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Politischer Brief Nr. 23 Zirkular 19161225

NR. 23 VOM 25. DEZEMBER 1916

[nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 206-210]

ZIRKULAR DER SPARTAKUSGRUPPE

Berlin, den 25. Dezember 1916

Werte Genossen!

In der Beilage übersenden wir Ihnen einen Bericht über die Verhandlungen der am 19. November d. J. stattgefundenen Konferenz der Arb.G., den ein Chemnitzer Genosse uns zugeschickt hat. Der Genosse ist durch ein Missverständnis auf der Konferenz erschienen und durfte, wie Sie aus dem Bericht ersehen, an ihren Verhandlungen teilnehmen. Eine Anfrage in Chemnitz, ob wir von diesem Bericht Gebrauch machen können, ist unbeantwortet geblieben. Daher ist auch die Versendung des Berichts an die Genossen im Reiche unsererseits bis jetzt unterblieben.

In Ausführung des Beschlusses dieser Konferenz hat nun die Leitung der Arb. G. an uns eine Einladung ergehen lassen, an einer gemeinsamen Konferenz der Opposition, deren Abhaltung für den 7. Januar festgesetzt worden ist, teilzunehmen. Auf der Tagesordnung stehen provisorisch: a) Parlamentstaktik, b) Abwehrmaßregeln gegen die Parteiinstanzen. Im Einzelnen schreiben die Einberufer in ihrer schriftlichen Einladung:

Die Verhandlungszeit ist auf einen Tag befristet. Teilnahmeberechtigt sind die Mitglieder der soz. Arbeitsgemeinschaft und der Genosse Rühle (bei keiner Fraktion), ferner Delegierte der Wahlkreisorganisationen, die sich auf den Boden der Opposition stellen. Wir empfehlen, für die Wahlkreisorganisationen die Zahl der Delegierten so zu bemessen, wie es zum letzten Parteitag geschah. In den übrigen Wahlkreisen werden sich die oppositionellen Genossen über gemeinsame Delegationen zu verständigen haben.

Mündlich haben die Einberufer diese Angaben uns gegenüber dahin ergänzt, dass es erwünscht sei, überall, wo die Opposition die offizielle Parteiorganisation in ihrer Hand hat, die Delegierten von der letzteren, also von den Mitgliederversammlungen resp. von den zuständigen Instanzen, nominieren zu lassen.

Dieser Wahlmodus würde zweifellos der Delegation größeres Gewicht verleihen und ist auch insofern zu empfehlen. Die diesbezüglichen Wünsche der A.G. können jedoch u. a. keinesfalls für uns maßgebend sein. Sollte unsere Richtung die Beteiligung an dieser gemeinsamen Konferenz beschließen, so wird sie sich selbstverständlich als gesonderte, selbständige und in sich geschlossene Organisation vertreten lassen. Und da bindende Majoritätsbeschlüsse auf der Konferenz u. a. unbedingt und von vornherein ausgeschlossen sein müssen, so muss es gänzlich uns überlassen bleiben, wie wir unsere Delegierten wählen. Vorläufig kann und darf es sich nur um eine unverbindliche Aussprache und Beratschlagung handeln, woraus sich erst ergeben soll, ob überhaupt und in welchem Maße eine gemeinsame Aktion der gesamten Opposition möglich ist.

In unserem engeren Berliner Kreis sind wir nun der Ansicht, dass der Beschluss, ob wir der Einladung der A.G. folgen sollen, von einer Konferenz unserer Richtung zu fassen ist, die zugleich die Richtlinien für unsere Delegierten festzulegen hätte.

Wir hatten ursprünglich die Absicht, den Genossen die Abhaltung unserer eigenen Konferenz am Ende des Januar oder Anfang Februar vorzuschlagen, um unsere Agitation und Tätigkeit weiter auszubauen. Angesichts der dargelegten Lage haben wir nunmehr beschlossen, die Abhaltung unserer Konferenz zu beschleunigen, und da die Zeit sehr knapp ist, sehen wir uns gezwungen, die Befragung unserer Genossen unterlassen zu müssen. Wir schlagen daher den Genossen überall, wo Mitgliedschaften unserer Richtung bestehen, vor, ihre Delegierten zu unserer Konferenz zu wählen und sie zugleich für den Fall, dass die Konferenz die Beteiligung beschließt, auch mit Mandaten für die gemeinsame Konferenz zu versehen. Die Abhaltung unserer Konferenz setzen wir für Sonnabend, den 6. Januar, vorm. 9 Uhr, an.

Es ist sehr erwünscht, dass die Delegierten bereits am Freitagabend in Berlin eintreffen. Eine Adresse, wo die Delegierten sich zu melden haben, wird Ihnen nächstens zugehen. Außerdem wird Ihnen eine von der Reichstagsfraktion gezeichnete Einladung zu der gemeinsamen Konferenz zugeschickt werden. Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass die Tatsache, dass gerade die Reichstagsfraktion der A.G. diese Einladung versendet, auf äußere Umstände zurückzuführen ist, die wir Ihnen mündlich mitteilen werden; sie hat nur formale Bedeutung. Als provisorische Tagesordnung für unsere Konferenz schlagen wir vor:

1. a) Organisation, Agitation, Finanzen und Presse;

b) Aufstellung von eigenen Kandidaten bei den Wahlen.

2. Beteiligung an der gemeinsamen Konferenz mit der A.G.

Als eventuelle Richtlinien für das Verhalten unserer Delegierten auf der gemeinsamen Konferenz und zugleich als Leitsätze, deren Anerkennung unsere Delegierten von der A.G. zu verlangen haben, unterbreiten wir Ihrer Diskussion folgende Forderungen:

1. Die Zugehörigkeit zu der gegenwärtigen Sozialdemokratischen Partei darf von der Opposition nur so lange aufrechterhalten werden, als diese ihre selbständige politische Aktion nicht hemmt noch beeinträchtigt. Die Opposition verbleibt in der Partei, nur um die Politik der Mehrheit auf Schritt und Tritt zu bekämpfen und zu durchkreuzen, die Massen vor der unter dem Deckmantel der Sozialdemokratie betriebenen imperialistischen Politik zu schützen und die Partei als Rekrutierungsfeld für den proletarischen antiimperialistischen Klassenkampf zu benutzen.

2. Offenes Schutz- und Trutzbündnis aller zu einem entschlossenen Kampf gegen die Politik der Parteiinstanzen bereiten Parteiorganisationen mit eigener Zentralbehörde und Finanzen.

Anmerkung: Durch die Schaffung eines solchen Bündnisses darf sowohl die gesonderte selbständige Existenz der einzelnen Oppositionsrichtungen als Organisationen wie ihre Aktionsfreiheit, eigene Presse und Freiheit der Kritik in keiner Weise beeinträchtigt werden, sofern dies nicht durch die Ausführung gemeinsamer Beschlüsse bedingt ist.

3. Beitragssperre, durchgeführt von Wahlkreisverbänden oder einzelnen Wahlkreisen, sofern sie ihre Beiträge an die Zentralkasse abführen.

4. Öffentliche Absprechung den Reichstags- und Landtagsabgeordneten von der Mehrheit durch die zuständigen Wahlkreise des Rechts, ihre Mandate weiter auszuüben; Aufstellung von selbständigen Kandidaturen der Opposition gegenüber den Mehrheitskandidaturen bei den Wahlen; wo die Aufstellung unmöglich ist – Proklamierung der Stimmenenthaltung.

5. Ausnutzung der Parlamentstribüne als Hilfsmittel für die Massenaktionen. Auferlegung den oppositionellen Reichstagsabgeordneten der Pflicht, bei ihrem parlamentarischen Auftreten den gesamten Reichstag neben der Regierung als verantwortlich für die herrschenden Zustände hinzustellen und nicht vom Reichstag an die Regierung1 zu appellieren, sondern sowohl gegen die Regierung wie gegen den Reichstag immer wieder die Arbeitermassen anzurufen und sie zum Kampfe aufzufordern.

6. Friedensaktionen durch selbständigen Kampf und Massenaktionen des Proletariats; Aufgeben der bisherigen parlamentarischen Friedensaktionen, die im gütlichen Zureden der Regierung und Anrufung der bürgerlichen Diplomatie besteht.

7. Verlegung des Schwerpunktes der ganzen politischen Tätigkeit der Opposition in die Selbstbetätigung und Aktion der Massen.

8. Systematischer Kampf gegen die Politik der Gewerkschaftsinstanzen innerhalb der Gewerkschaften; Organisierung zu diesem Zweck der auf Seiten der Opposition stehenden Gewerkschaftsmitglieder und Schaffung eines speziellen Gewerkschaftsblattes.

Wir geben uns keinen Hoffnungen hin, dass die A.G. unsere Forderungen annehmen wird. Wir sind vielmehr der Meinung, dass die gemeinsame Konferenz angesichts der Halbheit der A.G. und ihrer Verwandtschaft in wesentlichen Punkten mit der Mehrheit kaum ersprießliche praktische Resultate zeitigen wird. Trotzdem glauben wir, die Beteiligung an der Konferenz befürworten zu können. Die A.G. beherbergt in sich nämlich, wie dies der Bericht des Chemnitzer Genossen feststellt und unsere Delegierten zur letzten Reichskonferenz2 wahrgenommen haben, eine ganze Menge Arbeiterelemente, die geistig und politisch zu uns gehören und nur durch Mangel an Berührung mit uns oder aus Unkenntnis der tatsächlichen Beziehungen innerhalb der Opposition und anderen zufälligen Ursachen der A.G. folgen. Es ist für uns von größter Wichtigkeit, diese Elemente aufzuklären, sie dem Einfluss der A.G. zu entreißen und überhaupt den Scheidungsprozess innerhalb der A.G. zu beschleunigen. Andererseits sind wir berufen – und es wird dies von unschätzbarem agitatorischem Werte sein –, der Opposition mit einem praktischen Aktionsprogramm voranzugehen, zu dem sie sich immer wieder durch die gesamte Entwicklung der Partei gedrängt sehen wird. Wenn die Leitung der A.G. dieses Programm nicht akzeptiert, so wird dessen Aufstellung die Möglichkeit geben, unsere Richtung von der A.G. nicht nur grundsätzlich, wie dies bereits auf der Reichskonferenz geschehen, sondern nicht minder bei der Lösung der unmittelbaren praktischen Parteiprobleme scharf und sichtbar für jedermann abzugrenzen, wodurch die Klärung der Situation und die Klarheit in unseren eigenen Reihen nur gewinnen kann.

Mit Gruß

W. K.3

PS. Für die Kosten der Delegation müssen die einzelnen Mitgliedschaften aufkommen, da der Stand unserer Finanzen ungünstig ist.

1 In der Quelle heißt es irrtümlich: von der Regierung an den Reichstag.

2 Gemeint ist die Reichskonferenz der deutschen Sozialdemokratie vom 21. bis 23. September 1916.

3 W. K. (W. Kraft) – Pseudonym von Leo Jogiches.

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