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Leo Trotzki 19061201 Zur Verteidigung der Partei

Leo Trotzki: Zur Verteidigung der Partei

[Nach Schriften zur revolutionären Organisation. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 212-252. Dort mit zahlreichen Fußnoten]

Will man anders nicht den Kampf aus der Literatur und Politik verbannen – und ihn verbannen hieße alles literarische und politische Leben töten –, dann muss man sich mit der Tatsache abfinden, dass es im Kriege eben hergeht wie im Kriege. … Ihre (solcher Kämpfe) Berechtigung wächst in dem Maße, worin sie die Person treffen um der Sache willen, aber je mehr sie in der Person nur die Sache sehen, um so mehr verkümmern sie der Person ihr persönliches Recht."

(F. Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Zweites Buch)

Die Nessel nennen wir nur Nessel, und der Narren Fehler Narrheit."

(Shakespeare, Coriolan)

1. Zu meinen polemischen Methoden)

Wenn ich dich töte, dann ist das ein bedeutungsloser Unglücksfall; wenn du mich tötest, dann – bei Georg – ist das Mord."

(Aus „Punch": Konstabler zu einem Chartisten)

Unter meinen Kritikern befindet sich Herr Prokopowitsch, Revisionist und infolgedessen „Kritiker“ aus Ehre und Profession. Herr Prokopowitsch nannte seinen Artikel über mich im „Towarischtsch“ Nr. 108 vielsagend „Parteiliche Unverfrorenheit“ – womit er allem Anschein nach zu verstehen gibt, dass er selbst hinter parteiloser Unverfrorenheit stehe.

Herr Prokopowitsch schickt seiner Kritik einige völlig neue und blitzend formulierte Gedanken über das Thema voraus, dass es „Polemik und Polemik" gebe, dass „die geistige Polemik eine ungeheure politische Bedeutung" habe, dass ihr Antagonist „die persönliche Polemik" sei, „die in der Beschimpfung der Persönlichkeit des Widersachers, in seiner Bewerfung mit Schmutz besteht", und erklärt dann, dass gerade ich, Trotzki, in dieser unwürdigen Weise polemisiere, „ohne jedes Maß an fremde Adressen Verleumdungen" richte und „aus dem Gefängnis heraus mit Verbalinjurien um mich werfe". Herr Prokopowitsch führt allerdings keinerlei Beispiele für meine Verbalinjurien und Verleumdungen an. Er erklärt lediglich, dass er mir in meiner Manier, Polemik zu führen, nicht folgen, sondern den – angesichts meiner „intellektuellen Physiognomie" – mühseligen Versuch unternehmen werde, das Problem auf die Ebene der geistigen Auseinandersetzung zu heben.

Verleumdungen und Verbalinjurien sind ganz ohne Zweifel eine böse Sache. Doch auch die Lüge gereichte nach meiner Meinung noch niemandem jemals zur Zierde. Und ich komme nicht umhin zu sagen, dass die mit all ihrer erhabenen Entrüstung vorgetragenen Vorwürfe des Herrn Prokopowitsch, ich verleumdete in meinem Buch die Persönlichkeit meiner Widersacher, beschimpfte und bewürfe sie mit Schmutz, geradezu bösartige Lügen darstellen. Auf den 300 Seiten meines Buches polemisiere ich mit vielen Leuten. Meine Kritik kann sich als ungerechtfertigt, unrichtig, nörglerisch, übertrieben oder talentlos erweisen, aber sie ist immer eine prinzipielle Polemik, immer eine politische Kritik, immer geistige Auseinandersetzung. Politik verwandelt sich – auf gute oder schlechte Weise – immer in konkrete Menschen zurück. Und was ich im politischen Leben für Unwahrheit, Irrtum oder Dummheit halte, steht immer als lebendiger Widersacher oder Feind vor mir. Ich greife ihn an, wenn ich der Meinung bin, die Sache, der ich verpflichtet bin, erfordere dies. Meine Angriffe können ungerechtfertigt, derb und plump sein, niemals jedoch „beschimpfe" ich die Persönlichkeit eines Widersachers um ihrer selbst willen, niemals „verleumde" ich sie oder „bewerfe sie mit Schmutz". Und wenn Herr Prokopowitsch das Gegenteil behauptet, so spricht er die Unwahrheit.

Jene zwei Seiten meines Buches0 über die russischen „Revisionisten", die aus der Partei des Proletariats herausgegangen, aber nicht in die Partei der Bourgeoisie eingetreten sind – ohne Kraft zu Gutem wie zu Schlechtem – und die die Möglichkeit zu literarischer Äußerung nur dank der Tatsache erhalten haben, dass die liberale Gesellschaft sich bereitwillig mit jenem „kritischen Sozialismus“ aussöhnt, der nicht gegen den Liberalismus, sondern gegen die faktisch existierende Sozialdemokratie gerichtet ist –, jene zwei Seiten also, die Herr Prokopowitsch im Auge hat und die eben jetzt aufgeschlagen vor mir liegen, enthalten nicht eine einzige Zeile gegen die moralische Physiognomie des Herrn Prokopowitsch, gegen die Sauberkeit und Uneigennützigkeit seiner Absichten und gegen seinen guten Glauben in seinen Irrtümern.

Da diese zwei Seiten jedoch dem Herrn Prokopowitsch als unrichtig und übertrieben erschienen, untersuchte er, ein Autor, der nur die geistige Polemik kennt, vor allem die Frage, welche persönlichen Gründe meiner Kritik zugrunde liegen könnten. Mein Opponent schreibt: „Herr Trotzki fällt mit besonderem Eifer über mich und eine andere Person her, obwohl (!) weder in unseren früheren Schriften noch in der Zeitung „Bes Saglawija", über die Herr Trotzki aus irgendeinem Grunde besonders erzürnt ist, sein Name auch nur ein einziges Mal genannt wird; das wäre auch einfach unnötig: unsere Zeitung führte nur eine geistige Polemik."A

Ja, ich, Trotzki, der nur persönliche Polemik, Verbalinjurien und Verleumdungen kennt, halte mich für berechtigt, „erzürnt" zu sein und in Fällen, wo ich persönlich in keiner Weise angegriffen bin, über andere „herzufallen" – und dadurch unterscheidet sich meine persönliche Polemik von der geistigen Polemik des Herrn Prokopowitsch, der unverzüglich eine Untersuchung über die Absichten seines Widersachers durchführt und, obgleich er meinen zwei Seiten drei ganze Zeitungsspalten gegenüberstellt, nicht mit einem Wort von dem Charakter meiner Polemik gegen andere Personen spricht: Nun denn, Herr Prokopowitsch, enthält mein Buch durchweg Verleumdungen, oder bin ich in allen anderen Fällen ein ehrlicher Journalist?

Nein, offensichtlich nicht. Herr Prokopowitsch schreibt nämlich, dass mein Name gerade deshalb kein einziges Mal in seiner Zeitung „Bes Saglawija" genannt wurde, weil ich für geistige Polemik ein untauglicher Gegner sei. Wie schade, dass Herr Prokopowitsch für diese entschiedene Behauptung keine genügend präzise Untersuchung angestellt hat: In seiner Zeitung „Bes Saglawija" wird mein Name genannt – und obgleich es in Zusammenhang mit meiner Streitschrift gegen Struve geschieht, wo sich die bösen Eigenschaften meiner Polemik in all ihrer Blöße hätten zeigen müssen, äußert sich der Mitarbeiter von „Bes Saglawija" sehr positiv über meine Broschüre, die er „interessant und talentiert" nenntB. Wenn ich nach den persönlichen Gründen dieses Ausrutschers des Redakteurs einer so sanften Zeitung suchen wollte, müsste ich vermuten, dass Herr Prokopowitsch nicht wisse, wer sich hinter dem Pseudonym L. Tachokijl6? verbirgt [78] und nur deshalb ein solches Lob an die Adresse eines polemischen Journalisten über dessen Broschüre zuließ, der die ehrliche Polemik mit Verleumdungen und Beschimpfungen vertauscht.

Das ist allerdings eine bemerkenswerte Sache! Herr Prokopowitsch sagt zu Beginn seines Artikels geradeheraus, allein schon das Vorwort zu meinem Buch stelle ein „Musterbeispiel" persönlicher Polemik dar, und einige Zeilen weiter spricht er bereits mit heftiger Entrüstung von meiner „intellektuellen Physiognomie" im allgemeinen. Ich habe in meinem Buch gegen den Absolutismus, gegen die Reaktion, gegen den Liberalismus aller Schattierungen und schließlich gegen einige Tendenzen innerhalb unserer eigenen Partei polemisiert. Über all diese Polemik verliert Herr Prokopowitsch nicht ein Wort; er siedelt meine ganze „intellektuelle Physiognomie" in den einzigen zwei kleinen Seiten des Vorworts an, auf denen sein Name erwähnt wird. Hätte mein Entlarver uns nicht vorher darüber informiert, dass er der Ritter der geistigen Polemik sei, müsste man annehmen, Herr Prokopowitsch mache die Beurteilung der intellektuellen Physiognomie eines Publizisten davon abhängig, wie dieser sich ihm persönlich gegenüber verhält.

Das ist eine bemerkenswerte Sache! Irgendwann einmal antwortete ich der „Nascha Schisn“ im „Natschalo“ den Ton dieses meines Artikels nennt Herr Prokopowitsch „völlig geziemend"; indessen bringt mein Vorwort in polemischer Hinsicht nichts, was nicht schon in meinem „völlig geziemenden" Artikel enthalten gewesen wäre. In diesem Artikel sprach ich von meinen Widersachern als von „versteckten „Marxisten“, die sich auf den hinteren Wagentritten einer konstitutionell-demokratischen Zeitung verbergen". Ich versuchte, mit diesen Worten die Lage der russischen Revisionisten zu charakterisieren. Zwei arme Blättchen meines Vorworts waren demselben Problem gewidmet, und sie beinhalten keine schärfere Aussage als die angeführten Zeilen des „völlig geziemenden" Artikels. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Herr Prokopowitsch in jenem Artikel nicht genannt wurde, während im Vorwort sein Name erwähnt ist.

Natürlich hat das keinerlei Bedeutung; trotzdem, wie gut, dass Herr Prokopowitsch sich sofort als ein mit geistiger Polemik arbeitender Publizist zu erkennen gibt: Man müsste ihm sonst ganz entschieden die Mentalität des eingangs zitierten Konstablers aus dem „Punch" zuschreiben!

Die Sache ist allerdings bemerkenswert! Herr Prokopowitsch betont, wie wir bereits wissen, ich sei „aus irgendeinem Grund besonders erzürnt" über die Zeitung „Bes Saglawija“, in der mein Name nicht ein einziges Mal erwähnt worden sei. Das ist, wie wir gesehen haben, nicht richtig. Dafür ist jedoch richtig, dass ich über die Zeitung „Bes Saglawija“ nicht ein Wort verliere. Ich erwähne lediglich die Gruppe der Revisionisten „ohne Namen, ohne Titel", mit dem Namen der Zeitung die wenig ausgeprägte Situation der Revisionisten charakterisierend. Dass ich jedoch erzürnt, ja sogar „besonders" erzürnt sei über eine Zeitung, über die ich weder ein Wort verliere noch überhaupt irgendwie „erzürnt" bin, das hat Herr Prokopowitsch sich einfach aus den Fingern gesogen. Wahrhaftig, bisweilen ist es durchaus nicht leicht, das moralische Pathos des geistigen Polemikers von der schlampigen Erklärung des gekränkten Philisters zu unterscheiden!

Dutzende ähnlicher Bagatellen, nichtiger Stiche und unechter polemischer Grimassen wären einer Prüfung wert, wenn ich mir die Charakterisierung der polemischen Physiognomie meines Widersachers zum Ziel setzen würde; doch da ich von einer solchen Absicht weit entfernt bin, werde ich nicht noch länger dabei verweilen, wie Herr Prokopowitsch mit herablassender (und natürlich parteiloser) Unverfrorenheit und „heißem", wenn auch unerwünschtem „Mitgefühl" meine „durch die lange Haft und die Aussicht auf die Prozeduren von Gerichtsverhandlung und Verbannung" gestörten Nerven abtastet, mit welch edelmütiger Geste erklärt, dass er mir „trotzdem" nicht das „Recht" (!) zugestehen könne, „aus dem Gefängnis heraus mit Verbalinjurien um mich zu werfen": Obgleich ich in meinem Buch nirgends weder vom Gefängnis noch von Gericht und Verbannung noch von meinen Nerven spreche. Doch genug davon! Ich wage allen Prokopowitschs zu versichern, dass meine Nerven ausreichend gut sind, einen Widersacher, aus dem echter und nicht mit Hintergedanken verbundener Zorn spricht, von einem Federfuchser zu unterscheiden, der mit der farblosen Flüssigkeit gekränkter Eigenliebe schreibt. Das ist vorläufig alles, was ich im Hinblick auf meine polemischen Methoden zu sagen für notwendig halte.

Was den „prinzipiellen“ Teil des Artikels von Herrn Prokopowitsch betrifft, so stellt er, wie wir noch sehen werden, eine Reihe von Versuchen dar, der Partei nach den Waden zu schnappen. Der Herr „Kritiker“ muss dabei notwendigerweise eine horizontale Stellung einnehmen, die sich auf seine perspektivischen Dimensionen in höchst unglücklicher Weise auswirkt. Nicht um Herrn Prokopowitschs willen, sondern der Sache selbst zuliebe werden wir versuchen, die tatsächlichen Konturen der Partei wieder richtig zu ziehen und ihre revolutionäre Rolle zu charakterisieren. Es versteht sich ganz von selbst, dass wir zusammen mit dem Leser bei dieser Unternehmung unsere aufrechte Stellung beibehalten werden.

2. Die gehässige Unparteilichkeit des Herrn Prokopowitsch

Ich setze beim Leser eine allgemeine Vertrautheit mit der Geschichte unserer Partei voraus und halte mich deshalb für berechtigt, in der Analyse der Enthüllungen des Herrn Prokopowitsch – und darüber hinaus der Frau Kuskowa – die chronologische Reihenfolge außer acht zu lassen.C Um diese Enthüllungen unverzüglich anzuvisieren und ihre grundsätzliche Bedeutung zu bestimmen, beginnen wir mit der Beurteilung der Taktik der Sozialdemokratie gegenüber dem Petersburger Rat der Arbeiterdeputierten.

Nach der Meinung des Kritikers unserer Partei waren die Arbeiterräte „von ihrer Idee her" Phänomene von ungeheurer Bedeutung. Er schreibt:

Die Sozialdemokraten Ihrer (d. h. meiner) Richtung jedoch, die damals in Petersburg waren, begriffen diese den Räten der Arbeiterdeputierten zugrundeliegende Idee nicht und fielen zu Beginn ihrer Existenz wütend über die „Chrustalewschtschina“ her. Chrustalew selbst gehörte nicht Ihrer Richtung an (fährt Herr Prokopowitsch fort), aber es war genau er, der die große Sache durchführte, indem er die richtige Idee erfasste und mit der ihm eigenen unermüdlichen Energie realisierte. Aber Sie, Herr Trotzki, gerade Sie, was haben Sie damit zu tun?"

Hier führte offensichtlich die Unparteilichkeit selbst Herrn Prokopowitsch an der Hand; zu beginnen wäre damit, dass Herr Prokopowitsch an meiner Person kleben bleibt mit Fragen nach meiner individuellen Rolle, obgleich ich lediglich von der Rolle der Partei sprach. Allerdings ist dies nur ein Detail, und es zeigt das Bestreben meines Kritikers, die Polemik von der „persönlichen“ auf eine „prinzipielle“ Ebene zu erheben; weit wichtiger ist, was er über das Verhältnis zwischen der Partei und dem Rat der Arbeiterdeputierten sagt: Scheint doch aus den Worten Prokopowitschs hervorzugehen, dass sich Entstehung und Entwicklung des Rats einmal auf Initiative eines bestimmten einzelnen Mitglieds und zum anderen gegen den Willen der Partei vollzogen hätten. Da ich nicht glauben will, Herr Prokopowitsch stelle die Geschichte des Rats bewusst falsch dar, sondern annehmen möchte, dass er einfach keine Ahnung von ihr hat, halte ich mich für berechtigt, ihn auf ein Buch zu verweisen, das von den am Rat unmittelbar Beteiligten – unter ihnen auch der Genosse Chrustalew – geschrieben wurdeD. In diesem Rahmen kann ich nur folgendes sagen: Der Rat wurde auf Initiative einer der beiden damals in Petersburg bestehenden sozialdemokratischen Organisationen (der sogenannten Petersburger Gruppe) organisiert; der gedruckte Aufruf, Deputierte zu wählen, wurde von dieser Gruppe herausgegeben. Auf der ersten Sitzung des Rats führte ein Mitglied der Gruppe den Vorsitz. Auf der zweiten Sitzung wurde der Vorsitz auf Vorschlag des Vertreters der Gruppe dem Genossen Chrustalew anvertraut, der auf dieser zweiten Sitzung zum ersten Mal erschien.

Doch das sind im Grunde alles rein formale Details. Weit größere Bedeutung hat die Arbeit, die die Agitatoren der Partei in allen Betrieben und Fabriken durchführten, bei der sie die Arbeiter zur Bildung des Rats aufriefen, seine Aufgaben und Ziele erklärten und seine Losungen formulierten. Für die Bildung des Rats wurde ein gewaltiger Apparat in Bewegung gesetzt, und das war der Apparat unserer Partei. Ich weiß nicht, auf welchen politischen Hinterhöfen Herr Prokopowitsch das Geschwätz von der „Chrustalewschtschina" aufgeschnappt hat; ich persönlich stieß zum ersten Mal in der Zeitung „Rossija" auf diesen Begriff, in einem Artikel zum Wyborger Aufruf, und zum zweiten Mal in dem Artikel von Herrn Prokopowitsch. Für die Partei war der Rat niemals von der persönlichen Färbung des Genossen Chrustalew bestimmt, und er konnte es auch niemals sein, da der Rat eine Angelegenheit der Partei selbst war.

Herr Prokopowitsch spricht von Sozialdemokraten „meiner" Richtung als von den Feinden des Rats. Spreche ich jedoch von den besonderen Verdiensten irgendeiner bestimmten Fraktion? Ich behandle die Rolle der Sozialdemokratie in ihrer Gesamtheit. Soll das etwa für „Sozialdemokraten meiner Richtung" stehen? Ich kenne keine Sozialdemokraten „meiner" Richtung. Menschewiki? Bolschewiki? Ich bin den einen wie den andern gleichermaßen nahe, ich arbeite mit beiden Hand in Hand, und ich bin stolz auf jede revolutionäre Tat, die von der Partei vollbracht wird, unabhängig davon, welche Fraktion dabei die führende Rolle spielte. Genossen, die mit mir zusammengearbeitet haben, wissen, dass ich hier keine Phrasen dresche. Aber das Problem liegt nicht in meiner Person. Welche Sozialdemokraten „fielen wütend" über den Rat her? Natürlich nicht die Menschewiki, die ihn organisierten; soll das heißen: die Bolschewiki? Hat Herr Prokopowitsch vielleicht von der Rolle des Genossen Petrow-Radin gehört, des offiziellen Vertreters der Mehrheit im Rat? Hat er den Namen des Genossen Nemzow jemals gehört, eines der populärsten Delegierten des Rats? Falls er ihn nicht vernommen hat, möge er die Anklageschrift im Prozess gegen den Arbeiterdelegiertenrat durchlesen. Er wird dann erfahren, dass diese Bolschewiki nicht etwa vor Gericht gestellt und verurteilt wurden, weil sie über den Rat „wütend hergefallen" wären, sondern deshalb, weil sie aktiv und energisch, von der Entstehung des Rates an, innerhalb seines Mitgliederkreises arbeiteten. Herr Prokopowitsch wird natürlich verstehen, wieso ich nicht viele andere Namen aufzähle. Es ist richtig, es gab zwischen den beiden Fraktionen – wie auch innerhalb der einzelnen Fraktionen selbst – Meinungsverschiedenheiten in der Einschätzung des Rats, seiner möglichen Rolle und seines Verhältnisses zur Partei. Es wäre erstaunlich, wenn angesichts des neuen gewaltigen Phänomens, das der Rat darstellte, solche Meinungsverschiedenheiten nicht entstanden wären. Bei allen besonders wichtigen politischen Fragen jedoch traten beide Fraktionen vollkommen solidarisch auf, und die politischen Anträge, die im Rat im Namen der Partei eingebracht wurden, sind vom Rat immer angenommen worden. Welch gewaltige Unterstützung leistete der Rat der Parteipresse! „Novaja Schisn'", „Natschalo" und vor allem die „Russkaja Gazeta", deren Verbreitung in den Arbeitervierteln kolossal war, kommentierten jeden Schritt des Rats und schufen rings um ihn eine Atmosphäre der Öffentlichkeit und des Vertrauens, ohne die er nicht hätte existieren können. Die Partei, die den Rat organisiert hatte, stellte ihm sofort einige Dutzend Berufsagitatoren zur Verfügung; sie halfen dem Rat, jede Entscheidung in die Realität zu überführen. Die „Iswestija" des Rats wurden von Publizisten der Partei geschrieben. Aber wichtiger als all das ist wohl die Tatsache, dass die Partei durch ihre lange illegale Arbeit in breitem Rahmen Kader aus bewussten Arbeitern erzogen hatte, aus deren Mitte das Petersburger Proletariat seine Deputierten wählte.

Ist dem Herrn Prokopowitsch bekannt, dass die Mehrheit dieser Deputierten entweder unmittelbar der Parteiorganisation angehörten oder die Schulung der Partei durchlaufen hatten? Ist dem Herrn Prokopowitsch bekannt, dass sich unter den 50 Mitgliedern des Rats, die von der Staatsanwaltschaft aufs Geratewohl herausgegriffen wurden, wenigstens 35 Sozialdemokraten befanden? Ich kann die Mentalität des Herrn Prokopowitsch nicht begreifen, der – obgleich völlig im unklaren über die kolossale Arbeit, die von der Partei für den Rat, im Rat und rings um den Rat durchgeführt wurde – es für passend und angebracht hält, sich auf den Bauch zu legen, um irgendein nichtiges Geschwätz von der „Chrustalewschtschina" aufzuklauben und meiner Behauptung, die Partei habe hier eine große Sache durchgeführt, entgegenzustellen.

Aber waren Sie vielleicht bei der Eisenbahnergewerkschaft beteiligt", fällt Herr Prokopowitsch über mich her, „Sie persönlich und Leute Ihrer Richtung? Diese Gewerkschaft sprach in den Oktobertagen ein entscheidendes Wörtchen mit!" Nein, erwidere ich mit einiger Verlegenheit, ich war nicht bei der Eisenbahnergewerkschaft dabei: Sollte ich etwa irgend etwas in dieser Art gesagt haben? Und waren bei der Gewerkschaft Leute „meiner Richtung" im Spiele? Soll das heißen: Sozialdemokraten? Arbeiter unserer Partei? Und ob! Sie waren an ihrem Auftreten in großartiger Weise beteiligt und spielten an vielen Orten die führende Rolle. Wiederum ist jedoch etwas viel gewichtiger als all das: die lange Vorbereitungsarbeit, die die Partei im Eisenbahner-Proletariat durchgeführt hat. Die Eisenbahnwerkstätten sind immer Hochburgen der Partei gewesen. Die Arbeiter der Eisenbahnwerkstätten standen vielerorts bei der Durchführung von Streiks an führender Stelle, indem sie die schwankenden Angestellten der Verwaltung mach Hause schickten und die Züge auf den Bahnhöfen festhielten. Wäre der Eisenbahnerstreik im Oktober denkbar gewesen ohne all die vorangegangene mehrmonatige heroische Streikbewegung, in der die Sozialdemokratie sogar laut Peter Struve eine gewaltige Rolle gespielt hat (nicht umsonst beschuldigte er sie, Massenstreiks in politischem Interesse proklamiert zu haben)? Wäre der Generalstreik ohne die Meetings in der Universität denkbar gewesen, die die allgemeine Stimmung in starkem Maße hoben und der ganzen weiteren Bewegung einheitliche politische Losungen verliehen, was im Oktober die außerordentlich fehlende organisatorische Einheit ersetzte? Aber vielleicht weiß Herr Prokopowitsch, dass die Universitäten auf die Initiative unserer Partei für Meetings geöffnet wurden und dass auf diesen Meetings sozialdemokratische Redner eine nahezu uneingeschränkte beherrschende Stellung einnahmen? Nur ein Staatsanwalt, der Rädelsführer für einen Aufruhr braucht, den jedoch die bewegenden Ursachen eines Ereignisses nicht interessieren, kann den Oktoberstreik der Eisenbahnergewerkschaft in die Schuhe schieben. Die Eisenbahnergewerkschaft war im Grunde jedoch kein Rädelsführer; es ist bekannt, dass sie einen Streik erst für Januar vorgesehen hatte – zum Zeitpunkt der geplanten Dumaeinberufung. Der Oktoberstreik entstand ohne den Willen auch nur einer Organisation; unter all den Organisationen jedoch, die seine Entstehung und Entwicklung unmittelbar oder mittelbar förderten, nahm die Eisenbahnergewerkschaft unbestreitbar den ersten Platz ein.

Über die vorangegangenen Ereignisse des Jahres 1905 sagt Herr Prokopowitsch: „Der 9. Januar ging ohne die Sozialdemokratie vorüber." Wenn wir weiter unten zu Frau Kuskowa übergehen, werden wir zeigen, dass das nicht richtig ist. „Der völlige Bankrott der Partei am 1. Mai gab der Opposition Kraft." Welcher Bankrott? Der Misserfolg der Demonstration am 1. Mai in Petersburg, die von einer der beiden lokalen Organisationen vorbereitet wurde – das wäre ein Bankrott der Partei gewesen? Sollte das heißen, dass jeder erfolglose lokale Streik den Bankrott einer Gewerkschaft auf nationaler Ebene bedeutet? „Unter dem Einfluss eines einzigen Anhängers des ,Rabotscheje Djelo' begann zunächst schwach, dann stärker die Arbeit um die Organisation der Gewerkschaften." Wie simpel! Und die Sozialdemokraten, die jetzt überall die jungen Gewerkschaften führen, sind offensichtlich in den letzten Monaten von dem „einen alten „Rabotscheje Djelo"-Anhänger hastig vorbereitet worden? Und dieser „Rabotscheje Djelo"-Anhänger ist sicherlich vom „Sojus Oswoboschdenija“ erzogen worden und hat die Gewerkschaften im Kampf gegen die Sozialdemokratie organisiert? Mit welchem vernünftigen Grund stellt man mir, wenn ich von den Verdiensten der Sozialdemokratie spreche, einen „Rabotscheje Djelo"-Anhänger entgegen, der doch das Mitglied einer der Fraktionen der Partei ist?

Aber „Sie vertreten doch die blanquistische Richtung", widerspricht mir Herr Prokopowitsch. Nein, keineswegs. Ohne einstweilen auf die Prüfung dessen einzugehen, was Herr Prokopowitsch unter Blanquismus zu verstehen beliebt, sage ich: Mein Denken operiert mit der tatsächlich existierenden Partei, mit eben jener Partei, die zu Anfang als „Gruppe der Befreiung der Arbeit" entstand, die in zahlreichen Zirkeln sozialistische Propaganda entwickelte, im Jahre 1898, gestützt auf diese Zirkel, den großen Versuch unternahm, die Einheit der sozialdemokratischen Partei als der Verkünderin der Einheit des proletarischen Klassenkampfes zu proklamieren, die zu breiter ökonomischer Agitation und zur Führung zahlloser Streiks überging, die eine gewaltige politische Agitation entfaltete, die jedem revolutionären Hervortreten des Proletariats die Einheitlichkeit der Losungen verlieh, für die Führung dieses Hervortretens einen zentralisierten illegalen Apparat schuf und im Jahre 1903 ihr Programm ausarbeitete. Diese Partei habe ich im Sinn mit all ihren Schattierungen und Strömungen, mit ihren Meinungsverschiedenheiten und fraktionellen Reibereien und Irrtümern, mit den extremen Ausprägungen ihrer Entwicklung, mit all ihren Wachstumskrankheiten. Ich habe die Schulungsleute im Sinn, die Ökonomisten, die „Rabotscheje Djelo"-Anhänger, die Bundisten, die Iskristen, die Bolschewiki und Menschewiki. Oder klarer noch: Ich habe weder die einen noch die anderen speziell im Sinn, sondern das reale allgemeine Ganze, das all diese Strömungen und Fraktionen in bestimmte Etappen des komplizierten Prozesses der Vereinigung des Sozialismus mit der Massenbewegung des Proletariats überführt. Ich nehme innerhalb dieser Partei in jedem gegebenen Augenblick eine unzweideutige Position ein; ich setze mich für das ein, was ich für richtig halte, und kämpfe gegen das, was mir falsch erscheint. Aber ich fühle in meinem innerparteilichen Kampf immer den Boden der Praxis der Gesamtpartei unter den Füßen, wobei ich mich auf die Eroberungen und Traditionen der Partei stütze und nicht bereit bin, auch nur eine aus ihren Entwicklungsphasen herauszustreichen. Ich, ein „Blanquist" nach der Bestimmung des Herrn Prokopowitsch, behaupte, einen recht tiefen Parteipatriotismus und eine etwas komplexere Vorstellung von den Entwicklungslinien der Sozialdemokratie zu besitzen, als ich sie bei meinem Widersacher feststelle. Und diese meine Vorstellung sagt mir: Es ist falsch, dass der Oktoberstreik oder Oktoberaufstand in Abwesenheit der Sozialdemokraten einer kleinen Organisation, Eisenbahnergewerkschaft genannt, entstanden sei; es ist nicht richtig, dass bei Entstehung und Entwicklung der Arbeiterräte die Energie eines einzelnen Mitglieds entscheidende Bedeutung gehabt habe; es ist nicht richtig, dass die Bildung der Gewerkschaften von irgendeinem bestimmten Anhänger des „Rabotscheje Djelo" ausgegangen sei; und es ist dreimal falsch, dass all dies gegen den Widerstand unserer Partei durchgeführt worden sei. Wenn das irgendein Herr Kutler gesagt hätte, der erst gestern von der Existenz dieser Fragen von den Kadetten unterrichtet worden und noch nicht dazu gekommen wäre, sich den bürokratischen Schweiß von der politischen Stirne zu wischen, dann könnte man lächeln und wohlwollend den Kopf schütteln. Aber wenn ein politischer Publizist so spricht, ein „Soziologe", ein „kritischer Sozialist“ und ehemaliges Mitglied unserer Partei, dann kann man nur den Schluss ziehen, dass allein der lange verborgene kochende Zorn eines ausgedienten Politikers, der giftige Hass der Ohnmacht gegenüber der politischen Kraft solche karikaturistisch verzerrten Behauptungen und sichtlich unsinnigen Gedanken einzuflößen imstande sind.

Aber, so ruft unser Widersacher aus, „weshalb belehren Sie mich dass die sozialdemokratische Sache eine große Sache sei? Ist doch der Revisionismus nur eine der Richtungen des sozialdemokratischen Denkens und im Westen sogar ein Flügel der Partei! Offensichtlich", korrigiert er mich, „wollen Sie etwas anderes sagen: dass nämlich gerade die blanquistische Richtung in der Sozialdemokratie, der Sie angehören und die jetzt dahinschwindet, große Dinge vollbracht hat."

Ich wollte lediglich das sagen, was ich sagte – nicht mehr und nicht weniger. „Die Sache der Sozialdemokratie ist eine große Sache" – diese Formulierung ist ein solcher Gemeinplatz, dass sie beinahe schon allen Inhalts beraubt ist. Sogar Herr Struve würde sie unterschreiben, der seiner offiziellen Stellung nach ein rechter Kadett, seiner Meinung nach ein Mirnoobnowlenz ist. Muss noch erläutert werden, worin die „Sache" der Sozialdemokratie besteht? Unglücklicherweise nämlich zeigt sich in jedem Land – in Russland und Finnland wie in Deutschland und Frankreich –, dass die konkrete Sache, die die bestehende Sozialdemokratie vollbringt, sehr wenig mit der „Sache" gemein hat, die ihr die nationale bürgerliche Demokratie zu erfüllen vorschreibt. Nein, in dem Vorwort über das Herr Prokopowitsch herfällt, äußerte ich einen viel bestimmteren Gedanken: Ich sagte, dass die russische Sozialdemokratie, jene, die faktisch existiert, jene, in der die russischen Revisionisten für sich keinen Platz mehr fanden, eine gewaltige historische Aufgabe erfüllte.

3. Ist es wahr, dass wir eine Intellektuellenpartei sind?

In letzter Zeit fanden sich in den bürgerlichen Zeitungen geflügelte Worte zur „Bestimmung" unserer Partei: Die russische Sozialdemokratie – gemessen an ihrem Mitgliederbestand, eine Intellektuellenpartei – gemessen an ihrer Taktik, eine blanquistische Partei. Herr Struve setzte diese Charakteristik als einer der ersten in Umlauf. Sie bürgerte sich ein. Und jetzt sprechen all die Tagelöhner und Kulis der liberalen Presse mit solchem Aplomb von unserem Blanquismus, dass der naive Leser glauben könnte, sie hätten tatsächlich begriffen, worin der Marxismus sich vom Blanquismus unterscheidet. Man muss allerdings sagen, dass die bürgerlichen Publizisten diese beiden Begriffe unserer innerparteilichen Polemik entnommen haben. Ist ihre Berechtigung dazu ausreichend? Wir werden diese Frage rasch zu beantworten suchen.

Ist es wahr, dass wir eine Intellektuellenpartei sind?

Übrigens – gibt es überhaupt in Russland eine sozialdemokratische Partei? Vor ganz kurzer Zeit erklärte Herr Peter Struve mit jener Entschiedenheit, von der sein ganzes Auftreten gegenüber seinen linken Widersachern gekennzeichnet ist, dass eine sozialdemokratische Partei bei uns nicht existiere. „Links von der Partei der Volksfreiheit", sagt er im „Retsch", „gibt es keine politischen Parteien im eigentlichen Sinn des Wortes. Sie werden sich vielleicht herausbilden, doch das ist eine Sache der Zukunft."E Mit dem ihm eigenen „Genossen"-Mitgefühl (mit Peter Struve oder der Sozialdemokratie?) druckte der „Towarischtsch" seinerseits diese Zeilen ab.

Das heißt, es gibt links von den Kadetten keine Parteien, und es ist sogar noch fraglich, ob sie sich überhaupt herausbilden werden. Offensichtlich existieren rechts von ihnen solche Parteien. Offensichtlich besitzen der „Bund des russischen Volkes", der „Bund des 17. Oktober" oder die „Gesellschaft der friedlichen Erneuerung“ oder sie alle jene Eigenschaften und Qualitäten einer politischen Partei, die der russischen Sozialdemokratie abgehen.

Wir erlauben uns, die politische Physiognomie unseres Landes in einer etwas anderen Art zu betrachten. Falls es in Russland überhaupt eine politische Formation gibt, von der man mit Bestimmtheit sagen kann: Das ist eine Partei, die ohne jeden Zweifel vorhanden ist und der die Geschichte den morgigen Tag garantiert hat – so denken wir, dass das ausschließlich die Sozialdemokratie ist.

Betrachtet man die formalen Kennzeichen einer Partei – Programm, Taktik, Disziplin –, so nimmt die Sozialdemokratie hier ohne Zweifel den ersten Platz ein. Tradition, Erfahrung und die Fähigkeit, die Arbeit unter allen Bedingungen durchzuführen – diese unentbehrliche Fähigkeit, die die tiefe Hingabe an die Sache durch die Mitglieder der Partei zur Bedingung hat – können die Kadetten etwa in diesen Dingen die Konkurrenz mit der Partei des Proletariats aufnehmen? Die Mitgliederzahl? Die Kadetten haben 100.000 Mitglieder, unsere Partei hat 150.000. Wichtiger als diese Zahlen ist allerdings der soziale Bestand einer Partei. Was lässt sich in dieser Hinsicht von den Konstitutionellen Demokraten sagen? Auf wen stützen sie sich? Auf alle und auf niemanden. Nach den Worten Struves muss die Partei der Volksfreiheit „im Strudel unserer Demokratie stehen und agieren". Sie muss, wie sich Herzen ironisch über die Pläne Bakunins ausließ, Gutsbesitzer, Bauern, Priester, Generäle, Frauen, Vögel und Bienen vereinen. Auf wen jedoch können die Kadetten sich jetzt mit voller Sicherheit stützen? Auf wen rechnen sie sich morgen stützen zu können? Diese Partei weist einige 15 Monate ihres Bestehens auf eine zu kurze Frist, als dass man ernsthaft von ihrer Lebensfähigkeit sprechen könnte. Es ist richtig, bei den ersten Wahlen errang sie einen geräuschvollen Sieg. Ist das jedoch ihre Eroberung, ihr Verdienst? Bereitete etwa sie diesen Sieg vor? Nein, der Sieg fiel auf sie nieder und zerbrach ihr mit einem Schlag das Rückgrat: Vom Skelett der Partei lösten sich die Semstwo-Elemente, ihre Stütze und Hoffnung, und rutschten ins Lager der „konstitutionellen“ Reaktionärs. Die Kadetten befanden sich vor dem rätselhaften „Strudel" der Demokratie, der ihnen seine Stimmen nur deshalb gab, weil sie die einzige oppositionelle Urne darstellten. „Strudel" der Demokratie! Aber wie sich seiner bemächtigen? Welche seiner Elemente kann man um sich zusammenschließen? Die Kadetten stellen einstweilen darüber nur im Kaffeehaus-„Strudel" ihrer Leitartikel Vermutungen an. Sie werden darin auch nicht die Andeutung einer wirklichen sozialen Analyse der russischen Gesellschaft finden.

Worauf also stützt sich die hochgestochene Behauptung von Herrn Struve? Beflügelte ihn vielleicht das Schicksal der preußischen Progressisten, mit denen die Kadetten so viel gemeinsam haben? Wie jedoch bekannt sein dürfte, ist das kein heiteres Schicksal. Die deutsche Sozialdemokratie entwickelte sich im Kampf mit den deutschen Kadetten, und von diesen sind jetzt nur noch Hörner und Knochen übrig. Befinden sich die russischen Kadetten in einer günstigeren Lage? Wir glauben nein. Vor acht Jahren ließ Herr Struve sich folgendermaßen über das Schicksal des russischen Liberalismus aus:

Je weiter nach dem Osten Europas, um so schwächer, feiger und niederträchtiger ist die Bourgeoisie und um so größere kulturelle und politische Aufgaben fallen dem Proletariat zu."

Nachdem er Redakteur der „Oswoboschdenije" geworden war, sagte er dem rassischen Liberalismus das „preußische Schicksal“ voraus, wenn er sich allein im Kampf, nicht jedoch in der „Zusammenarbeit mit der russischen Sozialdemokratie zu entwickeln hoffe. Und jetzt zeigt es sich, dass die russische Sozialdemokratie überhaupt nicht existiert: Und der „Towarischtsch“ führt in schweigsamer Ehrerbietung diese Expertise des liberalen Menschikow an.

Nein, die russische Sozialdemokratie existiert – trotz der um Glaubwürdigkeit bittenden Aussagen einiger Fahnenflüchtiger. Und wenn die wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung und die politische Erfahrung Europas irgendeine Bedeutung besitzen, dann braucht unsere Partei den morgigen Tag nicht zu fürchten. Ist es jedoch richtig, dass wir jetzt eine Partei der Intelligenz sind? Es ist schon seltsam, dass diese Frage überhaupt gestellt wird. Dass die russische Sozialdemokratie nicht nur ihrem Programm, sondern auch ihrem Bestand nach eine proletarische Partei ist, lässt sich ebenso schwer beweisen wie jede andere Binsenwahrheit. Das bekräftigen alle Tatsachen, die in irgendeiner Beziehung zum Leben der Partei und des Proletariats stehen. Man fertige eine Statistik der politischen Häftlinge an, und man wird sehen, wie viel Prozent von ihnen sozialdemokratische Arbeiter sind. Man erinnere sich des Prozesses des Rats der Arbeiterdeputierten, der Aussagen der Zeugen aus den Reihen der Arbeiter über die politischen Ansichten des Petersburger Proletariats. Man erinnere sich der gewählten Arbeiterdelegationen in den Kommissionen von Schidlowski, Kokowzow und Filosow, man erinnere sich des Rates der Arbeitslosen – all diese Tatsachen sind bei weitem deutlicher als eine reine Aufstellung der Mitglieder der Partei und werden eine Vorstellung über Rolle und Bedeutung der Sozialdemokratie unter den Arbeitern vermitteln. Wenn das Geschwätz von dem „intellektuellen" Charakter der Partei durch irgend etwas glaubwürdig erscheint, dann dadurch, dass der gewaltige und unerschütterliche politische Einfluss der Partei im Proletariat im organisatorischen Aufbau der Partei noch nicht den entsprechenden Ausdruck gefunden hat: Die Intelligenz besitzt zu großen Einfluss in den Parteikomitees, auf den Kongressen, in der Presse etc. In welchem Maß das gerechtfertigt ist und inwieweit die Partei selbst und nicht äußere Bedingungen die Schuld daran tragen, dazu soll hier nichts gesagt werden. Wir betonen hier nur, dass die Frage des übertrieben „intellektuellen“ Charakters der Partei in unserer eigenen Parteiliteratur entstanden ist – als Reflex der Disproportionalität zwischen organisatorischem Mechanismus der Partei und dem gewaltigen Umfang des Gebiets, auf das sich ihr unmittelbarer Einfluss erstreckt. Das ist ein Problem der inneren Strukturen der Partei, nicht jedoch ein Problem ihrer sozialen und politischen Konturen – und deshalb haben bürgerliche Publizisten hier nichts verloren.

In diesem Zusammenhang ist jedoch besonders interessant, dass diese Herren Schwätzer Kadetten sind: Sie richteten in ihrer Partei ein Sekretariat für die Arbeiterfrage ein, das keine engere Verbindung zum Proletariat besitzt als die entsprechende Kommission des Stolypinschen Ministeriums.

4. Ist es wahr, dass wir eine blanquistische Partei sind?

Unter der Feder irgendeines „Theoretikers“ von „Retsch" oder vom „Towarischtsch" bedeutet der Terminus Blanquist nichts, weil er zu viel beinhaltet. Für den Kadetten ist jeder ein Blanquist oder ein Jakobiner, der kein Kadett ist. Rechts Jakobiner, links Jakobiner und in der Mitte das konstitutionell-demokratische Zentrum – das ist das kadettische Schema unseres politischen Lebens. Den „kritischen Sozialisten“ des „Towarischtsch" erscheint jeder Marxist, jeder revolutionäre Sozialdemokrat als Blanquist – und wenn man ihrer Diagnose Glauben schenken will, ist unsere gesamte Partei von der Pest des Blanquismus infiziert.

Man sollte sich eigentlich bei dieser furchteinflößenden Diagnose gar nicht aufhalten, die unsere Partei in keiner Weise charakterisiert, dafür aber sehr wohl die Geistesrichtung der opportunistischen Reformisten. Der Vorwurf des Blanquismus wurde von den Herren Kritikern jedoch ebenfalls der Polemik innerhalb unserer Partei entnommen, und: diese Herkunft verleiht ihm gleichsam ein Etikett von Stichhaltigkeit. Allerdings kostet es wenig Mühe, sich von der Unrichtigkeit dieses Etiketts zu überzeugen.

In unserer Partei kämpften während der beiden letzten Jahre zwei Fraktionen gegeneinander; sie besaßen abwechselnd die Oberhand, zwei Fraktionen, die in Ermangelung inhaltlich treffender politischer Bezeichnungen die reichlich unpassenden Namen „Mehrheitler" und „Minderheitler“ tragen. Die polemische Literatur beider Fraktionen ist sehr reichhaltig – zu reichhaltig: Ich kann das um so gelassener konstatieren, als ich selbst in der ersten Zeit daran teil hatte. Aus verschiedenen Anlässen und in verschiedenen Fällen beschuldigten die Bolschewiki die Menschewiki des Opportunismus und des Bernsteinianertums, die Menschewiki etikettierten ihrerseits die Bolschewiki mit den Bezeichnungen Jakobinismus und Anarcho-Blanquismus. Ich will keineswegs behaupten, dass diese wechselseitigen Anwürfe völlig ohne Inhalt gewesen wären – natürlich kam auch das vor, aber das lässt sich kaum vermeiden, wenn einmal zwei Fraktionen existieren. Es ist jedoch für mich allgemein ganz unbezweifelbar, dass sich hinter dieser innerparteilichen Polemik, die nicht immer die entsprechenden Proportionen einhielt, ganz reale Widersprüche in der Entwicklung unserer Partei verbergen.

Die russische Sozialdemokratie formiert sich unter beispiellosen Bedingungen: Obgleich sie durch die Tatsache ihrer Existenz selbst zu einer Massenpartei geworden ist, sieht sie sich gezwungen, im Untergrund zu leben; obgleich sie die Klassenpartei des Proletariats ist, muss sie sich in ihrer Taktik der bürgerlichen Revolution anpassen; und obgleich sie schließlich vor so komplizierten Aufgaben steht, stützt sie sich auf Massen, die politischer Kultur erst seit kurzer Zeit teilhaftig sind. Unter diesen Bedingungen brachte die Entwicklung der Partei eine Reihe von Gefahren mit sich, die mitunter real, mitunter jedoch einfach nur Projektionen sind.

Der Zwang, im Parteiaufbau eine so reale Größe wie die politische Polizei zu berücksichtigen, stieß mit der Notwendigkeit zusammen, den Parteiapparat in die demokratische Organisation der selbsttätigen Masse zu verwandeln. Die Notwendigkeit einer prinzipiellen Taktik erforderte einen gut durch konstruierten und geschmeidigen Apparat; der explosive Charakter der revolutionären Ereignisse, das Hervortreten neuer Volksschichten, der Wechsel von Sturm und Windstille – all das erschwerte die Arbeit für die Bildung einer ausgeformten Parteiorganisation in extremem Maße. Die Gefahr, sich von der Masse zu lösen, stand der Gefahr gegenüber, sich in der Masse aufzulösen. Sozialdemokratische Taktik ist nicht möglich, ohne das Proletariat der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gegenüberzustellen. Die Erfordernisse der „nationalen" Revolution indessen verlangten gerade die Vereinigung der Aktivitäten von Proletariat und Bourgeoisie. Die Notwendigkeit einer voll ausgebildeten Taktik gegenüber dem Liberalismus wurde behindert durch die chaotische Natur des Liberalismus selbst, der seinen Entwicklungszyklus noch nicht vollendet hatte. Den politischen Ausdruck des Klassenkampfes künstlich zu forcieren hieß der Revolution eine rückläufige Richtung geben. Die Gegensätze abzustumpfen bedeutet, die Klasseninteressen des Proletariats aufzugeben und die Revolution wiederum, diesmal vom anderen Ende her, zu bremsen: „Gefahren" bei jedem Schritt. Die einzelnen Bedürfnisse der politischen Entwicklung drückten sich in fraktionellen Plattformen aus, die feindlich aufeinanderstießen. Die Antithesen: Ökonomismus – Politizismus, Demokratismus – Zentralismus, Anbetung der Spontaneität – Jakobinismus, Opportunismus – Anarcho-Blanquismus, etc. etc. sind unter diesem Gesichtspunkt zu sehen.

Bestimmte Bedürfnisse der Bewegung treten in verschiedenen Perioden mit unterschiedlicher Kraft auf. Auf Grund des revolutionären Charakters der Epoche lösen diese Perioden einander mit großer Schnelligkeit ab. Manchmal gilt es, innerhalb von 24 Stunden umzurüsten: von der Organisierung von Streiks – zu politischer Agitation, von der Agitation – zur Organisierung von Straßendemonstrationen; das Jahr der Kampagne anlässlich des Kriegs; das Streik-Vorspiel; die Periode der mächtigen offenen Organisation der Massen; die Aufgaben des Hervortretens der Massen; die Probleme des Parlamentarismus, erneut die Aufgaben des Hervortretens der Massen und wiederum die Probleme des Parlamentarismus.

Natürlich zieht sich durch all diese Aspekte ein roter Faden. Aber dieser Faden zeigt sich nicht anders als auf dem Weg der Widersprüche. Die Fraktion ergreift die Hegemonie in der Partei, die aus ihren Eigenschaften heraus am meisten in der Lage ist, die Ansprüche der jeweils aktuellen Periode zu erfüllen. Allein schon die Tatsache, dass die beiden Fraktionen der Sozialdemokratie während dieser drei stürmischen Jahre, die so viele neue Gruppen und Parteien entstehen ließen, weiter bestanden, ohne dass eine Fraktion fähig gewesen wäre, die andere aufzusaugen, beweist sehr deutlich, dass keine von ihnen die Bedürfnisse der Arbeiterbewegung in vollem Umfang ausdrückt. Das Eindringen der Organisation in die Massen, die Akkumulation von Erfahrung, die Herausbildung von Führern – mit einem Wort, die Formierung der Arbeiterpartei vollzieht sich nicht auf der Basis planmäßig gezogener Schlussfolgerungen aus theoretischen Prämissen des Programms, sondern auf dem Weg des „Bürgerkriegs“ der Fraktionen und Strömungen. Ohne Zweifel ist das eine sehr wenig „ökonomische) Entwicklungsmethode. Aber sie hat vor anderen den Vorzug, dass unsere Partei sich auf diesem Wege wirklich herausbildet. Wenn wir deshalb von der Sozialdemokratie sprechen und sie der bürgerlichen Demokratie gegenüberstellen, dann haben wir nicht einfach eine Kombination von Fraktionen, nicht die einfache arithmetische Summe von Bolschewiki und Menschewiki im Sinn, sondern ein lebendiges, organisch gewachsenes Ganzes.

Bringt man alle Losungen, Thesen und Deklarationen beider Fraktionen in chronologische Reihenfolge, dann kann man in ihnen ohne Mühe eine Reihe von Widersprüchen entdecken. Das ist von den Polemikern beider Fraktionen auch schon mehrmals durchexerziert worden. Diese Widersprüche haben jedoch nichts mit Prinzipienlosigkeit gemein. Sie rühren daher, dass jede Fraktion, die in jedem gegebenen Augenblick bestimmte Bedürfnisse der Arbeiterbewegung behauptet, ihnen aus ihrer fraktionellen Position heraus kategorischen und absoluten Charakter verleiht. Wir führen keine Beispiele solcher „metaphysischer“ Widersprüche an, da jedem, der über die Entwicklung der Sozialdemokratie nachdenkt, unsere Aussagen von selbst klar sind. Und wer über diese Probleme nicht nachdenkt, dem werden zwei oder drei Beispiele auch nichts sagen.

Es versteht sich von selbst, dass diese allgemeinen Überlegungen, die uns erlauben, mit vollem Vertrauen auf das weitere Schicksal der Partei zu blicken, uns nicht von der Verpflichtung befreien, die von der einen oder der anderen Fraktion ausgegebenen Losungen in jedem gegebenen Augenblick zu analysieren und unter dem Blickwinkel der Klassenpolitik des Proletariats abzuschätzen. Mehr noch: Eine solche Abschätzung erfordert immer die Zurückführung taktischer Fehler auf ein unrichtiges taktisches Prinzip. Wie gering auch der Grad einer Meinungsverschiedenheit sein mag, wir können immer ihre Linien gedanklich bis in alle Unendlichkeit verlängern und unserem Widersacher sagen: Sehen Sie her, Sie sind von der Richtung der sozialdemokratischen Politik abgewichen; wenn Sie diesen Weg noch weiter verfolgen, kommen Sie unvermeidlich zum Blanquismus oder zum Opportunismus, zum Anarchismus oder zum Liberalismus, etc. etc. Eine solche theoretische Operation wird nicht nur methodologisch richtig, sondern auch praktisch nutzbringend sein. Den Partisanenkampf mit falschen Schritten erhebt sie in den Rang eines prinzipiellen Kampfes mit falschen Methoden; damit erleichtert sie den Sieg. Auf diesem Weg kann man zeigen, wie beispielsweise der einseitige Kampf um Bildung und Bewahrung einer zentralisierten revolutionären Organisation, ein Kampf, der eine ganze Reihe tiefer Bedürfnisse der Bewegung ignoriert, in seiner logischen Weiterentwicklung zur Einführung blanquistischer Methoden in die Partei des Proletariats führt, oder wie die einseitige Sorge um die Aufrechterhaltung der Einheit der „nationalen“ Revolution die Außerachtlassung des inneren Klassenmechanismus dieser Revolution erzwingt und unsere Taktik auf den Weg des Opportunismus und Liberalismus führt. Unter diesem Gesichtspunkt ist es klar, dass Bestimmungen wie Blanquismus und Opportunismus in unserer fraktionellen Polemik nur eine sehr bedingte Bedeutung haben. Soweit man in ihnen nicht einfach Versuche sehen muss, den Gegner akustisch zu terrorisieren (was ebenfalls in jeder fraktionellen Auseinandersetzung unvermeidlich ist), bedeuten sie nicht mehr und nicht weniger als das Folgende: Wenn wir irgendwelche Fehler, Abweichungen oder Vorurteile auf die Ebene von Prinzipien erhöben, dieses Prinzip zur Grundlage der Taktik in ihrer Gesamtheit machten und diese Taktik vom Einfluss marxistischer Ideen befreiten, dann erhielten wir eine blanquistische oder eine opportunistische Taktik. Natürlich zeigen sich stets viele überflüssige Wucherungen über einer solchen abstrakt-logischen Konstruktion – ein Ergebnis der fraktionellen Erbitterung, des polemischen Temperaments und alles dessen, was der Kategorie Menschliches, allzu Menschliches zuzuordnen ist. Der tatsächliche Grad der Abweichungen nach dieser oder jener Seite wird daraus ersichtlich, dass beide Fraktionen sich nicht nur auf ein und dieselbe Klassenbewegung stützen, sondern auch im Rahmen einer gemeinsamen Parteiorganisation, auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms verbleiben, wobei beide in ihren theoretischen Zusammenstößen mit dem Instrumentarium des Marxismus operieren.

So haben Blanquismus und Opportunismus1 als Termini in unserer innerparteilichen Polemik einen äußerst beschränkten und bedingten Sinn. Was bedeuten sie, wenn die bürgerliche Kritik sie gegen unsere Partei in ihrer Gesamtheit richtet? Nichts. Oder, wenn man so will, lediglich das, dass die bürgerlichen Publizisten mit der Partei des Proletariats unzufrieden sind und sie völlig umgestaltet sehen wollten: Wie? – nun, ohne Zweifel nach ihrem eigenen Aussehen und ihrer eigenen Gestalt.

5. Die kritischen Sozialisten von der Kadetten Gnaden

Mein Widersacher erreicht den Gipfel der Komik, wenn er erklärt, dass

die Richtung der Sozialdemokratie, die bis in jüngste Zeit beherrschend war, keine Ursache hat, mit den Erfolgen ihrer Taktik zu prahlen und sich mit ihnen uns, den Kritikern gegenüber zu brüsten."

Ich gebe diese Zeilen kursiv wieder, weil sie eine solche Hervorhebung fürwahr verdienen; ich habe Mühe, diesem Widersacher zu widersprechen – einfach aus dem Grund, weil ich nicht weiß, absolut nicht weiß, mit welchen „Erfolgen" der Kritiker man die Erfolge unserer Taktik vergleichen müsste. Ich spreche hier vollkommen ernsthaft. Ich erinnere mich an den Herrn Struve, den Führer der „Kritiker": Natürlich wage ich es nicht, seine Erfolge in Zweifel zu ziehen – aber soweit ich mich entsinne, bestehen diese Erfolge in einem absolut zweitrangigen Amt. Um das zu tun, was Herr Struve tut, braucht man kein „kritischer Sozialist“ zu sein, es reicht völlig aus, Herr Kutler zu sein. Herr Tugan-Baranowski? Herr Bulgakow? Das sind doch wiederum Kadetten. Wer bleibt dann noch? Herr Prokopowitsch und noch einige Journalisten von „Nascha Schisn'"? Wo muss man aber ihre politischen Erfolge suchen? Noch vor ganz kurzer Zeit hielt sich diese Gruppe von Kritikern im „Bund der Befreiung) auf, und als der sich dann in die kadettische Partei transformierte, trat sie aus dieser aus. Es ist eine sehr lustige Geschichte, wie scharfgesichtige kritische Hähne aus den Eiern des „Bundes der Befreiung" bürgerliche Gänse ausbrüteten – und als sie fertig gebrütet hatten, selbst erschrocken mit den Flügeln klatschten, auf eine literarische Hühnerstange flogen, die Federn aufplusterten und sich bislang nicht von ihr herunterwagten. Hat Herr Prokopowitsch diese Erfolge der kritischen Sozialisten bei der Schaffung einer bürgerlichen Partei im Sinn? Weshalb rannte er dann aber selbst vor diesen Erfolgen davon? Nehmen wir jedoch an, dass die Flucht Herrn Prokopowitschs vor den Erfolgen der Taktik des „Bundes der Befreiung" eine Sache seines persönlichen Geschmacks ist, und lassen das beiseite. Doch fragen wir uns bei all dem: Kann man unsere sozialistische Arbeit in den Reihen des Proletariats mit der Arbeit der „Sozialisten" vergleichen, die sich mit dem Rücken zum Proletariat wendeten und sich an Dienstleistungen für die Semstwo-Opposition machten?

Hätte die sozialdemokratische Intelligenz sich seinerzeit diese primitive „kritische" Taktik zu eigen gemacht, gäbe es jetzt mehr als 20.000 oder 30.000 Kadetten, aber das politische Bewusstsein des Proletariats stünde auf einer unvergleichlich niedrigeren Stufe. Herr Prokopowitsch wird vielleicht einwenden, er habe nicht diese Arbeit im Sinn, die im Grunde weder kritisch noch sozialistisch, sondern einfach vulgärer Liberalismus ist. Was aber hat er dann im Sinn? Was genau stellt er unserer Partei entgegen?

Über den Teil der Kritiker, die politisch keinen rechten Platz gefunden haben, schrieben wir in unserem Vorwort:

Ohne Partei, ohne Programm, ohne Taktik, ohne Einfluss, ohne Namen, „ohne Titel", fanden sie abseits bei den Kadetten an einem literarischen Katzentischchen Platz, nähren sich von den Brosamen von der Kadetten Tisch, meckern gegen ihre liberalen Mäzene und kritisieren zugleich überheblich die Sozialdemokratie in ihrem revolutionären Utopismus."

Nachdem Herr Prokopowitsch einen Teil dieses Satzes zitiert und um der besseren Wirkung willen noch rasch hinzu geflunkert hat, er habe „die Verbalinjurien ausgelassen", urteilt er folgendermaßen:

Wir seien kraftlos; wer ist dieses „Wir"? Eine politische Partei? Aber eine politische Partei der Revisionisten existiert nicht in Russland. Eine literarische Richtung? Aber inwiefern hat eine literarische Richtung eine politische Taktik? Offensichtlich nimmt uns Herr Trotzki für etwas, was wir niemals waren. Natürlich kann eine nicht existierende politische Partei weder Kraft noch Einfluss besitzen."F

Das ist alles sehr überzeugend und ausdrucksvoll. Aber erlauben Sie: Sie sagten uns doch soeben, dass die Sozialdemokraten keine Ursache hätten, sich mit den Erfolgen ihrer Taktik gegenüber den Kritikern zu brüsten. Jetzt zeigt es sich, dass es bei den Kritikern selbst nicht nur keine Erfolge gibt, sondern auch keine Taktik, und dass nicht einmal ein Bedürfnis danach besteht. Wie es Ihnen beliebt – doch ist das seltsam; offensichtlich hat die Sozialdemokratie, wie klein ihre Erfolge auch sein mögen, genügend Grund, sich wenigstens mit dem Umstand zu brüsten, dass sie nicht die Position des Revisionismus einnahm, die unter den Bedingungen von Ort und Zeit nicht nur keine Erfolge erlaubt, sondern nicht einmal irgendein Bedürfnis nach Erfolgen zeigt. Die Sozialdemokratie allerdings, meine Herren, ist keine Zeitungsredaktion und kein politischer Familienklub, sie ist eine Partei.

Und deshalb ist es dummes Zeug, wenn Sie fragen: „Inwiefern hat eine literarische Richtung eine politische Taktik?" Sprechen wir etwa von einer Richtung auf dem Gebiet der literarischen Ästhetik? Nein, wir sprechen von einer politischen Richtung, die ihren literarischen Ausdruck in Ihnen sucht. Und wenn diese literarisch-politische Richtung unter den Tatsachen der Realität keinen Platz gefunden hat, so heißt das nur, dass sie irreal ist. Oder treffen Sie selbst vielleicht irgendwelche Präventivmaßnahmen, damit aus der Berührung Ihrer literarischen Richtung mit der lebendigen Realität ja nicht etwas Reales entstehe? Seltsamer politischer Malthusianismus! Wurde in diesem Falle das Erscheinen von „Bes Saglawija" etwa deshalb eingestellt, weil sein Erfolg den Revisionismus in eine politische Kraft zu verwandeln drohte?

Nein, meine Herren „literarische Richtung“! Keine Minute nahm ich Sie „für etwas, das Sie niemals waren" – ich nahm Sie für ein Blatt Zeitungspapier, nicht mehr und nicht weniger. Herr Prokopowitsch gibt jedoch zu verstehen, dass dieses Blatt Zeitungspapier irgendeine größere „literarische" Bedeutung besitze. „Wenn wir auch als literarische Richtung schwach und ohne Einfluss sind", schreibt er, „dann natürlich ist unsre Lage äußerst schwierig." Wir werden den Einfluss von „Nascha Schisn", vor allem in der vor-„konstitutionellen" Periode ihrer Existenz, natürlich nicht negieren, wir nehmen jedoch an, dass das ein politischer, kein literarischer Einfluss war und als solcher völlig im Dienst des bürgerlichen Liberalismus stand. In gewissem Sinn hatte „Nascha Schisn'" ihre „Taktik" – die Taktik der Sammlung der Intelligenz um die Semstwo-Fahne. In der Periode der ersten Wahlen war „Nascha Schisn'" das Organ der kadettischen Wahlagitation. All das bedeutet, dass die Herrn kritischen Sozialisten objektiv nur insoweit Einfluss besitzen, als sie Liberale sind, dass sie sich in der Tat von den politischen Brosamen von der Kadetten Tisch nähren. Die Liberalen duldeten und dulden sie gnädig in der Sphäre ihres politischen Einflusses. Weshalb? Deshalb, weil der „Sozialismus" des Herrn Prokopowitsch ihnen auf der linken Seite Deckung bot; dieser „Sozialismus" nämlich hat seine kritische Spitze ganz und gar gegen die Sozialdemokratie gewendet, nicht jedoch gegen den Liberalismus.

6. Die Sensationen der Frau Kurdjukowa „dans l'etranger"

Die Lehren der Gegenwart stimmen in erstaunlicher Weise mit dem überein, was wir vor 6-8 Jahren gesagt haben … Nicht wir sind es, die den Sozialdemokraten die Leviten lesen, die Realität erteilt ihnen unbarmherzig Lektionen. Wir registrieren nur diese Lektionen und freuen uns der Siege der Realität über ein lebloses Dogma."

Ich bereue beinahe, dass ich diese Arbeit in Angriff genommen habe. Sie zwingt mich, im Müll kleinlicher Ideen ohne System herum zu wühlen, die die – richtigen oder unrichtigen, ohne Zweifel jedoch ernsthaft kritischen – Gedanken aus dem Umkreis unserer eigenen Partei zu bekritteln suchen. Intensive Parteipolemik ist eine Form des Klassenkampfs – und keineswegs die unbedeutendste. Im Augenblick ist unsere Partei der täglichen Presse beraubt, die Hieb mit Hieb und manchmal mit zwei oder drei Hieben beantwortete. Die liberale Presse indessen kritisiert unsere Partei tagaus, tagein; ihre Kritik ist ohne System und Methode, gekennzeichnet von einer Art Zeitungs-Wilddieberei, flüchtigen Anspielungen, abfälligen Floskeln und hinterhältigen Unterstellungen, die mitunter so korrekt in der Form wie empörend unrichtig in der Sache sind. Ich bereue fast, dass ich mich an diese Arbeit gemacht habe.

Sie zu unterlassen war jedoch unmöglich. Eine Partei kann nicht von der Gewissheit leben, dass falsche Beschuldigungen und tiefsinnig versteckte Unterstellungen, die in sich allerdings keinerlei Tiefsinn besitzen, auf lange Sicht unvermeidlich ihren Kredit verlieren, dass „alles vergeht und nur das Recht bleibt". Ja, zu guter Letzt wird sich das unvermeidlich erfüllen. Die Spinnweben und der Kehricht der liberalen und „revisionistischen" Unterstellungen, Belehrungen, Anspielungen und Kommentare jedoch dürfen sich jetzt, in dieser Minute, im Bewusstsein der sozialen Elemente, die wir bei uns behalten und die wir noch erobern wollen, nicht festsetzen. Und das ist nicht alles. Die prinzipienlose Kritik der liberalen Presse, die nicht die notwendige Abfuhr erhält, verzögert nicht nur das äußere Wachstum der Partei, sondern hemmt auch ihre innere Entwicklung. Die Selbstkritik hatte in unserer Partei immer einen enormen Stellenwert und diente als unentbehrliches Instrument ihrer Entwicklung. Bevor jetzt aber irgendein kritischer Gedanke ruhige Einschätzung erfährt, kann die bürgerliche Presse ihn – in Ermangelung einer sozialistischen Presse – durch Sympathieerweisung oder durch missgünstige Wiedergabe kompromittieren. Sie reißt ihn aus dem lebendigen Zusammenhang des Denkens unserer Partei, zerschlägt ihn in einzelne Stücke und schleift diese Splitter, aufgeputzt mit liberalen Clownsmützen und Narrenschellen, durch die Spalten ihrer Zeitungen. Und dann taucht die unsterbliche Mme. de Kourdukoff auf und verleiht ihren „Sensationen und Anmerkungen" den Charakter endgültiger Bestimmungen.

Da ist die Zeitung „Byloe", ihrer eigenen Reklame nach ein Organ der Parteilosen. Sie wird unter der Redaktion des einstigen Marxisten Bogutscharski herausgegeben und ist infolgedessen ein besonders geeigneter Platz für bösartige Ausfälle gegen die sozialdemokratische Partei. Unter dem Mäntelchen der Rezension des ruhigen und rein sachlichen Berichts des Genossen Dan auf dem Amsterdamer Kongress beschreibt Frau Kuskowa darin in pfeifenden und zischenden Tönen die finsteren, blutigen Freveltaten der bösen Verbrecherbande von Sozialdemokraten (Freveltaten gegenüber dem Proletariat oder etwa gegenüber Frau Kuskowa?); die Publizistin unterzieht die Geschichte unserer Partei einer schonungslosen Prüfung und kommt zu dem Ergebnis, dass alles Übel bei uns aus der Missachtung der Hinweise – Frau Kuskowas selbst herrührt; Herr Prokopowitsch seinerseits schreibt:

Wir handelten früher einmal in dieser naiven Weise (zu versuchen, die Sozialdemokraten zu „belehren"), aber das ist schon lange her: gegen Ende der 90er Jahre. Rasch überzeugten wir uns von der Erfolglosigkeit eines solche Unternehmens – und schüttelten den Staub von unseren Füßen."

Was geschah daraufhin? Die Realität gab diesen Herren volle Genugtuung – sagt wenigstens Herr Prokopowitsch, denn die zu Anfang dieses Kapitels angeführten Zeilen stammen von ihm.

Was lehrten und prophezeiten diese Herren vor 6-8 Jahren wirklich? Hier folgt, was sie dozierten:

Die Linie des geringsten Widerstands (in der Arbeiterbewegung) wird bei uns niemals auf die politische Tätigkeit gerichtet sein. Das unerträgliche politische Joch wird dazu führen, dass viel von ihm gesprochen und gerade auf dieser Frage die Aufmerksamkeit gerichtet sein wird, niemals aber wird es zur praktischen Tat führen.“

Die schwachen Kräfte der russischen Arbeiter „stehen (…) vor der Mauer der politischen Unterjochung, und es gibt für sie nicht nur keine praktischen Wege des Kampfes gegen dieses Joch und folglich auch zur eigenen Entwicklung, sondern sie werden von ihm sogar systematisch erstickt und können nicht einmal schwache Keime treiben. Wenn man hinzufügt, dass unsere Arbeiterklasse nicht jenen Organisationsgeist als Erbe übernommen hat, durch den sich die Kämpfe des Westens auszeichneten, so ergibt sich ein niederdrückendes Bild, wie es den optimistischsten Marxisten verzagt machen kann […].

[…]

Das Gerede von einer selbständigen politischen Arbeiterpartei ist nichts anderes als ein Produkt der Übertragung fremder Aufgaben, fremder Resultate auf unseren Boden."

Das ist es, was sie vor 6-8 Jahren prophezeiten und lehrten, das sind ihre Voraussagen, welche das Leben glanzvoll bestätigte! Wir führten soeben die Schlussfolgerungen des sogenannten „Credo" wortgetreu an, das Frau Kuskowa geschrieben hat. Die theoretischen Ausgangspunkte und die Überlegungen der Autorin über den Verlauf der Arbeiterbewegung in Westeuropa übergingen wir wegen ihrer Bedeutungslosigkeit – gelehrte Reflexionen, die in ganz außerordentlicher Weise an die „Sensationen und Anmerkungen" der einst von Mjatlew besungenen Frau Kurdjukova „im Ausland, dans l'etranger" erinnern. Dieselbe Frau Kuskowa führt in ihrer Rezension der Broschüre von Dan einige verhältnismäßig unschuldige, obgleich in ihrer Art relativ ungeschickte Stellen aus dem „Credo" an und erklärt: „Aus dem „Credo" bürgerlichen Liberalismus herauslesen kann nur der, der das „Credo" nicht um einer Idee, sondern um der Schmähung willen gelesen hat." O Frau Kurdjukova! „Bürgerlicher Liberalismus“ ist keine Schmähung, sondern die Bezeichnung einer bestimmten gesellschaftlichen Bewegung. Wenn irgendein origineller Schildbürger – „Sozialist" von der Art Herrn Pesechonows – das nicht fassen kann, so möge der Herr ihm vergeben, wie auch wir ihm vergeben. Aber es ist peinlich für einen „kritischen" Sozialisten, der die Schicksale des Proletariats dans l'etranger untersucht, dies nicht zu wissen! Wir erlauben uns deshalb, unsere so erzürnten Kritikerin vor Augen zu führen, dass aus dem „Credo" bürgerlichen Liberalismus herauszulesen absolut nicht notwendig ist: Es genügt völlig, folgende grundlegende, von der Autorin selbst gezogene Schlussfolgerung zu zitieren:

Es gibt für den russischen Marxisten nur einen Ausweg: Beteiligung am wirtschaftlichen Kampf des Proletariats, d. h. Unterstützung dieses Kampfes, und Beteiligung an der liberal-oppositionellen Tätigkeit."

Liberal-oppositionelle Tätigkeit – das ist ein Synonym für bürgerlichen Liberalismus. Und wer die russischen Marxisten auffordert, phantastische Hoffnungen auf die Schaffung einer Arbeiterpartei fahren zu lassen und sich an der liberal-oppositionellen Tätigkeit zu beteiligen, der ruft sie offensichtlich ins Lager des bürgerlichen Liberalismus. Es ist richtig, dass Frau Kuskowa darüber hinaus noch die „Unterstützung des wirtschaftlichen Kampfes des Proletariats" anempfohlen hat; eine solche Unterstützung jedoch wird vom bürgerlichen Liberalismus nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil von ihm vorausgesetzt. Brennt die konstitutionell-demokratische Bourgeoisie etwa nicht vor Begierde, den Gewerkschaften des Proletariats „Unterstützung" zu erweisen?

Es ist richtig, dass all ihre Unternehmungen in dieser Richtung Versuche mit untauglichen Mitteln darstellen; aber auch die Mittel von Frau Kuskowa zeigen sich doch als ganz und gar untauglich. Es ist auch richtig, dass Frau Kuskowa von den allerbesten Gefühlen gegenüber dem Proletariat geleitet ist, wenn sie die russischen Marxisten ins Lager des bürgerlichen Liberalismus ruft; aber wen, erlauben Sie die Frage, interessieren die allerbesten Gefühle der Frau Kuskowa, wenn sie schon einmal ins Lager des bürgerlichen Liberalismus übergegangen ist und andere mit sich gezogen hat? Dies ist doch schließlich das Faktum! Das steht doch nicht nur im „Credo" geschrieben, sondern das ist auch tatsächlich geschehen! Frau Kuskowa trat aus der Sozialdemokratie aus und in den bürgerlich-demokratischen „Bund der Befreiung" ein. Woraus erklärt sich die allzu vorlaute Versicherung, dass man bürgerlichen Liberalismus aus dem „Credo" nur „um der Schmähung willen" herauslesen könne? Etwa einfach aus der Scham über die Vergangenheit? Ach Frau Kurdjukova! Das ist nicht gut! Verzeihen Sie, aber das erinnert mich an die Moral eines Liedchens: Wenn du zu stehlen wusstest, so wisse das Erworbene auch zu bewahren!

Das ist um so eindeutiger, als man aus dem „Credo" von Frau Kuskowa wie auch aus den damaligen Schriften von Herrn Prokopowitsch keinen anderen Schluss ziehen kann als den einer Aufforderung an die marxistische Intelligenz, in die Reihen der bürgerlichen Opposition einzutreten. Wenn bis zum Zustandekommen (auf welchem Weg?) der politischen Freiheit von der Organisierung einer selbständigen Arbeiterpartei keine Rede sein konnte, ja nicht einmal von einer politischen Agitation innerhalb der breiten Proletariermassen, dann musste jeder Marxist, der weder ein Don Quijote sein wollte noch geneigt war, hinter dem Ofen zu sitzen, sich auf die einzige Ebene begeben, auf der die Möglichkeit zu politischer Tätigkeit offenstand – in den Bereich des bürgerlichen Liberalismus. Eine solche Schlussfolgerung war absolut logisch, und der Sündenfall der Revisionisten liegt nicht darin, dass sie diese praktische Konsequenz folgerichtig zogen, sondern darin, dass sie die Eingebungen des verkürzten „gesunden Menschenverstands" für sichere Grundlagen realistischer Politik nahmen. Und anstatt sich einer logischen Schlussfolgerung zu schämen – ein falsches Gefühl, Gnädigste! – hätte Frau Kuskowa ehrlicherweise den Gedanken der Möglichkeit2 illegaler politischer Tätigkeit in der breiten Arbeitermasse ablehnen müssen: ein durch den Gang der Dinge so grandios zertretenes Vorurteil! Aber gerade das tat Frau Kuskowa nicht. Mit einem Starrsinn, der beinahe rühren könnte, wäre er nicht so lächerlich, beweist sie nun, dass die Ereignisse genau den Weg nahmen, den die Herren M. M., N. N., Petr Iwanowitsch Bobtschinski und Petr Iwanowitsch Dobtschinski im Jahre 1900 prophezeit hatten, während sie im Ausland, dans l'etranger lebten. Im Grunde jedoch ist daran nichts Rührendes: Es ist schlichtweg der kleinliche Versuch, irgend jemandem gegenüber zu beteuern, die Sozialdemokratie habe während dieser sechs Jahre nichts als Dummheiten begangen, und Mme. de Kourdukoff habe deshalb dem Proletariat eine wahre Wohltat erwiesen, als sie sich in den Dienst der liberalen Bourgeoisie stellte. Ach, Gnädigste, die Geschichte kann man nicht betrügen!

Über dasselbe „Credo", das wir oben zitierten, erzählt Frau Kuskowa mit gemütlicher Stimme (und keineswegs in zischenden und pfeifenden Tönen) ein sehr hübsches Märchen: Es waren einmal zwei Menschen, M. M. und N. N., die im Ausland lebten. Sie diskutierten über den orthodoxen Marxismus und über Sterbekassen. Sie lebten in Frieden, und einmal fuhren sie nach Hause. Im Heimatland wurde N. N. Verhaftet – das passiert auch Revisionisten. M. M. jedoch gelangte nach Petersburg und diskutierte dort weiter über die „brandaktuellen Themen des Marxismus". „Einst wandte man sich an M. M. mit der Bitte, seine Ansichten zu strittigen Fragen zu formulieren, damit man sich im Disput auf etwas Geschlossenes und Ganzes stützen könne." Und dann legte M. M. – „als Einzelner, ohne alle Mitbeteiligten", offensichtlich jedoch mit der klaren Fähigkeit, das Vollbrachte einzuschätzen – seine Ansichten „auf einem Notizblock" nieder (wie zum Trotz hatte er weder Pergament noch Papyrus zur Hand). M. M. dachte überhaupt nicht mehr an seinen Notizblock, dieser billige Notizblock jedoch verwandelte sich in das „Credo", rief viel Lärm hervor und wurde auf irgendeine Weise zum „historischen Dokument". Zu guter Letzt stellte sich heraus, dass der Autor des „Credo" nicht irgendein tückischer und gefährlicher Feind des Proletariats war, sondern einfach – Frau Kuskowa. „So wird Geschichte gemacht", liebe Kinder – das ist die Moral dieses zu Tränen rührenden Märchens.

Frau Kuskowa klagt in Kursivbuchstaben, dass Plechanow in seinem Vademecum ihre Privafbriefe veröffentlicht habe; das war möglicherweise sehr indiskret von Plechanow! Diese Briefe sind jedoch trotz alledem von Frau Kuskowa verfasst, und der Umstand, dass sie privat gewesen sind, macht sie keineswegs vernünftiger. Ganz allgemein wäre zu sagen, dass die Klagen von Frau Kuskowa über den allzu großen Bekanntheitsgrad ihrer Privatbriefe und ihrer programmatischen Notizblöcke sehr an die Beschwerde der schon erwähnten Frau Kurdjukova über Joseph Gutenberg erinnern:

Du erfandst die Imprimerie.

Sagen Sie, je vous prie,

Was haben Sie da entdeckt!

Schon jetzt gibt es unter den Leuten

keine Geheimnisse mehr; es ist unmöglich,

ein Wort behutsam zu sagen

Wie beflügelt beginnt dein Bon mot

durch das ganze Universum zu eilen."

Und deshalb muss 6-8 Jahre später auf der einen Seite nachgewiesen werden, dass das „bon mot" zufällig und ohne Mitbeteiligte geprägt worden ist, und auf der andere Seite, dass die Realität gerade so verlief, wie es die Frau Kurdjukova prophezeit hatte, als sie politische Sensationen und Anmerkungen „dans l'etranger", im Auslande zusammenlas! „Sagen Sie, je vous prie", ist das leicht nachzuweisen?

7. Immer in den Reihen des Proletariats!

Natürlich kann man, wie folgt, argumentieren: Die russischen Revisionisten traten doch in die bürgerliche Opposition gerade mit dem Ziel ein, für die Schaffung der notwendigen Bedingungen zur Entwicklung der sozialdemokratischen Partei zu kämpfen. Auf diese Weise brachten sie der Sache des Proletariats ein schweres Opfer: Im Name des Sozialismus sagten sie sich vorübergehend von ihm los, beschnitten sogar ihren Demokratismus und zwangen sich, die muffige Luft des Semstwo-Liberalismus zu atmen. Brachte das Wachstum der bürgerlichen Demokratie, für das die Revisionisten arbeiteten, der Partei des Proletariats etwa nicht unmittelbare Vorteile?

Im großen und Ganzen ist ein solches Urteil völlig richtig. Die Entwicklung der bürgerlichen Demokratie gereicht dem Proletariat ohne Zweifel zum Vorteil – jedoch nur insoweit, als sie sich auf Kosten der Unwissenheit, Zurückgebliebenheit oder Passivität dieser oder jener Gruppen und Klassen vollzieht, nicht aber auf Kosten der sozialistischen Demokratie. Die letztere muss, wenn sie beharrlich um die Erweiterung ihres Einflusses kämpft, in ihrem persönlichen Interesse die progressive Bewegung der bürgerlichen Demokratie unterstützen und sie zugleich in den Rücken „stoßen", nicht jedoch in die Brust. Wenn sich meine Unterstützung der Demokratie darin ausdrückt, dass ich, wenn auch „widerstrebend", die in ihrer Formierung begriffene Partei des Proletariats verlasse und in eine in Formierung begriffene bürgerliche Partei eintrete und andere mit mir ziehe, dann schade ich dadurch der Sache des Sozialismus ganz unmittelbar, obgleich meine weitere politische Tätigkeit, die in ihrem Wesen bürgerlich bleibt, indirekt die Entwicklung der Sozialdemokratie fördern kann. Um der Partei des Proletariats jedoch einen solchen Dienst zu erweisen, muss man keineswegs „kritischer Sozialist“ sein – es reicht völlig, ein Miljukow oder Roditschew zu sein. Letztlich unterstützen doch auch das Wachstum der Technik und die Entwicklung des Prozesses der Warenzirkulation im Lande die Sache der Sozialdemokratie, woraus keineswegs folgt, dass wir nach dem alten Ratschlag, der Narodniki Fabriken aufstellen oder Läden eröffnen müssten. Weiterhin kann man mit vollem Recht bestätigen, dass die Bildung jeder Organisation in den amorphen Volksmassen unabhängig von der subjektiven Absicht ihrer Initiatoren, in der Endaufrechnung, der Revolution und dem Sozialismus zugute kommt. Man braucht diesen Gedanken nur auszusprechen, um sofort die Erinnerung an die Subatowschtschina und die Ereignisse um Gapon zu wecken. „Ist der Lauf der Geschichte einmal festgelegt", zitieren wir die vortrefflichen Worte von Rodbertus, „hilft ihr alles: Wahrheit und Verrücktheit, Gerechtigkeit und Willkür, Segen und Fluch."

Was immer die Absichten der Revisionisten bei ihrem Umzug in den „Bund der Befreiung" auch gewesen sein mögen, sie mussten wissen, dass der objektive Sinn politischer Tätigkeit von ihrer Methode bestimmt wird, nicht jedoch von ihrem subjektiven Ziel. Die Methode äußert sich in Handlungen und Taten, die objektive Existenz erhalten, und es besteht keine Möglichkeit, aus der Realität das herauszunehmen, was gerade in sie eingebracht wurde, hätte man auch selbst auf sein Ziel verzichtet. Herr Struve verfasste das erste Manifest der sozialdemokratischen Partei, in dem er unter anderem von der immanenten Niedertracht des russischen Liberalismus gesprochen hat; und so sehr er jetzt unsere Partei verleumdet und ihre Existenz negiert, das von ihm verfasste Manifest ist untilgbarer Bestandteil ihrer Entwicklung geworden. Die Methode ist alles. Sie ordnet sich letztlich unser Bewusstsein unter, wenn dieses in Widerspruch zu ihr gerät, und unterschiebt uns gegen unseren Willen ein neues Ziel. Ein Sozialist, der um des Sozialismus willen liberale Arbeit leistet, wird sich für gewöhnlich zuletzt selbst in einen Liberalen verwandeln. In Lassalles polit-philosophischem Drama 'Franz von Sickingen" finden sich folgende Zeilen:

Das Ziel nicht zeigezeige auch den Weg,

Denn so verwachsen sind hienieden Weg und Ziel,

Dass Eines stets sich ändert – mit dem Andern

Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt."

Aus diesen vier Zeilen lässt sich eine ganze Philosophie sozialdemokratischer Taktik entwickeln, die immer prinzipiell revolutionär und dabei äußerst realistisch ist. Das Ziel zu seinem subjektiven Eigentum zu machen und dann der individuellen Scharfsichtigkeit von Fall zu Fall die Wahl der Handlungsmethode zu überlassen, heißt auf der Grenzlinie zwischen zwei einladenden Wegen balancieren, von denen einer zum Blanquismus, der andere zum Reformismus führt, der die Gegensätze diplomatisch behandelt. Zwischen dem alten Blanquismus, der den Schwerpunkt revolutionärer Politik auf die Initiative und Entschlossenheit konspirativer Sozialisten legte, und dem zeitgenössischen Opportunismus, der den Schwerpunkt in den Bereich realistischer Geschäfte mit den Agenten der Macht oder den Vertretern bürgerlicher Interessen verlegt, besteht engste innere Verwandtschaft. Beide – der Blanquismus wie der Reformismus – können auf den Namen der Masse schwören, soviel sie wollen: Für beide befindet sich das Wesen der Politik, ihre Quintessenz, ihre Poesie, ihre Ästhetik außerhalb der Masse. Bei dem einen Initiative – beim anderen Takt, hier Verschwörung — dort Übereinkommen: Hier wie dort sind immer große Kulissen notwendig, die die „Führer" von der Masse abschirmen. Und hier wie dort existiert kein Verständnis dafür, dass sozialistische Politik die Masse in der Aktion ist. Tritt man aus der Masse heraus, um abseits etwas für ihre Wohlfahrt zu tun, so ist der Grund dieses Heraustretens ganz gleichgültig: ob man heraustritt, um eine Bombe auf die Kutsche Plehwes zu schleudern oder um unter Ausnutzung des Effekts dieser Bombe um den Semstwo-Kongress in Moskau herum zu scharwenzeln. Sozialistische Taktik kann weder Bomben noch den Semstwo-Kongress ignorieren; sie kalkuliert das eine wie das andere ein, jedoch nicht außerhalb des Proletariats, sondern aus seiner Mitte. Das schlummernde Klassenbewusstsein der Masse aufwecken, organisatorische Kerne in ihren chaotischen Lebenskreis einführen, Arbeiter als Führer in jeder Fabrik, in jedem Handwerksbetrieb, heranziehen, die uneinheitlichen Teile des großen Ganzen vereinheitlichen – falls möglich, durch eine materielle Organisation, und falls da nicht möglich ist, durch die, wenn auch nicht-materiellen, Fäden der Klassensolidarität –, das ist die wirkliche sozialistische Sache, das ist die Arbeit, die unsere Partei unter den grauenhaften Bedingungen autokratischer Tyrannei ehrenhaft durchgeführt hat und durchführt und die ich im Vorwort zu meinem Buch „eine große Sache" genannt habe. Die' geistig armen Klugschwätzer und die von ihrer persönlichen Unbedeutendheit vergifteten Skeptizisten fletschen bei meinen Worten die Zähne. Aber hinter ihren höhnisch gebleckten Zähnen schimmert allein ihr skrofulöses Philisterseelchen, und nichts Größeres. Und nichts Größeres!

Wir sind immer der Meinung gewesen, dass jedes kleinste Körnchen, das es uns in die Vorratskammer des sozialistischen Bewusstseins einzubringen gelingt, unendlich wichtiger ist – nicht nur als die größte Dynamitbüchse, sondern auch als eine große Semstwo-Buß- und Betprozession von Moskau nach Zarskoje Selo, wichtiger nicht nur für unser sozialrevolutionäres Endziel, sondern auch für die nächsten Aufgaben der politischen Befreiung.

Die Behauptung, außerhalb des Proletariats sei kein Raum für politische Tätigkeit, oder die Negierung der Tatsache, dass die Semstwo-Opposition und auch der „Bund der Befreiung" als Vorläufer der konstitutionell-demokratischen Partei eine bestimmte Rolle im Befreiungskampf gespielt haben, wäre naiver politischer Nihilismus. Weil das jedoch gerade so ist, musste die sozialistische Taktik diese ihr äußerliche Arbeit einkalkulieren; dazu aber durften die Sozialisten nicht aus dem Proletariat herausgehen, sondern mussten in seiner Mitte bleiben. Wer die „russischen Marxisten“ zur Tätigkeit im Kreise der liberalen Opposition aufrief, versuchte ein Verbrechen gegenüber dem Proletariat. Der „ungestüme" Kampf der „Iskra", deren Namen unsere Revisionisten nicht anders als mit Schaum vor dem Mund artikulieren, war in erster Linie darauf gerichtet, den besten Teil der Intelligenz geistig auf die Sache des Proletariats zu verpflichten; und wenn die Tendenzen des „Credo" relativ wenig Erfolg hatten, so ist unsere Partei dafür in entscheidendem Maße der glänzenden Kampagne von „Iskra" und „Sarja" verpflichtet.

Was geschah", so fragt mich Herr Prokopowitsch, „was geschah mit den sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen, die sich unter dem Einfluss von Anhängern des „Rabotscheje Djelo" in der voriskristischen Periode gebildet hatten? – Sie wurden zerstört!" klirrt die überführende Stimme.

Kain, wo ist dein Bruder Abel? Du hast ihn getötet. Von dieser Tat der Sozialdemokratie spricht Frau Kuskowa mit tiefer Tragik in der Stimme: „Eine schwarze Seite im Buch der Geschichte" oder „eine düstere Seite im Buch der Geschichte".

Der erhabene Ton dieser Überführung ist äußerst effektvoll und ruft einen fast erschütternden Eindruck hervor; nichtsdestoweniger hat diese Überführung sehr wenig Inhalt. Die Iskristen hätten sozialdemokratische Arbeiterorganisationen zerstört: Wie zerstörten sie sie? Mit welchen Mitteln? Gelang es hier doch nicht einmal der Polizei die Organisationen zu zerstören, obgleich sie weit mehr Mittel und Kräfte besitzt! Wieso gelang das dann den Iskristen? Und auf welche Weise können Organisationen, die den Bedürfnissen der Arbeiterbewegung entsprechen, von einem kleinen Haufen närrischer Intellektueller (denn als solche erscheinen die Iskristen in Ihrer Darstellung) zerstört werden? Wo dann überhaupt die Garantien für eine weitere Entwicklung der Partei suchen, wenn zu jedem beliebigen Zeitpunkt von außerhalb Dutzende von Maniaken kommen können und von den Arbeiterorganisationen kein Stein auf dem anderen bleibt?

Offensichtlich muss ich Ihnen, verehrter Herr, erklären, dass die Arbeiterorganisationen, von denen Sie sprechen, nicht durch irgend jemand zerstört wurden, sondern sich im Wachstumsprozess der Partei und mit der Veränderung ihrer Aufgaben geradezu erst frei gemacht haben. Die alten Gruppen standen ihrem Typus nach syndikalistischen Verbänden wesentlich näher als politischen. Deshalb erwiesen sie sich als völlig unbrauchbar, als die Notwendigkeiten politischer Agitation mit elementarer Kraft an sie herantraten; diese Arbeiterorganisationen wären ohnehin in ihre Bestandteile zerfallen, auch wenn die Iskristen keinerlei höllische Maßnahmen gegen sie ergriffen hätten.

Die „Iskra" selbst war Ausdruck der politischen Bedürfnisse der Bewegung. Die Losungen, die sie aufstellte, waren die geistige Flagge neuer organisatorischer Ansätze, hinter der sich die fähigsten Elemente aus den alten Gruppen sammelten. Wie niedrig wir den von der „Iskra" in die Realität der Partei eingebrachten Beitrag auch einschätzten – ihr Sieg war in jedem Falle und ohne jeden Zweifel das Ergebnis der Überlegenheit der von ihr vertretenen Ideen. Die neuen Bedürfnisse schufen wie immer eine Fraktion, die alten Tendenzen trachteten wie immer, sich zu konservieren. Es siegte natürlich die fortschrittliche Tendenz, und wie immer gab es im Fraktionskampf viele überflüssige Reibungen. Aber drei oder vier Jahre danach ein Klagelied anzustimmen, dass die iskristischen Barbaren eine im Formierungsprozess begriffene Partei zerstört und Arbeiterorganisationen ihren Vorurteilen zum Opfer gebracht hätten, heißt der grandiosen Primitivität des eigenen Denkens Ausdruck verleihen.

Die Periode der „Iskra" lässt die Herren Revisionisten, wie schon oben gezeigt, nicht mehr ruhig schlafen; sie stellen sie dar, wie strenggläubige Chronisten einen Einfall heidnischer Barbaren beschrieben: Sie kamen, zerschlugen und verbrannten alles, schändeten Frauen und Mädchen und erschlugen die SäuglingeG.

Das alles gehört jetzt, wie Herr Prokopowitsch schreibt, der Vergangenheit an:

Jetzt beispielsweise führt einer der sehr geehrten Begründer der russischen Sozialdemokratie eine breite Agitation zugunsten der Einberufung eines Arbeiterkongresses im Unterschied zu einem Parteikongress. Was ist das, wenn nicht die Liquidierung der Periode der Iskra?"

Herr Prokopowitsch spricht so nicht von der Liquidierung der negativen Seiten der „Periode der ,Iskra'" – eine von den „Iskristen" selbst schon längst angegangene Arbeit –, sondern von der Liquidierung der gesamten Partei als eines aus der Epoche des mongolischen oder vielmehr iskristischen Jochs stammenden Missverständnisses. Dabei führt Herr Prokopowitsch P. B. Axelrod als Bundesgenossen an. Ich erlaube mir, einige Zeilen aus dem persönlichen Brief des Genossen Axelrod anzuführen, den ich vor dem polemischen Artikel Herrn Prokopowitschs erhieltH, der jedoch die parteifeindliche Unverfrorenheit des letzteren hinreichend charakterisiert. Genosse Axelrod schreibt:

Von einem ,Appell an das Proletariat über die Köpfe der sozialdemokratischen Intelligenz hinweg' zu sprechen – in diesem gegebenen Fall – ist unsinnig und absurd; überhaupt liegt der Schwerpunkt für mich in der vorbereitenden propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Arbeit. Ich tue alles, was in meinen Kräften steht, um den Beginn der Agitation für den Kongress bis zu dem Augenblick zu verschieben, wo auf der einen Seite die kollektive Meinung der Partei genügend klar bestimmt sein wird, und wo sich andererseits mittels literarischer Debatten und Diskussionen in den Parteizirkeln und Parteiversammlungen, mittels Referaten etc. ein Stamm von Schulungsleitern, Agitatoren und Organisatoren herausbildet, die in der Lage sind, im Namen und im Auftrag der Partei die Initiative zur Vorbereitung der Einberufung des Arbeiterkongresses auf sich zu nehmen."

Wie Sie sehen, ist das von einer alternativen Gegenüberstellung „Partei -Klasse" sehr weit entfernt!

Da Herr Prokopowitsch sich mit Hochachtung auf P. B. Axelrod beruft, dessen Ansichten auch für mich immer in besonderer Weise maßgebend waren und sind, haben wir offensichtlich eine „Instanz" gefunden, deren Meinung beide Parteien zu berücksichtigen bereit sind. Ich werde deshalb die Antwort des Genossen Axelrod zu einer Fragestellung anführen, die weder Herrn Prokopowitsch noch Frau Kuskowa unberührt lassen kann. Axelrod schreibt in seiner soeben erschienenen Broschüre:

Als der Enthusiasmus für den engstirnigen Ökonomismus in der Partei auf dem Höhepunkt stand, verwies ich auf dessen antisozialdemokratische Tendenz, die letztlich die politische Hegemonie und die Vormundschaft der demokratischen Bourgeoisie über das Proletariat vorbereite. Sehr rasch jedoch bestätigten die Autoren des bekannten „Credo" (hört, hört, ihr Herren Autoren des „Notizblocks"!) meine Befürchtungen, indem sie das, was ich als objektive Tendenz charakterisiert hatte, zum angestrebten Ziel deklarierten."I Ich hoffe, dass diese Worte keinerlei Kommentar erfordern.

8. Noch einmal über die gehässige Unparteilichkeit

Dans oben angeführter Bericht stellt eine kurze Skizze der Bewegung während der Jahre 1900-1904 dar. Der Autor beschönigt nichts, im Gegenteil, wenn man ihn irgendeiner Sache beschuldigen kann, so der, dass er die Fehler der Parteiarbeit in den Vordergrund stellt, mitunter sogar unter Verletzung der notwendigen Perspektive. Der Verfasser denkt jedoch an den sozialistischen Leser, der eine Skizze über die Entwicklung der russischen Sektion der internationalen Sozialdemokratie natürlich nicht mit der Absicht aufnimmt, seine Partei zu beschimpfen. Anders verhält es sich mit Frau Kuskowa, die es fertigbringt, aus ihrer Rezension eine böswillige Schmähschrift zu machen. Die Grundthese von Frau Kuskowa ist sehr simpel: „Die russische Arbeiterbewegung, die sich mit logischer Gesetzmäßigkeit entwickelte, fand ihre Führerin nicht in der Sozialdemokratie."J Nichts leichter, als diese These zu beweisen – und zwar nicht nur bei der russischen, sondern auch bei der deutschen Sozialdemokratie. Auch in Deutschland stellt die Parteiorganisation im Vergleich zum zahlenmäßigen Umfang der Klasse eine unbedeutende Größe dar. Natürlich drückt sich der politische Einfluss der Partei in einem wesentlich größeren Radius aus, als ihn ihre organisatorische Peripherie erreicht. Aber auch in Deutschland gibt es noch breite Schichten von Arbeitern, die außerhalb des unmittelbaren Einflusses der Partei stehen. Schließlich erfüllt die Partei innerhalb ihres Einflussgebiets keineswegs alle Bedürfnisse der Arbeiterbewegung voll und in gleichem Maß. Die Lücken, die zwischen Partei und Klasse offen bleiben, benutzen bürgerliche Politiker, um ihre Nasen hineinzustecken und, wenn der Spalt breit genug ist, auch die Hand. So könnte auch die deutsche Sozialdemokratie, der Stolz der Internationale, nicht Führerin der Arbeiterbewegung im vollen Sinn dieses Wortes genannt werden. Kann man jedoch für einen so lebendigen Organismus wie eine politische Partei überhaupt ein absolutes Kriterium benutzen? Die Sozialdemokratie bedeutet die Vereinigung von wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiter-Massenbewegung. Das ist eine komplizierte und vielschichtige Entwicklung, die ihrerseits eine lange Reihe innerer Prozesse durchläuft. Wenden wir uns der Geschichte der Sozialdemokratie „um der Idee, nicht jedoch um der Schmähung willen" zu – man verzeihe mir diesen keineswegs einwandfreien Ausdruck von Frau Kuskowa –, so muss die Frage nach der Rolle der Partei historisch gestellt werden: Wuchs die Sozialdemokratie, vertiefte sich ihr Einfluss, mit einem Wort, wuchs sie allmählich in die Rolle der Führerin der Arbeiter-Massenbewegung hinein? Diese Fragestellung erfasst das richtige Kriterium für die Einschätzung vergangener Parteiarbeit. Die sorgfältige Analyse kann klären, welche ihrer inneren Strömungen historisch notwendig und damit progressiv waren und welche auf das Konto von Irrtümern, falschen Ansichten, Doktrinarismus und Enthusiasmus zu buchen sind. Die objektive historische Analyse schafft Raum für eine produktive politische Moral. Wenn man sich jedoch als Ziel stellt, den Beweis zu führen, dass sich die russische Sozialdemokratie als solche nicht als Führerin der Arbeiterbewegung als solcher herausstelle, so wird die ganze Aufgabe furchtbar einfach und sogar für Frau Kuskowa lösbar: Man braucht nur ein Dutzend Fakten negativen Charakters auszuwählen, Beispiele für Irrtümer der Partei, für innere Zwistigkeiten, Widersprüche und Fehler. An die Stelle historischer Analyse wird die künstliche Auswahl von Indizien gesetzt. Das ist die gleiche Methode, mit der die orthodoxe Kirche die Gräuel der römisch-katholischen Häresie nachweist. Darin liegt der Sinn nicht nur des Aufsätzchens von Frau Kuskowa, sondern auch das Wesen aller Kritik, die von den Revisionisten gegen die Partei selbst gerichtet wird. So „verfährt", wie wir schon sahen, auch Herr Prokopowitsch. Und von der „kritischen" Unterstützung dieser Herrschaften lebt die gesamte liberale Presse, die zur Problematik des Sozialismus noch nicht einmal eigene Begriffe besitzt.

Herr Prokopowitsch stellte der Partei den Rat der Arbeiterdeputierten entgegen; Frau Kuskowa konzentrierte sich auf andere Momente in unserer Parteigeschichte. Sie spricht von den erfolgreichen Versuchen polizeilicher Demagogie, von der Massenbewegung der Subatow-Leute und der Gapon-Anhänger in Zusammenhang mit organisatorischer Isolation der Sozialdemokratie.

Wenn die Kritikerin unserer illegalen Unauffälligkeit die lauten „Erfolge" der polizeilichen Demagogie gegenüberstellt, so vergisst sie, dass allein das Vorhandensein bewusster Elemente in der Masse der Arbeiter dieser Masse insgesamt die Möglichkeit gab, mit erstaunlicher Schärfe den wahren Kern des Polizei-Sozialismus zu erkennen und seine Truppen zu überwinden. Mehr noch: Die Ereignisse selbst, deren äußerer Gestalt die Hand der Polizei einen so deutlichen Stempel aufdrückte, waren bei weitem nicht in vollem Umfang die Angelegenheit der Subatows, Schajewitschs und Gapons. Als Abkömmlinge eines anderen sozialen Milieus und bar jeder Erfahrung in der Agitation, verliehen sie stets der überaus natürlichen Furcht der Polizei vor der Masse Ausdruck. Sie stellten sich niemals das Ziel, große Ereignisse hervorzurufen. Die Masse jedoch drang zum großen Entsetzen der Polizeidemagogen jedes Mal wie ein mächtiger Strom in die geöffneten Schleusen ein. Die künstliche Isolierung, in der die Subatow-Leute die von ihnen hervorgerufenen partiellen Streiks hielten, erregte weite Arbeiterkreise. Und hier ist der Punkt, wo die Arbeit der Sozialdemokratie begann. In solchen Momenten setzte sich ihr gesamter illegaler Apparat in Bewegung und stieß tief in die Masse vor. Die Eskalation eines Streiks bis auf die Ebene eines „Generalstreiks" wurde immer dank der Sozialdemokratie vollzogen, sie lag weder in der Absicht der Subatow-Leute noch stand sie in ihren Kräften. Die sozialdemokratischen Agitatoren – Intellektuelle und Arbeiter – führten immer neue Betriebe und Fabriken in den Streik; das lokale Parteikomitee verbreitete Zehntausende von Flugblättern, in denen es den Verlauf der Bewegung bekannt machte und Losungen formulierte. Auf Fabrik- und Straßenversammlungen traten Dutzende von sozialdemokratischen Rednern auf. Natürlich war all diese Parteiarbeit nur dank der spontanen Bewegung der Masse selbst möglich; das „spontane Element" jedoch bestimmte gleichermaßen den fragwürdigen „Erfolg" der Subatow-Agenten und die unbestreitbaren Erfolge der sozialdemokratischen Organisation. Wer eine auch nur irgendwie konkrete Vorstellung von der inneren Mechanik eines Massenstreiks besitzt, wird uns darin zustimmen, dass nur hoffnungslose Kurzsichtigkeit den grandiosen Streik in Odessa der Person von Schajewitsch oder den 9. Januar der Person von Gapon zuschreiben kann.

Gerade zu der Gapon-Geschichte berichte ich hier, was mir mein Freund P. A. Slydnew, dessen Unvoreingenommenheit alle kennen, die in der Arbeit mit ihm zusammengetroffen sind, aufgrund persönlicher Erlebnisse mitteilt:

Die Bewegung, die zum 9. Januar führte, wird auf den Seiten der Geschichte der russischen Revolution wahrscheinlich als die Bewegung Gapons ausgeführt werden. Die Gerechtigkeit befiehlt jedoch darauf hinzuweisen, dass sie keineswegs ausschließlich die Bewegung Gapons war. Abgesehen davon, dass sie nicht unter Direktiven ablief, die von der Gaponschen Organisation klar und unmissverständlich formuliert worden wären, bewiesen die Mitglieder dieser Organisation selbst keineswegs Entschlossenheit und Zuversicht auch nur für die Erweiterung des Streiks und die Gewinnung neuer Kräfte, ohne die der 9. Januar selbst undenkbar gewesen wäre.

Ungeachtet der Behauptungen liberaler Schreiberseelen, die alles prophezeien und sich niemals irren, spielte die Sozialdemokratie in dieser Bewegung eine keineswegs unbedeutende Rolle; ihre Mitglieder waren an der Durchführung des Streiks und seiner Ausweitung überall aktiv beteiligt, wo sich das als möglich erwies. Obgleich der Streik bei Semjannikow am Newski-Tor anscheinend noch vor dem 4. Januar begonnen hatte, arbeiteten alle übrigen Fabriken weiter und schlossen sich erst später an. Die Arbeitseinstellung in diesen Fabriken geschah auf Initiative und unter Leitung organisierter Sozialdemokraten. Nach den Obuchow-Werken brachte man die Papier-, die Porzellan-und andere Werke und Fabriken zum Stillstand.

Damit war die Tätigkeit der Sozialdemokratie nicht erschöpft. Sie schickte ihre Agitatoren beständig in die Gaponschen Versammlungen, wobei ich gar nicht von den sozialdemokratischen Arbeitern und Mitgliedern der Partei spreche, die aus eigener Entscheidung auf den Versammlungen auftraten.

Es ist richtig, das Verhältnis zur Sozialdemokratie war anfangs nicht gut, wiederholt schrie man auf den Versammlungen: „Nieder mit der Sozialdemokratie!", wobei die Gaponleute selbst, deren ursprüngliches Ziel die Kompromittierung der Sozialdemokratie war, großen Eifer an den Tag legten. Das gelang ihnen aber jedenfalls nur während der allerersten Tage der Bewegung im Januar. Am Abend des 7. und am 8. Januar traten die Sozialdemokraten nicht nur als die Redner auf, deren Beiträge mit Beifallsstürmen überschüttet wurden, sie traten als Gegner der liberalen Redner auf und hatten Erfolg bei den Massen."

P. A. Slydnew spricht hier über den Newski-Rayon, dessen Wirklichkeit er als Arbeiter der Obuchow-Werke selbst aus nächster Nähe erlebt hat. In den anderen Rayons war die Rolle der Sozialdemokratie jedoch noch ungleich bedeutender. So war auf der Wasilewski-Insel die Leitung der Bewegung völlig in Händen der Partei. Die berühmte Gaponsche Petition lebte dem Inhalt ihrer Forderungen nach ganz und gar auf Kosten der vorausgegangenen sozialdemokratischen Propaganda in den Arbeitermassen und der Tätigkeit der Partei-Agitatoren in den Januar-Tagen. Nach dem 9. Januar verdrängte die Forderung nach der Konstituierenden Versammlung die verschwommene Formulierung des Semstwo-Kongresses und wurde immer mehr zur allgemeinen Losung des Volkes. Gapon hatte daran sehr wenig Anteil; das ist ein unbestreitbares Verdienst der Sozialdemokratie.

Die nächste Etappe in der Chronologie der Petersburger und weithin auch der gesamtrussischen Bewegung war die der Schidlowski-Kommission; hier sei noch angeführt, was der gleiche Zlydnev aus diesem Anlass berichtet, der einer der Wahlmänner und infolgedessen an den Ereignissen unmittelbar beteiligt war. Er schreibt:

Wenn schon am 9. Januar die Sozialdemokratie nicht an der Spitze der Bewegung stand, so nahm sie in der Bewegung, die mit der Kommission des Senators Schidlowski verbunden war, den Rang einer unbestrittenen Führerin ein.

Die Agitation unter den Arbeitern zur Zeit der Wahlen, die Organisierung der Wahlmännerversammlungen in den Rayons, die Agitation unter den Wahlmännern und natürlich die Agitation während des Streiks nach der Weigerung Schidlowskis, die Forderungen zu erfüllen, und nach der Verhaftung vieler Deputierter – all das lag in den Händen der Sozialdemokratie. Die auf der Deputiertenversammlung angenommene Resolution war von der Sozialdemokratie vorgelegt. Auch die gesamte Taktik gegenüber der Kommission wurde von der Partei ausgearbeitet und realisiert.

In dieser ganzen Arbeit spielte die Sozialdemokratie – ich wiederhole – eine beherrschende Rolle. Unter den Deputierten gab es eine bedeutende Anzahl von Sozialdemokraten, die in die Parteiorganisation eingetreten waren. Als Gradmesser des Einflusses und der Autorität der Partei in dieser ganzen Kampagne kann die Tatsache dienen, dass viele Deputierte, die früher nur Sympathisanten der revolutionären Bewegung waren, nach der Schidlowski-Kömmission Parteimitglieder wurden und danach am Rat der Arbeiterdeputierten teilnahmen."

Nicht genug, dass Frau Kuskowa einige rein zufällige Indizien anführt, statt Tatsachen zu analysieren – diese Indizien selbst erweisen sich nahezu ausnahmslos als falsch; die Daten sind durcheinander geworfen, die Mitteilungen verzerrt, Verbindungslinien und Beziehungen unterbrochen, alles ist in ungenaue und zusammenhanglose Stücke zerschnitten, die völlig vermischt und willkürlich aneinandergereiht wurden. Die Partei geht letztlich aus dem kritischen Laboratorium von Frau Kuskowa in restlos verstümmelter Gestalt hervor: die Beine unter dem Arm, die Nase auf dem Hinterkopf, und anstelle der Augen, die Frau Kuskowa eigenhändig ausgekratzt hat, zwei klaffende Höhlen.

Man urteile selbst! „Lange und hartnäckig diskutierte die Sozialdemokratie mit den Arbeitern über den Mehrwert, über Kapitalismus und Sozialismus, über die demokratische Republik und andere notwendige, aber nicht greifbareK, abstrakte Dinge; es kamen der Geheimpolizist Subatow und sein Helfer Schajewitsch. Sie begannen über ökonomische Bedürfnisse und eine breite Organisation zu ihrer Verteidigung (zur Verteidigung der Bedürfnisse!) zu reden – und die Masse stand auf und marschierte los."

Wahrhaftig? Wie interessant ist doch das alles! Ist es aber auch richtig? Nein, Gnädigste, es ist von vorn bis hinten falsch. Die Subatowschtschina trat ganz zu Ende des vorigen Jahrhunderts auf. Ihre große Zeit – die Februar-„Demonstration" in Moskau und die Tätigkeit Schajewitschs in Odessa – fällt in die Jahre 1902 und 1903. Die russischen Sozialdemokraten indessen gingen bereits Mitte der 90er Jahre zur Massenagitation auf der Grundlage der „Groscheninteressen" über. 1894 erschien die Broschüre „Über Agitation“, die die Aufgaben der Agitation auf der Basis des Streikkampfs formulierte. 1897 entstand die „Rabotschaja Mysl", die sehr wenig von der Republik und anderen „notwendigen, aber nicht greifbaren" Dingen redete, sehr viel jedoch von der „Verteidigung der Bedürfnisse". Noch vor dem Entstehen dieser „ökonomistischen" Richtung jedoch spielte der Petersburger Kampfbund eine große Rolle in dem bedeutenden Streik der Textilarbeiter im Jahre 1896. „Es kam der Geheimpolizist Subatow – und die Masse stand auf und marschierte los": Das klingt vielleicht sehr eindrucksvoll, aber es ist nicht richtig. Das Verhalten des Geheimpolizisten Subatow selbst gegenüber der Sozialdemokratie entsprach mehr der Realität. Er schrieb sich keineswegs die Entdeckung einer neuen Methode zu, auf die Masse Einfluss zu nehmen; er schlug lediglich der Regierung vor, den Sozialdemokraten die Methode aus den Händen zu winden, die sie mit Erfolg benutzten. Haben Sie seinen Bericht gelesen, der im Auftrag des damaligen Moskauer Polizeichefs Trepow verfasst war? Lesen Sie ihn! Subatow sagt dort, dass die ganze Stärke der Sozialdemokraten darin bestehe, dass sie all ihre Agitation auf den kleinen, tagtäglichen Bedürfnissen der Arbeitermasse aufbauten.

Sie schreiben, dass „1903 der erste Generalstreik stattfand, der in Odessa von Schajewitsch organisiert wurde", während die Sozialdemokratie nach Ihren Worten „nicht ein einziges Mal" eine breitere Masse auf sich gezogen habe. Das ist, Verehrteste, nicht richtig. Der wichtige Massenstreik in Rostow im Jahre 1902, der ein Vorläufer der südrussischen Ereignisse des Jahres 1903 war, vollzog sich ausschließlich unter der Leitung unseres Parteikomitees. Weiterhin ist unrichtig, dass Sajewitsch einen Generalstreik „organisiert" hätte. Soweit er überhaupt organisiert wurde, war die Rolle der Partei dabei bestimmt nicht geringer als die der Subatow-Leute in Odessa. Allerdings fanden zugleich mit dem Streik in Odessa Generalstreiks in Baku, Tiflis, Batum, Kiew, Nikolajew, Jekaterinoslaw und Jelisawetgrad statt, wo die Subatow-Leute keinen oder kaum Einfluss besaßen. Wenn Frau Kuskowa davon keine Ahnung hat, so kann sie das in eben der Broschüre Dans nachlesen, die als Vorwand für ihren Artikel dient. Aber Frau Kuskowa muss ja wohl ihren Hohn. gegenüber der Sozialdemokratie kontinuierlich verstärken. Aber Tatsachen? – um so schlimmer für sie.

Sie schreiben:

Vor einigen russischen Revisionisten stand im Jahre 1900 die Frage: entweder mit unfruchtbarem Kräfteverschleiß in den Netzen des Bolschewismus und Menschewimus zu kämpfen oder wirklich politisch zu handeln und die Organisierung der mühsam geeintenL Elemente der bürgerlichen Demokratie einzig in der Absicht politischen Hervortretens zu unterstützen."M

Auf der folgenden Seite schreiben Sie allerdings, dass man bürgerlichen Liberalismus aus dem „Credo" nur „um der Schmähung willen" herauslesen könne; hier jedoch bestätigen Sie selbst, dass die Autoren des „Credo" gerade dadurch und nur dadurch „wirklich politisch" gehandelt hätten. Nun – der Herr sei mit Ihnen. Aber weshalb verstümmeln Sie die Tatsachen, gnädige Frau? Sie lassen sich – auf das Jahr 1900 zurückdatiert – in die Netze des Bolschewismus und des Menschewismus verwickelt sein, was unmöglich ist, weil es damals weder Bolschewismus noch Menschewismus gab. Diese Fraktionen entstanden erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1903, nach dem II. Parteikongress.

Frau Kuskowa berechnet die Kräfte unserer Partei; in ihrer Rechnung erscheint, dass im Jahre 1900 in Russland 63 aktive Sozialdemokraten gearbeitet hätten, im Jahre 1904 ihrer 207. Woher kommen diese erstaunlichen Zahlen? Bei Dan erfuhr Frau Kuskowa, dass die Partei im Jahre 1904 20 Komitees und 11 lokale Gruppen gezählt habe und dass in einem Komitee im Durchschnitt 5-6 Mitglieder gesessen seien; Frau Kuskowa ist unfähig, mit diesen Zahlen etwas anderes als eine simple Multiplikation vorzunehmen. (Das Komitee ist doch nur die Spitze der Organisation: Wohin haben Sie die sozialdemokratischen Arbeiterzirkel, die Schulungsleute, die Agitatoren, die Organisatoren, die Techniker gesteckt? Wohin, Verehrteste, haben Sie die Partei gesteckt?) Um ihre arithmetischen Kombinationen abzurunden, begeht Frau Kuskowa eine kleine Fälschung. Nachdem Dan beiläufig erwähnt hat, ein Komitee bestehe durchschnittlich aus 5-6 Leuten, erläutert er, dass es unterhalb dieses Komitees noch eine komplizierte Organisation gebe; weiter weist er darauf hin, es hätten neben 39 Komitees 1904 noch „11 lokale Organisationen" bestanden, „denen es noch nicht geglückt ist, so enge Bande zu knüpfen und den unmittelbaren Fortgang der Arbeit so zu garantieren, dass sie sich in Komitees hätten verwandeln können." Ihrer Multiplikation legt Frau Kuskowa die „Spekulation" zugrunde, dass die Gruppen vermutlich halb soviel Mitglieder besäßen wie die Komitees. Wieso das? Aus Dans Worten ist klar ersichtlich, dass keineswegs die Differenz in der Mitgliederzahl (drei oder sechs) eine Gruppe von einem Komitee unterscheidet. Der Gewissenhaftigkeit halber, Frau Kuskowa, müsste man aber auch die Gruppen berechnen; die Aufmerksamkeit auf den wirklichen Unterschied zwischen Gruppen und Komitees zu richten hieße die ganze Berechnung ihres Sinns berauben. Sozusagen der Sorgfalt in ihrer Rechnung zuliebe greift Frau Kuskowa hier zu einer kleinen Spekulation.

Zu Beginn ihres Artikels erwähnt Frau Kuskowa, „die Sozialdemokratie habe in der Bewegung der Jahre 1905 bis 1906 eine bedeutende Rolle gespielt". Welche Sozialdemokratie? Für 1904 erhielten Sie doch als Ergebnis ihrer fehlerlosen Multiplikation ganze 207 Sozialdemokraten! Wie könnten die in der revolutionären Bewegung der folgenden beiden Jahre eine bedeutende Rolle gespielt haben?

Allerdings habe ich nicht den Vorsatz, allen statistischen und chronologischen „Sensationen" von Frau Kuskowa nachzuspüren — das wäre niemandem nütze und nur ermüdend. Ihre „kritische" Methode ist aus den Proben, die wir streifen mussten, hinreichend klar geworden.

Frau Kuskowa schreibt in letzter Zeit viel über uns Sozialdemokraten, und sie tut das nicht anders als in Verbindung mit mitleidigen Grimassen wegen unserer Dummheit. Man könnte meinen, ihr seien neue Horizonte eröffnet worden. In der Tat – wenn wir ihre Artikel lesen, in denen sie erläutert, wie sie „mühsam geeinte" Elemente vereinigte und wie daraus buchstäblich nichts herauskam, dann beginnt man zu begreifen, dass Politik wie Publizistik mühsame Angelegenheiten sind, und man erinnert sich zu guter Letzt unwillkürlich der Madame de Kurdjukow, die sich über ihre politischen Spekulationen folgendermaßen ausließ:

Was die Politik scheidet

fügt die Dame zusammen:

Münster und Osnabrück

brachte ich in ein und denselben Sack."

Ja, Frau Kuskowa stopft „mühsam geeinte" Elemente zu dicht „in ein und denselben Sack". Ihre Missgeschicke ergeben sich unmittelbar daraus.

9. „Gehe hin und sündige nicht mehr!"

Um mein Kolloquium mit den Herren Revisionisten abzuschließen, bleiben mir noch zwei Worte über ein völlig vernichtendes Argument von Herr Prokopowitsch zu sagen. In meinem Vorwort stehen einige Zeilen, die ich weiter oben bereits wiederholt streifen musste: „Ja, wir machten Fehler, begingen Irrtümer und frevelten sogar – und trotzdem vollbrachten wir eine große Sache. Verglichen mit ihnen vollbrachten wir Wunder. Wir waren und bleiben die Trommler und Trompeter einer gewaltigen Klasse, wir waren stolz auf ihre ersten Schritte, wir zweifelten niemals an ihr, wir verließen sie nicht in der Stunde der Not… Und wir vollbrachten Wunder."N

Herr Prokopowitsch schreibt zu diesen Worten:

Was die Behauptung betrifft, die Sozialdemokraten seien immer nur (?) die Trommler und Trompeter des Proletariats gewesen, so hat Herr Trotzki in diesem Punkt (!) – prinzipiell – den Herrn Trotzki widerlegt. Der eine Herr Trotzki (man merke auf! T.) stellt die Sozialdemokratie an den Platz von Trommlern, der andere Herr Trotzki jedoch (hört, hört! T.) sagt geradeheraus, dass die Sozialdemokratie das Proletariat dirigiere.O Zwischen dem General und dem Trompeter besteht eine Distanz von gewaltigem Ausmaß. Was stellt die Sozialdemokratie nun dar: die Generale oder die Trommler des Proletariats?"P

So fragt Herr Prokopowitsch mit dämonischem Sarkasmus und bezeichnet daraufhin mich persönlich mit der ihm eigenen Unverfrorenheit – einer keineswegs parteilichen, sondern höchst individuellen Unverfrorenheit – als den „hochverehrten Trommler, der so große Dinge vollbrachte". Man wird begreifen, wie vernichtend das alles ist: Meine eigenen inneren Widersprüche liegen offen zutage; hier tritt die Sozialdemokratie bei mir als Dirigentin des Proletariats auf, dort als Trommlerin und Trompeterin. „Zwischen dem General und dem Trompeter" jedoch besteht, wie mein Herr Spötter erklärte, „eine Distanz von gewaltigem Ausmaß". Meine Sache steht schlecht. Kann man sich nicht irgendwie herauswinden? Wenn ich vielleicht dem Herrn Oberst in aller Einfalt erwidere, dass ich kein Meister bin in der Kunst, Tressen zu unterscheiden – wird das nicht als mildernder Umstand für diesen Widerspruch anzurechnen sein?

Oder sollte man sagen, die sozialdemokratische Partei sei eine demokratisch aufgebaute Armee, in der zwischen General und Trommler keine so strenge „Distanz" bestehe? Oder vielleicht sollte ich einzuwenden versuchen, dass ich nicht in unmittelbarem Sinn von Trommlern sprach, dass sich unter den Besitztümern unserer Partei keine Trommeln befinden, dass ich „in diesem Punkt" eine Metapher benutzt habe?

Eine Metapher! Muss ich etwa Heinrich Heine zu Hilfe rufen, der ein General der Poesie war, sich aber einen Trommler nannte?

Oder auf Frechheit setzen und sagen, es sei besser, „nur" ein Trommler des Proletariats zu sein als – der Trommler einer ausgedienten Ziege?

Oder vielleicht einfach den Kopf schütteln und sagen: „Gehe hin und sündige nicht mehr!"? Gehen Sie hin, Herr Prokopowitsch, und versündigen Sie sich nicht weiter – am Witz. Das ist nicht Ihre „Sache". Ihre Sache sind tiefgründige Analyse und politische Prophetie auf 8 Jahre im Voraus.

Bevor ich jedoch Herrn Prokopowitsch endgültig gehen lasse, muss ich ihm in aller Ernsthaftigkeit noch das Folgende sagen:

Obgleich ich in meinem Buch über mich persönlich und meine politische Tätigkeit kein Wort verliere – aus Gründen, die sicherlich nicht schwer zu begreifen sind –, zerren Sie mich über Ihren ganzen Artikel hinweg beharrlich am Rockschoß und fragen: Trat er in die Eisenbahnergewerkschaft ein? Hatte er irgend etwas mit dem Rat der Arbeiterdeputierten zu tun? Und zu guter Letzt nennen sie mich den „Trommler? der große Dinge vollbrachte". Wissen Sie was, Verehrtester? Wie unbedeutend meine Rolle im Rat der Arbeiterdeputierten, wie klein mein Anteil an der Arbeiterbewegung auch sein mag – vor Ihnen und Ihresgleichen den Kopf zu senken habe ich keinerlei Ursache. Nicht ich war es von uns beiden, der vor der Sozialdemokratie davonlief und in seinem intellektuellen Skeptizismus den objektiven Beweis der Unmöglichkeit erblickte, an der Bildung einer proletarischen Partei zu arbeiten. Nicht ich versteckte mich vor der Mühseligkeit aktiver Arbeit im Schatten des „Bundes der Befreiung", und deshalb musste nicht ich wieder aus dem „Bund" ausreißen, als sich das kleinbürgerliche Ferkel in das verwandelte, in was es sich nach den Gesetzen der Natur verwandeln musste: in die „konstitutionell-demokratische Partei". Das dürfen Sie in keinem Fall vergessen!

Herr Peter Struve oder jeder beliebige andere Bankrotteur mögen den Kopf hochhalten – ihre Physiognomie hat sich schon längst in ein narzisstisches Fünfkopekenstück des Liberalismus verwandelt. Die ehrwürdige Autorin des „Credo" scheint mir ebenso ein völlig hoffnungsloser Fall, weil ihr Denken offensichtlich endgültig von den Motten der Stubenhockerpolitik zerfressen ist. Von Ihnen wage ich das jedoch nicht so kategorisch zu behaupten. Möglicherweise führt Sie Ihr unglückliches Schicksal erneut in die Reihen der Sozialdemokratie, aus deren Kreis heraus Sie eine so lange und so ergebnislose Exkursion gemacht haben. Und wenn Sie wieder zu uns kommen, werden Sie unsere Reihen hundertfach vermehrt vorfinden und an den Früchten langer und beharrlicher Arbeit teilhaben. Ich hoffe, dass meine Genossen genügend Takt besitzen werden, Ihnen nicht ohne Umschweife die Frage vorzulegen: Wo haben Sie sich während der anstrengendsten Jahre unserer Arbeit herumgetrieben? Vergessen Sie nicht Ihr – vermutliches – morgiges Schicksal, und halten Sie, der Sie jetzt noch sozusagen kadettischer Volontär sind, in Ihren Angriffen gegen die Sozialdemokratie die Grenzen eines richtigen und angemessenen Tons ein, so dass es Ihnen nicht peinlich sein wird, später in Arbeiterversammlungen auf uns zu stoßen.

1. Dezember 1906

0 Nascha revoljucija, op. cit. str. XVIII u. XIX.

A Kursiv von mir.

B „Bes Saglawija", Nr. 12, str. 494

C Dem Leser, der mit der Geschichte unserer Partei nicht vertraut ist, empfehlen wir nachdrücklich die kurze Broschüre „Otscherk istorii sozialdemokratii w Rossii“ (Skizze der Geschichte der Sozialdemokratie in Russland) von N. Baturin, Moskau 1906, 126 S., Preis 25 Kopeken. Wir stoßen in der Parteiliteratur zum ersten Mal auf den Namen Baturin, dessen Broschüre eine hervorragende Erscheinung ist. Auf Grund der Knappheit ihrer Darstellung und der Deutlichkeit ihrer Sprache muss sie zu den besten Produkten unserer Parteiliteratur gerechnet werden.

D Istorija Soweta Rabotschich Deputatow (Geschichte des Rats der Arbeiterdeputierten). Artikel von N. Trotzki, A. Kusowlew, G. Chrustalew-Nosar und anderen, Isdanie (Edition) N. Glagolewa

E „Retsch" vom 10. November, kursiv von mir.

1 In der Vorlage „Anarchismus“. Der Herausgeber vermutet einen Druckfehler

F kursiv von uns.

2 In der Vorlage „Unmöglichkeit", laut Herausgeber wahrscheinlich Druckfehler

G d. h. die „kritischen" Sozialisten.

H als Antwort auf meinen im vorliegenden Sammelband abgedruckten Brief.

I P. B. Axelrod, Dwe taktiki (Zwei Taktiken) SPb 1907.

J „Byloe" Nr. 10, str. 320

K „notwendige, aber nicht greifbare. .." Wir halten es hier für angebracht, uns ganz allgemein für den schlechten Stil von Frau Kuskowa zu entschuldigen.

L Was ist das: geeint? Und wieso mühsam geeint?

M str. 325

NNascha Rewoljutsija, S. XIX

O Kursiv von Herrn Prokopowitsch.

P Kursiv von mir.

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