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Leo Trotzki 19010411 Das gewöhnliche Dorf

Leo Trotzki: Das gewöhnliche Dorf

(Unausgesprochene Worte über das Dorf allgemein. Korrespondentenwettbewerb über „medizinische“ Themen. Der kranke Platz der kranken Dorf-Medizin. Das rettende „Gefängnis“).

[Eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Wostotschnoje Obosrenie Nr. 70, 13./26 und 29. März/11. April 1901, nachgedruckt im Sotschinenija, Band 20, Moskau-Leningrad 1926]

Über das zeitgenössische Dorf mit seinen Nöten und Ansprüchen neigt sich etwas Verhängnisvolles … Diese Bedürfnisse und Ansprüche verlassen Zeitungs- und Zeitschriftenspalten nicht, teilen die schreibende Bruderschaft in zahlreiche Parteien, werden episodisch erbittert in der großen Öffentlichkeit gedeutet … Aber all dies sind, nach den wohlwollend-geringschätzigen Worten Uspenskis, „Zeitungslumpen1“, alle diese „Humanität“ ist gewissermaßen furchtbar tragisch vom Dorf selbst losgerissen, hängt wie ein riesiger Papierdrachen an einer feinen, feinen Schnur in der Luft …

Auch in der Stadt gibt es ernsthafte Bedürfnisse und grausame Ansprüche, aber auch wenn die Stadt sich bei weitem nicht immer selbst, auf eigene Initiative, „zufrieden stellen“ kann, dann entscheidet, missbilligt sie dennoch oder sie bekundet zumindest eine Neigung zu dieser Art „Verhalten“. Aber der alteingesessene Dorfeinwohner entbehrt wegen seiner Unkultiviertheit, Sprachlosigkeit, Rechtlosigkeit völlig die Möglichkeit, seine eigenen Angelegenheiten zu besprechen, und deshalb unterschreibt für ihn, den Analphabeten, der Stadtbewohner, das Produkt der Stadtkultur, sogar ohne dessen geäußerte persönliche Bitte … Schließlich bindet und beschließt das Schicksal des Dorfes das berufene „völlig fremde Amt“, das weder mit dem Dorf noch mit der dessen Bedürfnisse besprechenden Journalistik verbunden ist.

Man erhält ungefähr ein solches Bild. Das Dorf wird ökonomisch von den Kulaken, physisch von der Syphilis und verschiedenen Epidemien geplündert, schließlich verweilt es auf geistiger Seite in einer konzentrierten Finsternis; es verweilt und schweigt.

Leute, die Zeitungs-„Lumpen“ und allgemein jede beliebige „Humanität“ berühren, bemühen sich, soweit möglich, im Spiegel der Journalistik die bittere Dorfwirklichkeit widerzuspiegeln, nur widerzuspiegeln, aber … Ach, wenn es nur Blumen wären und nicht der Frost, Ach, wenn es nur der „Spiegel“ wäre, nicht der „Rahmen“ …

Schließlich steht das besonders verschlossene Amt wenn nicht völlig mit dem Rücken, dann auch keineswegs en face zum Spiegel der Journalistik, entscheidet und bindet, bindet und entscheidet im Übrigen ohne erschütternde Erfolge in diese Richtung.

Nehmen wir zum Beispiel die Dorfmedizin. Über die medizinische Hilflosigkeit und Schutzlosigkeit des sibirischen Dorfes wurde geschrieben, geschrieben, geschrieben … Auf diesem Gebiet wurde eine Art Sport, ein Korrespondentenwettbewerb anberaumt. „Die Länge unserer medizinischen Bezirke“ – schreibt ein Korrespondent – „ist 100 Werst, deren Breite 80 Werst“. „Aber bei uns“ – unterbricht diesen ein anderer – „sind es sowohl in der Länge zweihundert, als auch in der Breite zweihundert, aber eine Straße gibt es nicht.“ „Nein, was ist das!“ – ist ein dritter außer sich, – „Hier bei uns ist es so einfach ,ohne Maß in der Länge, ohne Ende in der Breite‘, und abgesehen davon hat unser ganzes medizinisches Personal eine fest-stationäre Gestalt der Gedanken, aber zum Bezirk werden solche Ansiedlungsplätze hinzugezählt, deren bloße Existenz im Zeichen administrativen Zweifels steht.“

Alle diese Korrespondenzen werden veröffentlicht und durchgelesen, danach werden sie in Form von Leitartikeln, Feuilletons summiert; sie formieren zeitweilige Kader von „Feldscheristen“ und „Antifeldscheristen“, aber danach geraten sie in Vergessenheit.

Die alteingesessene Dorf-, Muschikbevölkerung stirbt weiter sowohl am „Hals“ als auch am „Bauch“ und durch verschiedene andere Verfahren, sie vollführt diesen Prozess schweigsam und konzentriert, anscheinend mit voller Überzeugung von dessen Unvermeidbarkeit. In Gestalt seiner intellektuellen, mehr oder weniger zufälligen Elemente aber stimmt das Dorf anscheinend auf keinen Fall zu, beschwichtigt zu werden und quasi ohne medizinische Hilfe und auch ohne Zeitungsklagen zu sterben, und fährt fort zu flehen, ohne Ende zu flehen, sowohl über die Naturkräfte zu klagen, als auch über die Unaufmerksamkeit der Vorgesetzten, als auch über die unerschütterlich-stationäre Geistesverfassung der Personen des medizinischen Personals.

Wir können uns sehr leicht vorstellen, dass in der Stadt wohnende, durch medizinische Hilfe abgesicherte, für das Dorf sehr wohlwollende Leser erzwungenermaßen die Fähigkeit einbüßen, in die Stimmungen und Gefühle der Dorfkorrespondenten einzudringen, die zum Himmel schreien, flehen, anflehen und eine Verkleinerung der medizinischen Bezirke und eine Vergrößerung des medizinischen Personals fordern. Solche Leser – aber von manchen von ihnen hängt doch zumindest teilweise die Befriedigung der Korrespondentenbegierden ab – überfliegen im besten Falle mit ihren Augen das Korrespondentenstöhnen an den Ufern der Angara, des Ilim, der Kuta oder an anderen derartigen Plätzen, die einander ähneln wie zwei Tränen …

Und dennoch – verdammte Pflicht und Schuldigkeit2! – will ich einige Worte aus Anlass dieser Dorfmedizin sagen, über einen der kränksten Aspekte dieser kranken Frage – über die seelisch Kranken des Dorfs.

Um nicht in allgemeinen Erwägungen zu zerfließen, werde ich zwei-drei konkrete Beispiele aus der Praxis der letzten 3-4 Jahre im vierten Bezirk des Kirenskij-Landkreises bringen.

Ein Bauer bringt in das Dorf Nischneilimskij, das Zentrum des Bezirks, seine Ehefrau, eine seelisch kranke Frau. Man fragt sich: was soll man mit ihr machen? Im Sprechzimmer mit drei Liegen (für den ganzen Bezirk) kann man sie nicht unterbringen: nirgends, und auch beaufsichtigen kann sie hier niemand. Sie nach Irkutsk schicken? Doch dafür muss man sich mit „Irkutsk“ in Verbindung setzen, aber für diesen Zweck muss man den spezifischen Charakter der seelischen Krankheit bestimmen, was man ohne Beobachtung nicht machen kann. Für die Beobachtung aber, die sich manchmal ziemlich lange hinzieht, ist es erforderlich, die Kranke zumindest zeitweilig in Nischneilimskij unterbringen, aber man kann sie nirgends unterbringen. Weder der Reviervorsteher noch der bäuerliche Leiter entscheiden sich auf eigene Gefahr, die Kranke nach Irkutsk zu schicken. Das „Wolost“ verzichtet (aus Mangel) darauf, ihr irgendeinen Raum außer dem Sprechzimmer zu geben, wo man sie nicht aufnehmen kann. Schließlich lehnt ihr Ehemann ab, sie zurückzunehmen: in der Familie bei ihm sind nur kleine Kinder, was bedeutet, dass er der Ehefrau, die beständige und aufmerksame Pflege erfordert, unentwegt würde selbst folgen müssen, aber das muss ihn vollkommen ruinieren.

Alle befinden sich im Recht. „Recht“ hat der Arzt, die Kranke nicht in ambulante Betreuung aufzunehmen, weil sie da unmöglich unterzubringen ist. „Recht“ hat die örtliche Verwaltung, die sich weigert, eine Kranke auf Staatsrechnung nach Irkutsk zu schicken, weil die örtliche Verwaltung dieses Recht nicht hat. „Recht“ hat schließlich der Muschik, der nicht wünscht, seine Ehefrau nach Hause mitzunehmen, weil für sie zu sorgen, ihn unumgänglich ins Elend bringen würde. Als Resultat dieser allgemeinen „Rechtsansprüche“ nahm der Muschik ungeachtet dessen seine Ehefrau nach Hause mit (klar erweist sich dessen „Rechtsanspruch“ als von niedrigerer Sorte!) – aber das Finale dieser ganzen Geschichte wurde hinter den Kulissen aufgeführt …

Sie bringen einen seelisch kranken Muschik, welchen man nirgendwohin „hintun“ kann, weil es in dessen Dorf für ihn „kein Leben“ gibt. Es trug sich zu wie die oben beschriebene Geschichte, aber mit dem Resultat, dass sie ihren Kranken nicht mit zurücknehmen, sondern zur Beobachtung im … „Gefängnis“ (Kittchen) unterbringen, welches in diesem, wie auch in einigen anderen Fällen in der Rolle einer psychiatrischen Außenstelle des Sprechzimmers von Nischneilimskij fungiert. Am vierten Tag seiner Haft (!?) starb der unglückliche Kranke und entfesselte auf diese Weise allen die Hände …

Weitere Beispiele werden wir nicht bringen, weil sie alle ein und dasselbe grundlegende Thema unbeträchtlich variieren.

Der letzte gebrachte Fall ruft durch natürliche Assoziation eine andere Episode aus dem Gebiet der Fürsorge für die Schwachen im sibirischen Dorf ins Gedächtnis.

Wenn diese Episode auch nicht zu der von uns gestreiften Frage gehört, ist sie doch so „interessant“, dass ich mich nicht zurückhalten kann, sie mit Begierde den Lesern zu überreichen. In ein und demselben sibirischen Dorf waren zwei alte Junggesellen: der eine – ein verbannter „Aufständischer“ mit einem bereits in Sibirien bei dem „Zwischenfall“ bei der Baikalrundbahn durchschossenen Bein; der andere – ein alter obdachloser Soldat, der in Sibirien diente und zu seiner Zeit an der Baikalrundbahn-Unterwerfung teilnahm. Die alten, verstümmelten, obdachlosen Greise fanden ihre letzte Unterkunft in ein und demselben Wolost-„Gefängnis“. Dort konnten diese zwei „Feinde“ mit Muße einander Erinnerungen über die Angelegenheit erzählen, in der der eine Unterdrücker, aber der andere Unterworfener war. „Eine effektvolle belletristische Fantasie!“ wird der Leser mich unterbrechen. Nein: das ist nicht mehr als ein unbewusstes Spiel der Umstände, obgleich auch voll sozial-dramatischem Sinn! Aber gleichzeitig, was für ein tatsächlich dankbares Thema für die künstlerische Bearbeitung!

Alles in einem. Das Gefängnis als Platz für sittliches Zurvernunftbringen für besoffene Raufbolde! Das Gefängnis als psychiatrische Außenstelle des Sprechzimmers! Das Gefängnis als Platz für die Fürsorge für verstümmelte Verbannte und obdachlose Invalide! Mit einem Wort, das Gefängnis – als Allheilmittel für alle Dorfgeschwüre, Platz und Mittel zur Lösung der verwickelten Fragen des Dorfdaseins.

1 „Lumpen“ im Sinne von Stoffresten (die z.B. zu Zeitungspapier recycelt werden können), nicht als abfällige Bezeichnung für Menschen – d. Übers.

2Im russischen Original auf deutsch „verdammte Schuld und Pflicht“ mit russischer Übersetzung in der Klammer.

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