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Zur Information Nr. 9 19150200

NR. 9 VON 1915

[nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 65-67]

ZUR INFORMATION

WESHALB DAS „GOTHAER VOLKSBLATT" UNTERDRÜCKT WURDE

Es schrieb am 9. 1. 1915:

Die sozialdemokratische Fraktionspolitik unter Polizeischutz

Die ersten zwei Tage Praxis unserer Gothaer Präventivzensur zeigen mit aller Deutlichkeit, dass es den Zensurbehörden besonders darauf ankommt, die unbequemen Kritiker der sozialdemokratischen Fraktionspolitik innerhalb unserer Reihen mundtot zu machen. Erhaltung des Burgfriedens in der Sozialdemokratischen Partei, oder mit anderen Worten, Erhaltung einer ,einigen, geschlossenen und machtvollen' deutschen Sozialdemokratie ist das Ziel ihres Strebens. Die Sozialdemokratie als Regierungsschützling ist das weitaus wichtigste innerpolitische Ereignis dieser ,großen Zeit deutschvölkischer Regeneration.

Unsere Fraktionspolitiker haben seit Wochen eine rege Propaganda für ihre Auffassungen entfaltet. Da ihnen aber in einigen größeren Parteiorten eine erhebliche Opposition erwuchs, ihre Propaganda eine Stimmung geradezu gegen statt für die Kreditbewilliger herbeiführte, so suchte ihnen die Militärbehörde durch die Zensur resp. Aufhebung der Versammlungsfreiheit beizuspringen…"

(Anmerkung.) Das Verbot bestätigt die Richtigkeit der mannhaften Worte.

Die „Altenburger Volkszeitung" schreibt dazu:

Nach unserer Überzeugung hätte das Blatt diesen Zustand umgehen können, wenn es gewollt hätte. Eine Kritik der Verfügung ist unter dem jetzigen Zustand leider nicht möglich, sonst würden wir der Überzeugung Ausdruck geben, dass die Behörden dem überradikalen Getue zu viel Bedeutung beimessen."

(Anmerkung.) Um Zweifelsfragen zu begegnen, sei ausdrücklich betont, dass dieses Blatt auch zur Parteipresse zählt.

Auch das „Kasseler" Parteiblatt offenbart einen ganz eigenartigen parteigenössischen Geist, indem es schreibt:

„… Wir bedauern, dass das ,Gothaer Volksblatt', mit dessen Haltung wir in vielen Punkten nicht einverstanden waren, durch die Umgehung der Zensur das Verbot herausgefordert hat…"

Über den Eintritt Vanderveldes in das belgische und den Sembats und Vaillants in das französische Ministerium hat sich bekanntlich ein großes Geschrei in unserer Parteipresse erhoben, obgleich diese Genossen zuvor die Zustimmung ihrer Organisation eingeholt haben. Was sagt man nun zur folgenden, kaum glaublichen, aber über jeden Zweifel erhabenen Mitteilung des Stettiner „Volksboten" vom 15. 1. 1915?:

Ist das möglich?

Kürzlich ist festgestellt worden, dass der Reichstagsabgeordnete Dr. Südekum im Anschluss an seine Reise nach Ungarn, die er für das ,Rote Kreuz' unternommen hatte, im Auftrage der Reichsregierung nach Rumänien gereist ist. Er hatte von diesem Auftrage weder vorher noch nachher aus freien Stücken den Parteiinstanzen Mitteilung gemacht. Die Sache war nur dadurch bekannt geworden, dass einige Zeit nachher ein aus Rumänien nach Deutschland gekommener Genosse seinem Befremden über diese sonderbare Mission eines sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Ausdruck gab."

Jetzt verstehen wir auch die Andeutungen in dem Schreiben des Delegierten der rumänischen sozialistischen Partei, Ch. Racovski, an ein russisches Parteiblatt. Es heißt darin – nach der „Wiener Arbeiter-Zeitung" vom 9. Januar 1915 – :

Keine Macht wird uns veranlassen, unsere sozialistischen Positionen preiszugeben. Wir kämpfen energisch gegen die kriegerischen Stimmungen; das Traurigste ist aber, dass unsere Gegner Waffen gegen uns aus dem sozialistischen Arsenal Frankreichs und Deutschlands entnehmen. Gegen uns treten zum Beispiel deutsche sozialdemokratische Abgeordnete auf, uns kritisierten sowohl Hervé wie die ,Humanité'…"

Der Aufruf schließt: „Werfen wir die Eroberungsinstinkte von uns, die in den Seelen der Sozialisten wach geworden sind! Nicht der Triumph des einen oder des anderen Imperialismus bietet eine Bürgschaft für die Rechte der Völker und Klassen und für ihre freie Entwicklung, sondern der Sieg der sozialistischen Internationale, die einig sein muss und erfüllt vom wirklichen sozialistischen und revolutionären Geiste."

In der Fraktionserklärung vom 2. Dezember 1914 heißt es:

„… es ist unsere unverbrüchliche Überzeugung, dass eine gedeihliche Fortentwicklung der Völker nur möglich ist, wenn jede Nation verzichtet, Integrität und Unabhängigkeit anderer Nationen anzutasten und damit den Keim zu neuen Kriegen zu legen."

Man halte dem gegenüber, was der Braunschweiger „Volksfreund" unter dem 14. 1. 15 schreibt:

Peus Annexander

Auf eine Umfrage von Professor Broda hat Genosse Peus … geantwortet: Die belgische Frage ist nicht nur eine Frage der Belgier. Es handelt sich nicht nur um die belgische Freiheit. Belgiens Feindschaft gegen Deutschland, Belgiens Bündnis mit England kann die Unfreiheit Deutschlands gegenüber der unermesslichen russischen Menschenmasse bedeuten. Die Freiheit des belgischen Volkes als Bund zweier Nationalitäten (der Wallonen und Flamen) braucht mit der Frage, die hier erörtert wird, gar nichts zu tun zu haben. Die Freiheit des belgischen Volkes kann ganz unangetastet bleiben, aber das belgische Land in seiner besonderen geographischen Lage, die belgische Nordseeküste zumal und ihre strategische Bedeutung kommen hier in Betracht. Wer will es dem Deutschen Reich verübeln, wenn es für die Zukunft dem doppelten Druck von Osten und Westen her entgehen will?!

Ich begnüge mich mit dieser Schilderung der Situation. Wer will jetzt mehr sagen können!! Aber doch noch eins: Wäre ich belgischer Abgeordneter, dann würde ich sagen: Vor allem eins. Heraus aus der jetzigen unsicheren Situation der Neutralität! Die ist ja nur Selbstbetrug. Sie führt nur dazu, dass Belgien der Kriegsschauplatz für die drei Mächte Deutschland, England und Frankreich wird. Anschluss, wenigstens militärischen Anschluss an eine dieser drei Mächte, damit wir auch der Gefahr gegenüber den schon vorher zu bietenden Schutz für den Kriegsfall genießen. Jetzt war Belgien nur Opfer aller drei Mächte. Vom wirtschaftlichen Standpunkt würde ich dann aber entscheiden: Anschluss an unser wirtschaftliches Hinterland, Anschluss an Deutschland. Dass innere nationale Freiheit in allen europäischen Reichen gewährt werden muss, halte ich für eine gerade auch wegen der Sicherung nach außen absolut gebotene Notwendigkeit. "

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