der Völkermord nicht aufhören. Oder aber er hört erst dann auf, wenn alle Länder an den Bettelstab gebracht, wenn alle Völker zugrunde gerichtet sind, wenn von der sogenannten Kultur nicht ein Stein auf dem andern geblieben ist. Die Reichen können noch lange den Krieg „durchhalten". Sie leiden keinen Hunger, sie haben üppige Vorräte eingehamstert, sie machen ja die schönsten Geschäfte bei der Metzelei, sie stärken ihre politische Herrschaft durch den Selbstmord der Arbeiterklasse. Aber wir, aber das arbeitende Volk aller Länder, wollen wir noch lange mit eigenen Händen unsere Ketten fester schmieden?

Arbeiter, Parteigenossen! Genug des Brudermordes! Der 1. Mai kommt als Mahner, er pocht an eure Herzen, an eure Gewissen. Der Verrat am Sozialismus, an der internationalen Solidarität der Arbeiter hat die Völker ins Verderben des Weltkrieges gestürzt. Nur die Rückkehr zum Evangelium des völkerbefreienden Sozialismus, zur proletarischen Internationale, kann die Völker, kann die Kultur, die Arbeitersache aus dem Abgrund retten. Zeigt denn am 1. Mai, dass dieses Evangelium in euren Herzen und Hirnen lebt. Beweist den herrschenden Klassen, dass die Internationale, dass der Sozialismus nicht tot sind, dass sie mit neuer Kraft wie ein Phönix aus der Asche emporsteigen! Die proletarische Internationale kann nicht in Brüssel, in Den Haag oder in Bern durch ein paar Dutzend Leute wieder aufgerichtet werden. Sie kann nur aus der Tat der Millionen auferstehen. Sie kann nur hier in Deutschland wie drüben in Frankreich, in England, in Russland auferstehen, wenn die Massen der Arbeiter allenthalben selbst die Fahne des Klassenkampfes ergreifen und ihre Stimme mit Donnergewalt gegen den Völkermord erschallen lassen.

Arbeiter, Parteigenossen und ihr Frauen des Volkes! Lasst diesen zweiten Maifeiertag des Weltkrieges nicht vorübergehen, ohne ihn zur Kundgebung des internationalen Sozialismus, zum Protest gegen die imperialistische Metzelei zu gestalten.

Am 1. Mai reichen wir über alle Grenzsperren und Schlachtfelder hinweg die Bruderhand dem Volke in Frankreich, in Belgien, in Russland, in England, in Serbien, in der ganzen Welt! Am 1. Mai rufen wir vieltausendstimmig:

Fort mit dem ruchlosen Verbrechen des Völkermordes! Nieder mit seinen verantwortlichen Machern, Hetzern und Nutznießern! Unsere Feinde sind nicht das französische, russische oder englische Volk, sondern das sind deutsche Junker, deutsche Kapitalisten und ihr geschäftsführender Ausschuss: die deutsche Regierung! Auf zum Kampfe gegen diese Todfeinde jeglicher Freiheit, zum Kampfe um alles, was das Wohl und die Zukunft der Arbeitersache, der Menschheit und der Kultur bedeutet!

Schluss mit dem Kriege! Wir wollen Frieden!

Hoch der Sozialismus! Hoch die Arbeiter-Internationale!

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

DIE LETZTE PARLAMENTARISCHE AKTION KARL LIEBKNECHTS

Karl Liebknecht hat zwei Tage vor seiner Verhaftung auf dem Potsdamer Platz den folgenden Protest an den Reichstagspräsidenten geschickt:

Berlin, den 28. April 1916

Herr Präsident!

Der Reichstag ist bis zum 2. Mai vertagt. Nach Zeitungsmeldungen besteht die Absicht, die Plenarsitzungen noch später beginnen zu lassen.

Ich erhebe dagegen Widerspruch und fordere die unverzügliche Zusammenberufung des Plenums.

Der amerikanische Konflikt und damit die Frage einer weiteren Ausdehnung, Verschärfung und Verlängerung des Krieges befindet sich im kritischsten Augenblick.3 Die Regierung ist im Begriff, auch diese Lebensfrage des deutschen Volkes in der Dunkelkammer der Geheimdiplomatie zu entscheiden, während die Masse der Bevölkerung den Strick des Belagerungszustandes um den Hals trägt. Wiederum sind die Einflüsse der imperialistischen Kriegsinteressenten und Scharfmacher am Werk, dieser Masse neue furchtbare Leiden und Opfer aufzubürden.

Die deutsche Regierung, die an das amerikanische Volk appelliert, muss genötigt werden, auch die Masse des deutschen Volkes zu hören und nach ihrem Willen zu handeln; nach ihrem Willen, der auf unbedingte friedliche Beilegung des Konflikts, auf sofortige Einstellung des unheilvollen U-Boot-Handelskrieges, auf sofortigen Eintritt in Friedensverhandlungen auf Grundlage des Verzichts auf Annexion aller Art [dringt].

So sehr die Mehrheit des Reichstags nur eine Schutztruppe des Imperialismus und eine Kulisse der Militärdiktatur darstellt und so gewalttätig sie auch – selbst die russische Duma weit übertrumpfend – im Reichstage selbst einen Belagerungszustand ohnegleichen zur Unterdrückung jeder ernsten oppositionellen Regung etabliert hat, ich erachte es doch für meine Pflicht, zu verlangen:

dass in einer sofortigen Plenarverhandlung des Reichstages die Regierung der Öffentlichkeit das gesamte Material über den Konflikt unterbreitet und ihre Auffassung und Absicht darlegt und zugleich Gelegenheit dazu gegeben wird, auf die endliche sofortige Aufhebung des Belagerungszustandes zu dringen, damit die Masse des deutschen Volkes bei Entscheidung des Konfliktes ihr Gewicht in die Waagschale werfen kann.

Ergebenst

gez. Karl Liebknecht

1 In der Quelle steht hier und im Folgenden irrtümlich: § 23. Es handelt sich aber offensichtlich um den § 26 des Organisationsstatuts.

2 In der Quelle irrtümlich: Anschluss.

3 Am 20. April 1916 ließ die Regierung der USA der deutschen Regierung eine Note überreichen, in der sie die unverzügliche Einstellung des von Deutschland geführten verschärften U-Boot-Krieges forderte und drohte, widrigenfalls die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abzubrechen.

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