Leo Trotzki‎ > ‎1907‎ > ‎

Leo Trotzki 19071002 Über den Marxismus in Russland

Leo Trotzki: Über den Marxismus in Russland

(Zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der „Neuen Zeit“)

[„Die Neue Zeit“, 26. Jahrgang, 1. Band, Nr. 1 (2. Oktober 1907), S. 7-10. Offenbar hat Trotzki damals noch die Gefährlichkeit des Reformismus in Deutschland ebenso wie in Russland unterschätzt]

Die russische Sozialdemokratie ist erst seit wenigen Jahren aktiv in das politische Leben eingetreten. Aber sie hat eine lange ideologische Vorgeschichte. Sind es doch bald fünfundzwanzig Jahre, seit die Gruppe Axelrod-Deutsch-Sassulitsch-Plechanow entstanden ist. Die russische Partei ist also eine Altersgenossin der „Neuen Zeit".

Der häufigste Vorwurf, den man der russischen Partei seit dem Tage ihrer Entstehung gemacht hat, ist der, dass sie das russische Leben durch die deutsche Brille ansähe. Die sogenannte russisch-bodenständige Philosophie hatte schon lange das höhnende Wort gefunden: Was dem Deutschen gesund, ist für den Russen der Tod. Den Grund für diesen Vorwurf bildet die Tatsache des tiefen Einflusses der deutschen Sozialdemokratie auf die russische Partei. Aber gerade dieser Einfluss war nur dadurch ermöglicht, dass die deutschen Gläser nach den Gesetzen der internationalen Optik des Klassenkampfes konstruiert sind; das hat aber nicht gehindert, dass diese Gläser ein ausgezeichnetes Werkzeug bei der Erforschung der kleinsten und nichtigsten Insekten sind, die aus dem echt deutschen Boden erwuchsen.

Eines der stärksten Organe des Einflusses der deutschen Partei aus die russische Sozialdemokratie war die „Neue Zeit".

Wenn die herrschenden Gewalten Deutschlands ein Gefühl für nationale Ehre zu empfinden fähig wären, müssten sie auf diesen ausgedehnten Einfluss stolz sein. Wie elend selbst in rein quantitativer Beziehung erscheint die gesamte Arbeit der Hakatisten1 für den Anschluss der slawischen Gebiete an die „deutsche Kultur" im Vergleich mit dem, was in dieser Sphäre allein die „Neue Zeit" leistet!

In diesen flüchtigen Zeilen beabsichtige ich nicht die Geschichte der Einwirkung der deutschen Partei aus die russische zu geben. Ich beschränke mich darauf, ein kritisches Moment dieser Beziehungen hervorzuheben – die Zeit, die der revolutionären Periode der zweiten Hälfte der neunziger Jahre unmittelbar vorherging.

Der Marxismus spielte in Russland eine ganz eigenartige Rolle. Der Grund liegt darin, dass wir ein Volk ohne Traditionen sind.

Wie der Kapitalismus bei uns kein zünftlerisch organisiertes Handwerk fand, sondern nur die primitive ländliche Hausindustrie, so traf auch bei uns aus dem Gebiet der Ideen der Marxismus keine Überlieferungen der kleinbürgerlichen Demokratie an, wenn man von dem entarteten Volkstümlertum absteht. Noch mehr. Wie erst die kapitalistischen Unternehmungen bei uns viele Zweige des Handwerkes und des Kleinhandels hervorriefen, so wurde auch der Marxismus zum Werkzeug der politischen Selbstbesinnung der kleinbürgerlichen Intelligenz.

Unter den sich durchkreuzenden Einflüssen unserer historischen Rückständigkeit und der Zersetzung der Demokratie im Westen wurde unsere Intelligenz im Geiste der nackten Verneinung der kapitalistischen Kultur erzogen. In ihrer Seele lebte immer Bakunin, einer der russischen Optimisten, über die Marx einmal gesagt hatte, sie greifen die westliche Zivilisation an, um die eigene Barbarei zu beschönigen.

Aber der Kapitalismus absorbierte allmählich im Gange seiner Entwicklung die ihn verneinende Intelligenz für seine Bedürfnisse. Je weiter er fortschritt, einen desto schärferen Widerspruch schuf er zwischen ihrer objektiven Rolle und jenen Vorurteilen, die sie für ihre Weltanschauung hielt – die ideologische Liquidation wurde unvermeidlich. Als ihr Werkzeug diente – der Marxismus.

Der vulgäre kapitalistische Liberalismus etwa nach der Art Eugen Richters war als Mittel der Befreiung unserer vorrevolutionären Intelligenz von den Illusionen ihrer messianischen Bodenständigkeit durchaus unbrauchbar: dafür roch er viel zu offenkundig nach dem Kontorbuch und nach der Geldkasse. Man bedurfte zu diesem Zwecke des Schleiers der Ideologie, der ethisch-ästhetischen Umrüstung, der hinreißenden Perspektiven nicht nur der Wahrheit, sondern auch der Dichtung – einer goldenen Brücke für den Rücktritt in das Reich des Kapitals. Und – Sonderbar! – das alles gab der Marxismus.

Er ging von der Kritik des „Rarodnitschestwo" als einer reaktionären Romantik aus, stellte die Notwendigkeit und den geschichtlichen Fortschritt der kapitalistischen Entwicklung fest und erwies die Unvermeidlichkeit des Ersatzes des Kapitalismus durch den Sozialismus. Das war im höchsten Grade annehmbar: der Kapitalismus im Vordergrund und der Kommunismus in der blauen Ferne! Es klingt paradox, aber es trifft vollkommen zu, dass die literarische Blüte des Marxismus von der Mitte der neunziger Jahre an die freudige Versöhnung des Gewissens einer breiten gebildeten Schicht mit der Rolle der intellektuellen Sklaven des Kapitals bedeutete.

Aber dieses brauchte nicht nur „geistige", sondern auch „Hand"arbeiter. Der eigentliche, nicht verfälschte Marxismus fand sein Publikum in den Fabriken und in den Werkstätten. Während in den „marxistischen" Zeitschriften ein verzweifelter Streit geführt wurde, der sich ausschließlich auf ein scholastisches Kommentieren des „Kapital" gründete, ob wir die auswärtigen Märkte entbehren können öder nicht, wurde in den Arbeitervierteln eine intensive Agitation getrieben. Je enger aber der Marxismus sich mit dem Kampfe der Arbeitermassen vereinigte, desto unbequemer und bedruckender wurde er als Galatracht der Intelligenz. Mit dem Kapitalismus hatte sie sich versöhnt als mit der Wirklichkeit. Mit dem Sozialismus – als mit einem Ideal. Nur mit einer Kleinigkeit wollte und konnte sie sich nicht versöhnen: mit der lebendigen Praxis des Klassenkampfes.

Der deutsche Revisionismus kam der russischen Intelligenz zu Hilfe, um sie von den spanischen Stiefeln der „deutschen Dogmen" zu befreien. Alle die Klauseln, Beschränkungen, Zweifel, Bedenken, alles Kopfschütteln und Achselzucken, worin der wissenschaftliche Kern der rein negativen Theorie der sogenannten kritischen Sozialisten besteht, fanden unverzüglich in Russland ihre Übersetzer, ihre Apostel, ihre Ausleger, Zusammenstoppler und Schüler. Das Buch von Bernstein ward für sie ein Ereignis. Sie atmeten erleichtert auf und erklärten feierlicht sie wären Bernsteinianer noch vor dem kritischen Austreten Bernsteins gewesen.

Der russische und der deutsche Revisionismus sind aber zwei verschiedene Erscheinungen.

Der deutsche entstand aus dem Boden eines weit entwickelten Klassenkampfes. Alles, was für die „Kritiker" in Deutschland objektiv möglich und subjektiv wünschbar war, ging dahin, die Spitzen der Theorie abzubrechen oder auch nur abzustumpfen, um für ihr eklektisches Gewissen das Teilnehmen an den weiteren Tagesarbeiten bequemer zu machen. Eine Art Versöhnung mit dem bürgerlichen Lager wurde für sie durch die ganze politische Geschichte Deutschlands von Lassalles Auftreten an unmöglich gemacht. Deshalb erhielt ihr so viel reklamierter Realismus seinen vollkommen platonischen Charakter.

Ganz anders sah es bei uns aus. Mit dem Proletariat war die Mehrheit der marxistischen Intelligenz nur ideologisch verbunden. Sie brauchte den Revisionismus nicht dazu, um dem Proletariat in seiner Praxis weiter nachzuhinken. Sondern um sich von ihm theoretisch abzutrennen. Wie ein Gefangener auf der Flucht den Stein zur Seite schleudert, mit dem er seine Ketten zerbrach, so warf auch die russische Intelligenz in die Rumpelkammer jene revisionistischen Büchlein, welche sie aufgemuntert hatten, die Nabelschnur des Marxismus zu zerreißen. Nicht einen Sozialismus, der an sich selbst zweifelt, brauchte sie, sondern einen Liberalismus, der überhaupt keinen Zweifel kannte. Nicht eine kritische Kritik, sondern ein positives System. Etwas Imperatives um jeden Preis! Über Bernstein hinweg ging sie zu Kant, zu Renan, zu Nietzsche, zu Christus und sogar zu Herrn Professor Stammler. Man kann sagen, dass es ihrer Seele während eines oder zweier Jahre gelungen ist, in allen ideologischen Schlupfwinkeln der Weltgeschichte zu übernachten. Aber ach! sie fand kein positives System. Zu spät ist sie auf die Welt gekommen. Und der Marxismus, von dem sie ein wenig genippt hatte, hat ihr die Luft am Leben vergiftet. Bis heute irrt sie blasiert umher, kritisiert mit verächtlicher Miene nach links, kritisiert nach rechts, ohne zu wissen, wo sie ihren Platz finden soll. Ein armseliges, bedauernswertes Dasein!

Schon zu Ende der neunziger Jahre klärte sich die Lage in dem Sinne, dass der „kritische" Sozialismus, dessen Zweige sich mit den Wurzeln des Liberalismus verflochten hatten, fast die gesamte oppositionelle Presse beherrschte und sie zum Werkzeug der Bekämpfung der jungen Sozialdemokratie machte. Von ihrer Heimat verjagt, in ihrer Mehrheit noch Jünglinge, konnten die russischen Marxisten nicht genügend ausgerüstet sein, um mit einem Schlage jeden Hieb des Gegners abzuwehren, der über formelle Gewandtheit, Muße und eine volle Kollektion der europäischen Widerlegungen des Marxismus verfügte. Tiefer als je bekamen damals die russischen Sozialdemokraten ihre Verbindung mit dem revolutionären Deutschland zu fühlen, wo zu jener Zeit der große Kampf um die Frage: Sozialismus oder Reformismus? ausgefochten wurde.

Unmittelbar hatte dieser Kampf für uns, wie ich eben zu zeigen bemühe war, wohl noch eine größere Bedeutung als für die deutschen Genossen. Unter seiner theoretischen Form entfaltete sich bei uns der Streit zwischen der Sozialdemokratie im Werden und dem Liberalismus zur Zeit seines Zahnens um das historische Eigentumsrecht auf die revolutionäre Intelligenz und durch ihre Vermittlung auf die Arbeitermassen. Wenn unsere Partei einen guten Teil der revolutionären Intelligenz der bürgerlichen Gesellschaft abgewann und sie in den Dienst des revolutionären Sozialismus stellen konnte, so sind wir dafür in höchsten Maße jenem Gedankenfeldzug zu Dank verpflichtet, in dessen Zentrum die "Neue Zeit" gestanden ist. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass die Resolution von Dresden2 für uns eine Befestigung unseres Rechtes auf historisches Dasein bedeutete.

Dann kam die Revolution. Sie gab dem Formierungsprozess der politischen Parteien das fieberhafte Tempo. Binnen zwei Jahren grub sie einen Abgrund zwischen dem Liberalismus und der Arbeiterpartei. Und gerade deshalb, weil die historische Rolle des Revisionismus als des Pflegevaters der Kadettenpartei bei allen im Gedächtnis lebt, ist in Russland für den Revisionismus der Zutritt zu den Reihen der sozialdemokratischen Partei für absehbare Zukunft gesperrt.

Die aus diesen Verhältnissen erwachsene Herrschaft des Marxismus über das kollektive Denken der Partei verspricht der russischen Sozialdemokratie zum größten Vorteil zu gereichen. Zwar kann der Marxismus den Mangel an politischer Erfahrung nicht ersetzen. Die objektiven Widersprüche, die aus der Praxis emporwachsen, kann man nicht ideologisch hinweg spekulieren. Man muss sie praktisch erleben und auskämpfen. Aber jeder neue Tag der revolutionären Geschichte, die wir durchmachen, erfüllt die „Formeln" des Marxismus mit Fleisch und Blut. Zu der objektiven Einheit des Klassenkampfes, auf dem die Partei beruht, hat sie die Einheit der Methode sich erworben.

Und noch ein Wort des Dankes an die „Neue Zeit".

Noch vor dem Ausbruch der russischen Revolution, als viele europäische Genossen aus Gründen, die sehr erklärlich sind, uns, die russischen Sozialisten, nicht ernst nehmen wollten, da war die „Neue Zeit" die unermüdliche Vertreterin der Interessen der russischen Revolution vor dem Forum des europäischen Sozialismus. Während der Revolution war sie mit uns und für uns nicht nur in den Zeiten unserer Erfolge. In den schwierigsten Momenten der Niederlagen, als die unzähligen Räsonneure uns ihre Zahnschmerzenpredigten in die Ohren flüsterten; als das liberale Gesindel mit dem Starrsinn des Spechtes wiederholte, dass wir nichts Gemeinsames mit der vernünftigem legalen, ehrenwertem gemäßigten Taktik der sozialistischen Parteien Europas hätten; als die reaktionäre Presse mit der gut bezahlten Kraft ihrer Lungen brüllte, dass wir nichts als Anarchisten seien, die den redlichen deutschen sozialdemokratischen Waffenrock um ihre verbrecherischen Schultern gehängt hätten, da konnten wir immer mit vollster Gewissheit jedes neue Heft ber „Neuen Zeit" ausschlagen und von ihren Blättern unseren Gegnern und Feinden das stolze Wort ins Gesicht schleudern:

Mit dem internationalen Sozialismus sind wir Fleisch von einem Fleische und Blut von einem Blute.

1Der „Deutsche Ostmarkenverein“, der die „Germanisierung“ der überwiegend polnischen damaligen deutschen Ostgebiete betrieb, wurde nach den Initialen seiner Gründer oft (abfällig) so genannt

2Der SPD-Parteitag in Dresden 1903 verurteilte den Revisionismus (allerdings ohne daraus – abgesehen von der Verurteilung der Mitarbeit an feindlichen bürgerlichen Zeitungen – organisatorische Schlussfolgerungen zu ziehen).

Kommentare