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Leo Trotzki 19070101 Vorwort

Leo Trotzki: Vorwort

(zu „Zur Verteidigung der Partei")

[Nach Schriften zur revolutionären Organisation. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 135-149. Dort mit zahlreichen Fußnoten]

Eine weitere zu lange hingezogene Periode der Revolution geht ihrem Ende entgegen; sie begann mit der Sprengung der Duma und stößt jetzt auf die Dumawahlen. Äußerlich gesehen war das die „Stolypinsche" Periode. Ihr Symbol – das ist der Hajduk mit dem Backenbart des Gentleman, ihr Regierungsprogramm – Liberalismus à la Seydlitz und der Galgen. Noch einmal zeigte der Absolutismus seine kolossale Kraft, die ihm die historische Trägheit verleiht.

Es ist unnötig zu sagen, dass das eine rein mechanische Kraft ist; der staatliche Apparat verwandelte sich vornehmlich in einen Automaten des Massenmords. Allerdings ist es richtig, dass die Macht auch in einigen sozialen Gruppen Halt und Stütze fand. Die adeligen Gruppierungen, die Semstwos, die Stadtdumen riefen lauthals nach Ordnung, befreiten sich ohne Skrupel von den letzten Überresten liberaler Vorurteile und liberaler Denkungsart, bewiesen jedem ministeriellen Galgen unterwürfige Zustimmung, und ihre Stimmen ermutigten vor dem Hintergrund des allgemeinen Schweigens das Kabinett, das zwischen Peterhof und dem Chaos des revolutionären Landes in der Luft hing. Selbst diese Leute verfügen über eine gewisse Psychologie, und sie erfordert irgendein Surrogat einer günstigen Atmosphäre. Wenn sie schon die Zeitung „Rossija" brauchten, um aus der auf Bestellung ausgeführten Reproduktion ihrer eigenen „StaatspIäne" Kraft zu ziehen und sich an ihnen zu begeistern, dann mussten sie das Vertrauen der „Handels- und Industriepartei" um so höher schätzen, die mitfühlenden Telegramme der Semstwos, die schneidigen Grußbotschaften des Gutschkowschen „Bundes" und das unzufriedene Mahlen der Dubrowinschen Kiefer, welch letzteres ihnen unter den Bedingungen des historischen Augenblicks wohllautender in den Ohren klang als alle Segenswünsche.

Diese Elemente konnten jedoch nicht zu einer unmittelbaren Stütze im Kampf gegen die Revolution werden, die längst tief ins Volk hinab gedrungen war. Zudem erwiesen sie sich – und das ist noch viel wichtiger – als völlig unfähig, der Regierung finanzielle Unterstützung zu gewähren. Unter diesem Gesichtspunkt den sogenannten „Bund des russischen Volkes" anzuführen erübrigt sich ganz und gar: mittlere Beamte, degenerierte Elemente der mittleren Bourgeoisie und der kriminelle Abschaum der städtischen Gosse – das ist sein Reservoir; diese Leute muss man genauso bezahlen wie die Publizisten der offiziellen Zeitungen. Und der reaktionäre Semstwo, das ist der primitive Gutsbesitzer, und der primitive Gutsbesitzer, das heißt Forderung nach materieller Hilfe, Ersatz von Unkosten und der durch die Agrarrevolte verursachten Schäden, nach unentgeltlichem Staatskredit möglichst ohne Rückerstattung – das heißt, ein ewig geöffneter, unersättlicher Rachen. Finanz, Handel und Industrie unseres Landes zeigten sich als noch minderwertiger denn erwartet, und der Handels- und Industrieminister fuhr völlig ergebnislos nach Moskau, um hier die Moskauer Börse seiner Zuverlässigkeit zu versichern. Kein Gutschkow kann den Mangel innerer Kapitalien wettmachen, der die autokratische Macht schon längst zum Tributpflichtigen der europäischen Börse gestempelt und auch den größten Teil der inneren Anleihen faktisch in äußere Anleihen verwandelt hatte.

Auf diese Weise konnte die Regierung nicht mehr umhin, die zweite Duma zusammenzurufen. Die Regierungszeitung macht – einem deutschen Ausdruck zufolge – aus der Not eine Tugend und spricht von der ehrlichen Erfüllung früher gegebener Versprechungen: O dass es doch auf einem anderen Wege möglich gewesen sein möchte, sich die Millionen zu verschaffen!

Seit der Sprengung der Duma ist ein halbes Jahr vergangen; es war dies eine Zeit komplizierter molekularer Arbeitsprozesse, die sich im Bewusstsein der Massen lautlos und unter Repressionen vollzogen, während die rechten Gruppierungen der materiell vermögenden Opposition folgerichtig ins Lager des Konservativismus und der Reaktion rückten: Die Aktivität der Massen selbst war während dieser Periode in starkem Maße vermindert, jedoch verbreiterte sich die Basis zukünftiger Aktivität systematisch.

Alle Nachrichten, die die Presse – von den konservativen Blättern bis hin zu den sozialdemokratischen Organen – bringt, bezeugen unbestreitbar die Entwicklung des Muschiks zu politischer Gestalt. In einer interessanten Korrespondenz der „Nowoje Wremja, die wir im Augenblick nicht zur Hand haben, wurde sehr eindrucksvoll berichtet, wie die Erfahrung der ersten Duma die alte Macht vor den Bauern bloßgestellt, ihr die feierlichen Gewänder abgerissen, ihre mystische Aureole zerstört und sie in der ganzen Nacktheit ihres Eigennutzes und ihrer Eigenliebe gezeigt habe. Ob dies das historische Vergehen der Duma ist, wie die „Nowoje Wremja" meint, oder ihr objektiver Verdienst, ist ganz gleichgültig – in jedem Falle ist es ein Faktum. Alle diesbezüglichen Pressenachrichten der jüngsten Zeit offenbaren, dass die Bauernschaft jetzt unvergleichlich bewusster an die Wahlen herangeht als beim ersten Mal. Sogar die reichlich zufälligen Wahlen zur ersten Duma ergaben schon eine Mehrheit der sogenannten Trudoviki, die sich notwendigerweise links von der traditionellen intellektuellen Opposition der Semstwos postieren musste. Die spontan aufgebrochenen Nöte und Bedürfnisse des Dorfes stellten Oppositionelle ad hoc auf die Szene, noch hilflos in ihrer Spontaneität, potentiell jedoch bei weitem aktiver und radikaler als die politischen Neunmalklugen, die ihre Zähne im liberalen Semstwo abgewetzt hatten, auf dem Katheder oder im Rechtsanwaltsberuf. Wir haben alle Ursache anzunehmen, dass die zweite Erklärung der Bauerndeputierten eindeutiger und politisch radikaler als die erste sein wird.

Wie das Proletariat stimmen wird, darüber haben nicht einmal jene Schönredner der polizeilich-offiziösen und bürgerlichen Presse irgendeinen Zweifel, die so viel davon schwätzen, dass die „Extremisten" vom Volke losgerissen, dass die Arbeitermassen von der Taktik der Sozialdemokratie enttäuscht seien.

Der rechte Dumaflügel in Gestalt der Oktobristen wird vermutlich einflussreicher und in jedem Falle rühriger und frecher werden als in der ersten Duma, in der er schüchtern im Hintergrund blieb. Die Mirnoobnowlentsi sind offensichtlich zu völliger Bedeutungslosigkeit verurteilt; die Rolle eines konstitutionellen Zentrums, in die der ehemalige Minister Fedorow sie lockte, ging absolut über ihre Kräfte. Die Landbesitzer marschierten zur entschlossenen und „beherztem Reaktion – sie brauchten die Monarchisten oder die Oktobristen. Zur Bauernschaft besaßen die Mirnoobnowlentsi noch weniger Zugang als die Kadetten. In der Stadt muss der Fürst Trubetskoj die Ritze ausfüllen, die zwischen den Herren Miljukow und Gutschkow übrigbleibt, um den Herrn Maxim Kowalewski gar nicht zu rechnen. Die Rolle des Zentrums wird auch in der zweiten Duma unbestreitbar den Kadetten zufallen. Wir haben jedoch Ursache anzunehmen, dass sie in verminderter Zahl in das Taurische Palais zurückkehren werden. Von ihrem rechten Flügel werden Stimmen aus den Semstwos abwandern, von ihrem linken Stimmen der Bauern, eines Teils der Intelligenz und Stimmen aus jenen halb kleinbürgerlichen Schichten, die so deutlich ihren Hang zur Partei des Proletariats gezeigt haben: die Handlungsgehilfen, die Kanzleischreiber und andere mehr. Die Teilnahme linker Parteien an den Wahlen besonders der Sozialdemokratie in den Städten, die für die Kadetten äußerst ungünstig ist, wird allerdings in gewissem Umfang durch die einschränkenden „Erläuterungen" des Senats paralysiert werden – jedoch nur bis zu einem bestimmten Grad.

Soweit eine Prophezeiung hier überhaupt möglich ist, muss man annehmen, dass die zweite Duma politisch differenzierter sein wird als die erste, dass die Kadetten in ihr nicht mehr so uneingeschränkt herrschen werden wie in der ersten, der rechte und vor allem der linke Flügel werden größer und deutlicher ausgebildet sein.

Natürlich hat diese ganze Reflexion nur insoweit Sinn, wie wir voraussetzen, dass trotz der durch die ganzen Erklärungen und Zirkulare geschaffenen Bedingungen Wahlen stattfinden und nicht unentwegt Verordnungen und Fälschungen seitens der Regierung das Feld beherrschen werden. Worauf jedoch gründet sich eben diese Hypothese? Sicherlich nicht auf den Glauben an den guten Willen Stolypins und seiner Senatoren und Gouverneure, sondern auf die Tatsache, dass die Wahlkampagne, wenn sie sich über eine bestimmte Grenze hinaus entfaltet hat, das physikalische Beharrungsvermögen einer einmal in Bewegung gesetzten Masse entwickelt: Versammlungen beginnen, die Opposition in der Provinz folgt dem Beispiel der Hauptstadt, das reaktionäre Geheul, das während eines halben Jahres den Tätigkeitsdrang der administrativen Bürokratie unterstützte, geht völlig im allgemeinen oppositionellen Grollen unter, eine generelle „Demokratisierung" der Macht greift um sich. Die Gouvernementsadministratoren verlieren den Glauben an die Standfestigkeit der Zentralbehörde, die diese Sicherheit selbst entbehrt. Und hier entwickelt sich, zusammen mit einzelnen sinnlosen Pressionen auf das Wahlrecht der Bevölkerung, „Duldung" bis hin zum Angebot realer Möglichkeiten zur Wahrnehmung ihrer Rechte an die Staatsbürger. Als Ergebnis eines solchen Prozesses kann sich die Duma gerade in der Art zeigen, wie wir sie weiter oben charakterisierten.

Den formalen Kern der Duma werden infolgedessen die Kadetten bilden. Aber das entscheidet natürlich in keiner Weise die Frage, welcher Teil der Duma das tatsächliche Zentrum des Einflusses und der Aktivität des Volkes sein wird.

Im ersten Abschnitt meiner Artikelsammlung „Auf dem Weg zur zweiten Duma" lege ich meine Meinung über die Notwendigkeit von Wahlabkommen mit den sogenannten Konstitutionalisten-Demokraten in all jenen Fällen dar, wo die Gefahr reaktionärer Wahlen besteht. Ich halte ein solches Abkommen hier nicht nur deshalb für obligatorisch, weil, wie King Lear sagt,

solch ruchlos Wesen […] doch hübsch noch aus [sieht],

sind andere noch ruchloser; nicht die Schlimmste zu sein,

ist dann noch Lob …

Wenn man auf diesem völlig abstrakten Standpunkt steht, würde man zwingend zu dem Schluss kommen, dass wir einen Vertreter der Mirnoobnowlentsi gegenüber einem Oktobristen und einen Oktobristen schließlich gegenüber einem „Monarchisten" unterstützen müssen. Davon kann jedoch keine Rede sein. In dem Bereich, in dem die erzreaktionären Konstitutionalisten mit den erzreaktionären Monarchisten konkurrieren, überlassen wir es ihnen natürlich unbesorgt, einander die Köpfe abzubeißen. Nicht nur die Oktobristen, auch die Mirnoobnowlentsi stellen eine politische Organisation dar, die sich auf diejenigen sozialen Elemente stützt, die bewusst eine antirevolutionäre und deshalb eine antidemokratische Position einnehmen; sie ist schon unbezweifelbar ein Bollwerk der Konterrevolution. Die Volksbewegung wird von diesen erstarrten Formationen auch nichts losbrechen und in seinem Strom mitreißen.

Diese Aussage kann jedoch in keiner Weise auf die breiteren Schichten, auf die die Kadetten sich stützen, zutreffen. Aus oftmals angeführten und, erinnert man sich der kurzen Geschichten der Kadetten, leicht verständlichen Ursachen stützt sich diese Partei auf extrem unterschiedliche und in sozialer Hinsicht unvereinbare Gruppen. Es ist ganz richtig, dass sich die Kadettenpartei insgesamt in ihrem grundlegenden Typus ohne Zweifel als antirevolutionär erweist – nicht allein deshalb, weil gegenwärtig darin der rechte Semstwo-Professoren-Flügel den Ton angibt, sondern vor allem, weil links von den Kadetten revolutionäre Organisationen existieren und siegreich mit ihnen konkurrieren, die entsprechend dem Stand des Prozesses der politischen Selbstbestimmung der Nation all jene Klassen und Schichten umfassen, die allein den Kadetten einen revolutionär-demokratischen Charakter zu verleihen imstande wären. Es ist auch ganz richtig, dass die gleichen Kadetten – in einem Atemzug mit den Oktobristen – wiederholt die Zuversicht äußerten, dass die Massen, wenn sie von der sozialistischen und revolutionären Demokratie enttäuscht seien, sich in den Schatten der Partei der „Volksfreiheit" stellen würden. Wer realistisch denkt, wird natürlich begreifen, dass die Intensität der revolutionären Stimmung der Massen nicht das Ergebnis temporärer Erregung ist, sondern das Resultat sozialer Widersprüche, die nur auf revolutionärem Weg aufgehoben werden können. Selbst wenn man einräumt, die Hoffnungen der Kadetten könnten sich als gerechtfertigt erweisen, so ist doch in jedem Falle klar, dass von revolutionären Methoden „enttäuschte" Massen nicht imstande sein würden, die Kadetten in die Partei der revolutionären Demokratie zu verwandeln: Der Übergang der Massen zu den Kadetten würde, wäre er überhaupt möglich, unter den angeführten Bedingungen ganz einfach die Liquidierung der ganzen Revolution bedeuten.

Es ist weiter ganz richtig, dass der Druck der außerhalb der Partei der Kadetten organisierten revolutionären Massen noch besteht; er ist sogar ein ganz unbezweifelbares Faktum, er zeigte sich wiederholt und wird sich noch häufig zeigen. Aber er kann die soziale Natur der Partei nicht verändern.

Druck von außen kann eine Partei zu einem Schritt anspornen, den sie aus eigener Initiative nicht tun würde; aber er ist nicht imstande, einer Partei, die sich unmittelbar auf nicht-revolutionäre und antirevolutionäre Elemente stützt, revolutionären Charakter zu verleihen. Das ist der Grund, weshalb bei uns überhaupt keine Berechtigung zu der Erwartung besteht, dass die Kadetten sich an die Spitze der Revolution stellen würden, um alle alten Ketten zu lösen und neue anzulegen. Im Gegenteil, die weitere Entwicklung wird sie ständig von links unterminieren, indem sie alle lebenskräftigen Elemente der Demokratie von ihnen loslöst und die Partei als Ganzes an die Seite der Mirnoobnowlentsi drängt, die sich schon jetzt von den Kadetten weder in „moralischen Prinzipien" noch in Programm, Taktik oder politischer Basis unterscheiden.

Dieser Prozess ist unvermeidlich, aber in keiner Weise schon abgeschlossen. Und gerade weil er nicht abgeschlossen ist, können wir uns gegenüber den Kadetten nicht so verhalten wie gegenüber den Mirnoobnowlentsi oder den Oktobristen. Wir müssen den Kadetten bei der Erfüllung der Aufgabe, auf die sie selbst so viel Mühe verwenden, Hilfestellung leisten: Wir müssen ihnen helfen, endgültig sich zu kompromittieren gegenüber jenen Schichten, die das Medium zwischen den Kadetten und den Volksmassen bilden. Diesem Ziel dient natürlich vornehmlich unsere kritische Aufarbeitung der politischen Erfahrung des Landes.

Erbarmungsloser Kampf mit allen Vorurteilen politischen Philistertums, Entlarvung jenes phantastischen Realismus, der die klaffenden Widersprüche der revolutionären Entwicklung mit einer Wollkappe zu überdecken träumt! Niemals darf unsere Agitation hier nachlassen. Das allein jedoch genügt nicht: Die Kritik kann und muss dem Ereignis zuvorkommen, sie wird jedoch vom Bewusstsein der Massen lediglich so weit in Betracht gezogen, wie sie durch die Erfahrung der Ereignisse bestätigt wird. Eine erzreaktionäre Duma wäre deshalb gefährlich, weil sie eine revolutionäre Entwicklung verzögern würde: Der naive Glaube an die Duma als solche, an die Kadetten als Führer der Duma, würde unversehrt bleiben und auf eine erneute kritische Infragestellung warten müssen. Eine kadettische Duma würde einen neuen, noch offensichtlicheren Zusammenbruch des Kadettentums bedeuten und dadurch der Sache der Revolution dienlich sein. Man kann sagen, dass die kadettische Taktik schon einmal einen Zusammenbruch erfahren hat. Das sei zugestanden. Jedoch müsste sich ein solcher Zusammenbruch in einer Verminderung der Zahl von Fällen notwendiger Übereinkommen mit den Kadetten äußern: Denn solche Übereinkünfte können natürlich nur da sinnvoll sein, wo die Kadetten stark sind, wo der Glaube in ihre Taktik noch ungebrochen ist.

Daher beschränke ich mich hier in der Frage nach diesen Übereinkommen, da ihre detaillierte Untersuchung im ersten Abschnitt dieser Artikelsammlung geleistet wird. Vieles in diesem Abschnitt, der Anfang Dezember fertiggestellt wurde, erscheint in dem Augenblick, da es ans Licht des Tages tritt, bereits überholt. Aber unsere Partei besitzt keine Tagespresse, und wir sozialdemokratischen Publizisten sind, wenn nicht zum Schweigen, so doch zumindest zu Verspätung verurteilt.

Über unsere Taktik gegenüber der zukünftigen Reichsduma kann jetzt nur in ganz allgemeinen Zügen gesprochen werden. Sie hängt ab zum Teil von der Zusammensetzung der Duma, in viel stärkerem Maße jedoch von den Ereignissen, die sich im Rahmen der durch die Einberufung einer Volksvertretung geschaffenen Situation ergeben werden. Die Sozialdemokratie schafft, verbindet und entwickelt diese Ereignisse nicht – wenigstens nicht jene großen Ereignisse, die dem ganzen Gang des politischen Lebens seine Richtung geben. Revolutionäre Ereignisse entstehen unabhängig vom Willen irgendeiner politischen Organisation, sie sind das Resultat des Zusammentreffens „großer" Ursachen. Alles, was die Sozialdemokratie tun kann und tun muss, das ist: Bewusstsein und Organisation in die Massen hinein tragen, die in den politischen Strudel geraten sind. Das ist auch der Grund, weshalb die Frage der „Sprengung" der Duma, die bei den Herren vom „Retsch“ soviel Aufregung hervorrief, uns bar jeden Sinnes zu sein scheint. Die Duma mittels eines schlau ausgeheckten Plans zu „sprengen", wird für uns weder von Interesse noch vermutlich möglich sein; wenn sich jedoch große Ereignisse aus der Einberufung der Duma heraus entwickeln und sie zerstören, dann werden wir natürlich nicht über ihren Trümmern weinen. Wir werden eine dankbarere Beschäftigung für uns finden.

Ich sagte, dass es nicht das Ziel der Sozialdemokratie sein kann, die Duma künstlich zu „sprengen". Mehr noch: Um ihre Stellung in der Duma zu sichern, wird die Sozialdemokratie also gerade die Stellung der Duma im Lande sichern. Im angeführten Artikel gehe ich kurz darauf ein, dass es unumgänglich notwendig ist, den Wahlkampf und damit zugleich die Organisation der Massen um die sozialdemokratischen Abgeordneten weit über den Rahmen der offiziellen Kurien hinaus zu führen. Nur auf diesem Weg können wir unserer Dumafraktion den Einfluss sichern, auf den die Klasse, die sie geschickt hat, ein Anrecht besitzt. Diesem Ziel – und anderen, größeren Zielen – kann in einem bestimmten Moment der Tätigkeit der Duma ein gesamtrussischer Arbeiterkongress dienen. Nicht als Gegengewicht zur Partei, nicht für eine „Verbesserung" der Partei, nicht als pädagogische Maßnahme, sondern als politisches Auftreten der Klasse kann ein solcher Arbeiterkongress eine ungeheure Rolle spielen; er würde eine organisatorische Stütze für unsere Partei innerhalb wie außerhalb der Duma darstellen. Und wenn die Ereignisse über den Kopf der Duma hinweg rollen, würde das revolutionäre Parlament des Proletariats die Einheit von Ziel und Plan in diese Ereignisse hinein tragen.

Im zweiten Abschnitt dieser Artikelsammlung untersuchte ich in Form zweier „Briefe" die Frage des Arbeiterkongresses, wie sie in unserer Partei' in den letzten Monaten gestellt worden ist. Die Idee eines proletarischen Kongresses erhielt im Kreise einiger Genossen eine ganz schiefe Stellung in bezug auf bestimmte negative Seiten unserer Parteientwicklung. Meine „Briefe" sind hauptsächlich der Kritik utopischer und zugleich anti-parteilicher Losungen gewidmet, die wirr in der Agitation für den Arbeiterkongress auftraten. Die letzte Parteikonferenz, die so viel Vorsicht und Takt in der Sorge um die Einheit der Partei bewies, verkündete eine sehr vernünftige Entscheidung über diese Frage: Sie schlug vor, sie (bis zu einem Parteikongress) im Rahmen einer grundsätlichen Diskussion zu behandeln. Innerhalb dieses Rahmens werden meine zwei Briefe vielleicht nicht überflüssig sein. Unter dem Blickwinkel, unter dem sie geschrieben sind, entsprechen sie vollkommen dem Gesamttitel der Artikelsammlung: „Zur Verteidigung der Partei“.

Unter dem Aspekt der Verteidigung der Partei steht auch der dritte Teil des Buchs, die Polemik mit den Revisionisten, die ihre inhaltslose Politik auf den Seiten des „Towarischtsch" machen. Es handelt sich bei allen um ehemalige Marxisten, die vor einigen Jahren ihre theoretischen Grundlagen nach und nach verloren haben und bis jetzt in einem Zustand chronischer Wirrheit verweilen. Man kann sagen, dass ihre Bedeutungslosigkeit als ausreichende Entschuldigung sowohl für ihre bösen und ungerechtfertigten Angriffe auf die Partei wie auch für ihre Bemühungen dienen mag, sie zu „verbessern" – vor allem auf dem Weg einer Spaltung zwischen „Minderheit" und „Mehrheit". Der Leser, der sich auf diesen Standpunkt stellt, könnte mir daraus einen Vorwurf machen, dass ich den Herren „Kritikern", die aller Voraussetzungen bar sind, zu viel Platz widmete. Darauf kann ich nur antworten, dass der Leser, dem der russische Revisionismus teuer ist, natürlich frei an meiner Polemik vorübergehen darf; aber sie kann sich nicht als überflüssig erweisen für jene mit unserer Partei sympathisierenden Elemente" die Tag für Tag aus der radikalen Zeitung des Herrn Chodskij ihren Informationshunger stillen, ohne ein Gegengewicht in Gestalt einer sozialdemokratischen Presse vorzufinden. Ich will noch hinzufügen, dass ich mich bemühe, die Kritik an den grundsatzlosen Beschuldigungen gegenüber unserer Partei auf das Niveau einer prinzipiellen Darstellung unserer Parteipraxis zu erheben.

Im letzten Teil der Artikelsammlung schließlich findet sich die Übersetzung eines Artikels von Kautsky: „Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution". Dieser Artikel erwies sich als unerwarteter Hieb für einige Genossen, die sich mit schablonenhaft-utopischen Vorstellungen über den Gang der russischen Revolution zufriedengaben – Vorstellungen, die weit von einer wie auch immer gearteten Analyse ihres realen Gehalts entfernt waren. Sie träumten von der bürgerlich-demokratischen (jakobinischen) Diktatur, die sie hier dem „Verband der Verbände", dort den Kadetten in die Hand legten. Armer „Verband der Verbände"! Arme Kadetten!

Einige Freunde teilten mir – im Scherz natürlich – mit, dass zur Abschwächung des Effektes, den der Artikel Kautskys hervorrufen könnte, eine sehr poetische Legende erfunden worden sei: Parvus habe nach Verlassen des Gebiets von Turuchansk auf dem Weg zur Wahlkampagne am Rhein seine Tätigkeit damit begonnen, dass er Kautskys klares Denken in Friedenau bei Berlin verwirrt habe; dass Parvus ein sehr gefährlicher Emissär der Idee der permanenten Revolution sei, belegten die Autoren der Legende mit dem Verweis auf die Zeitung „Natschalo"

Das ist selbstverständlich nur ein geistreicher Witz. Als völlig geistloser Scherz dagegen erscheint der durch Faulheit des Denkens diktierte Versuch, die Kompetenz Kautskys in den Fragen der russischen Revolution einfach zu negieren. Besonders bezeichnend ist, dass ein derartiger Versuch bisweilen gerade von Genossen unternommen wird, die sich mit einer allgemeinen Bestimmung unserer Revolution als einer bürgerlichen begnügen und sie prinzipiell mit der alten bürgerlichen Revolution Westeuropas gleichsetzen. Das würde bedeuten, dass der europäische Theoretiker der Sozialdemokratie den „europäischen", traditionell-bürgerlichen Charakter der russischen Revolution deshalb nicht begriffe, weil sie für ein Verständnis zu – eigenständig sei.

Wir entschuldigen uns bei den Lesern, dass man diesen Nichtigkeiten einige Zeilen widmete. Der Artikel Kautskys ist ein so hervorragendes Phänomen, dass er völlig außerhalb solcher anekdotischen Lappalien betrachtet werden muss. Einer entsprechenden Prüfung werden ihn natürlich auch die Vertreter anderer Standpunkte unterziehen.

Unsere Wahlen werden parallel mit den Wahlen in Deutschland stattfinden, wo die Sozialdemokratie sich vorbereitet, einen neuen gewaltigen Schritt nach vorn in Richtung auf die politische Herrschaft des Proletariats zu tun. Aber schon jetzt, in der Zeit der Agitationskampagne, demonstriert unsere deutsche Partei vor der ganzen Welt ihre Fähigkeit zu dieser Herrschaft: ihre Geschlossenheit, ihre hervorragende Disziplin. Man sehe, wie der Korrespondent einer demokratischen Zeitung darüber schreibt:

In den Reihen der Sozialdemokratie gibt es angesichts des ernsten historischen Augenblicks keinerlei Anzeichen irgendwelcher ernsthaften Meinungsverschiedenheiten in der Partei. Alles ist in diesem Moment vergessen, und mit geschlossenen Reihen stehen Radikale und Revisionisten vor dem einen gemeinsamen Feind. Alle „verfügbaren“ Parteimitglieder sind auf vorgeschobene Posten berufen, als Agitatoren, als Organisatoren, als Kandidaten. Von früheren Dissonanzen ist keine Spur geblieben. Wir haben ein Schauspiel von erstaunlicher Harmonie, Disziplin und Begeisterung vor uns."

Solche Einmütigkeit und solche Disziplin möchte man unserer russischen Partei wünschen, die unmittelbar vor weit größeren Schwierigkeiten steht als die deutschen Genossen. Das ist nicht so sehr ein platonischer Neujahrswunsch, da Einheit zu bewahren und Reibungen auf ein Minimum zu beschränken jetzt vornehmlich von uns selbst, von unserem Takt, von unserer organisatorischen Klugheit abhängt; ja, hier ist das Gebiet, wo Takt unvergleichlich viel mehr bewirken kann als in dem Bereich unserer Beziehungen zu den Liberalen, den Vertretern einer anderen Klasse.

Davon habe ich deshalb zu sprechen begonnen, weil in der Luft undeutliche Anzeichen einer sich nahenden Spaltung liegen. Einige Genossen sind offensichtlich schon wieder bereit, die Spaltung als „Rettung" zu begrüßen. „Besser die Spaltung", sagen sie, „als das, was ist."

Ich weiß, dass auch die deutsche Partei nicht mit einem Schlag zur Einheit gelangt ist. Es gab die Periode eines erbitterten Kampfes zwischen Lassalleanern und Eisenachern (Marxisten). Das ging so weit, dass die Lassalleaner bei Wahlen Liberale gegen die Eisenacher unterstützten und bei einem Wettbewerb zwischen einem Eisenacher und einem Konservativen sich der Stimme enthielten. Doch hier waren die Meinungsverschiedenheiten auch unvergleichlich tiefer und prinzipieller. Und trotz alledem, als sich nur die kleinste Möglichkeit bot, kamen beide Seiten einander entgegen und arbeiteten das Gothaer Vereinigungsprogramm aus, das uns durch seine groben Kompromisse und seine Konzessionen gegenüber Lassalleanischen Vorurteilen verblüfft. Auf der Basis dieses Programms erwuchs das vortreffliche Gebäude der deutschen Sozialdemokratie. Die Praxis des einen Klassenkampfes zerrieb alle programmatischen Fehleinschätzungen und taktischen Vorurteile zu Staub. Unsere aktuellen Meinungsverschiedenheiten zwischen „Minderheit" und „Mehrheit* sind, ich wiederhole es, bei weitem nicht so tief, wie es seinerzeit die Meinungsverschiedenheiten zwischen Lassalleanern und Eisenachern waren. Aber die Epoche, die wir erleben, legt uns eine unvergleichlich größere Verantwortung für jeden unserer Schritte auf. Diese Epoche wiederholt sich nicht, um uns die Möglichkeit zu geben, die Fehler unseres fraktionellen Furors zu korrigieren.

Angesichts der Ereignisse, die uns der Schoß der Revolution gebiert, gibt es bei uns, kann es bei uns, darf es bei uns, bei der Partei des Proletariats, kein größeres Vermächtnis geben als die Einheit!

Einheit um jeden Preis!

Vor dem kolossalen Abgrund, der sich zwischen dem Volk und der alten Macht aufgetan hat, vor der tiefen Kluft, die durch die Revolution zwischen den Massen und der Klasse des Grundbesitzes und des Kapitals aufgerissen ist, vor jener unauslöschbaren Scheidelinie, die zwischen dem Proletariat und allen anderen Klassen gezogen ist, sind die Meinungsverschiedenheiten unserer beiden Fraktionen so bedingt, so unwichtig und gering, dass sie wie zufällige Runzeln auf der großen Stirne der Revolution erscheinen.

Das in seiner Unmittelbarkeit elementare Gefühl der Verantwortlichkeit für die Partei sowie auch die ruhige und objektive Analyse müssen uns gleichermaßen lehren, dass eine Spaltung jetzt Verbrechen und Wahnsinn wären. Das können nur die Genossen nicht erkennen, die – in beiden Fraktionen – den fraktionellen Rost nicht abgeworfen haben!

Wenn ein Genosse der Mehrheit einen Ausweg in der Spaltung sucht, dann werde ich ihm sagen: „Wie? Sie hegen so kolossale Hoffnungen auf den weiteren Gang der Revolution? Sie denken, dass ihr mächtiger Druck das Proletariat an die Macht bringen wird; Sie denken, dass der Sozialdemokratie die Aufgabe gestellt ist, durch eine Einheit der Taktik die Klasse zusammenzuschließen, die sich noch kaum von der politischen Nichtexistenz gelöst hat und schon der Geschichte ihren Willen diktiert; Sie hoffen, der Hegemonie dieser Klasse die zahllose Masse der russischen Bauernschaft unterzuordnen, die sich noch nicht von der Nabelschnur der Knechtschaft und der Barbarei losgerissen hat; Sie hoffen, in diese Klasse, die von Widersprüchen, „asiatischem Rudimenten und utopischen Erwartungen erfüllt ist, Einheit, Planmäßigkeit und Geschlossenheit zu führen; Sie hegen ein so immenses Vertrauen (vortrefflich, sage ich, weil ich es teile) in die mächtige Logik der sozialrevolutionären Entwicklung – und Sie können nicht, sie wollen nicht Einheit, Planmäßigkeit und Geschlossenheit in die Taktik des gegenwärtigen Moments einführen. Sie scheuen sich, in unserer fraktionellen Situation auch nur die eine Linie zu überschreiten, wie sie sich gegenwärtig, vor ganz kurzer Zeit, in einem kleinen Zeitungslaboratorium unter dem Einfluss temporärer Ursachen, die wir zusammen mit Ihnen morgen vergessen haben werden, herausbildete – zu überschreiten im Namen dieser Aktionseinheit der Massen, vor denen das Tor einer einzigartigen revolutionären Schule geöffnet ist. Sie wollen alles mit Polemik erreichen; Sie wollen alles sofort erreichen, mit einem Schlag, ohne aus der Spur zu treten. Sie vergessen, dass Taktik kein abgeschlossenes System ist, in dem es zu überreden gilt, sondern eine Fähigkeit, die man konkret darstellen muss. Sie trachten nach formaler Anerkennung einiger Positionen, die Ihnen heute absolut erscheinen, und in diesem unvollständigen Ansatz lassen Sie reale Fakten und Vorgänge unberücksichtigt, auf die man sich stützen müsste, um die Arbeitermasse effektiv voran auf den Weg zu stoßen, auf den sie die Geschichte ruft. Sie vergessen, dass Taktik eine historische Form ist und eine ununterbrochene Anpassung an das lebendige Material erfordert, als dessen Elemente sich last not least die Bestandteile unserer Partei erweisen. Ihnen jedoch scheint die ganze Sache verloren, wenn sich nur Ihre partielle Losung nicht durchgesetzt hat, Sie vergessen alle Perspektiven und sind bereit, Ihre eigene Behausung, die Partei, an allen vier Ecken in Brand zu stecken.

Sie wollen alles durch Polemik erreichen – und Sie bemerken nicht, dass Sie dieses Messer längst abgestumpft haben. Sie schwingen es zu häufig und zu ungezielt, und die Muskeln Ihrer Hände haben die notwendige Feinfühligkeit und Elastizität verloren. Mit gleicher Kraft fügen Sie Plechanow und Miljukow, Martow und Struve Hiebe zu. Und gerade deshalb verwunden Sie niemanden und nichts mehr – keine Person, keine Idee; Sie zerschneiden nur blindlings die Haut der Partei in ihrer Gesamtheit.

Je weiter und kühner Sie nach vorwärts blicken, desto mehr sind Sie zu Toleranz, Weite und der Suspension fraktioneller Subjektivismen verpflichtet – immer, wenn die Einheit des Auftretens der proletarischen Partei dies erfordert. Natürlich sage ich nicht, dass der ideelle Kampf innerhalb der Partei unzulässig sei. Was ich will ist: erstens, dass die literarische Polemik, die Sie entwickeln, weder vor Ihren Widersachern noch vor Ihnen selbst jene materiale Polemik gegen alle Vorurteile verdeckt, die die Ereignisse der Revolution entwickeln; zweitens, dass sie sich unterzuordnen verstehen – nicht aus Angst, sondern aus Gewissen – in den Fällen, in denen wir unterzuordnen nicht imstande sind. Sie sind zu ungeduldig, teurer Genosse, Sie treiben die Revolution an wie einen faulen Esel. Die Ziele jedoch, die Sie verfolgen, sind es wert, dass man abzuwarten versteht. Der Fraktionskampf, die Arbeit des polemischen Messers – das ist nur ein kleines Teilchen in der großen Mechanik der Ereignisse. Wenn Sie heute nicht gesiegt haben, dann soll Ihr Vertrauen in den Gang der Revolution Sie auf den Gedanken bringen, dass es noch früh ist. Legen Sie Ihr Messer beiseite, gedulden Sie sich ein wenig, erlauben Sie neuen Ereignissen, seine abgestumpfte Schneide neu zu schärfen."

Einem Genossen aus der Minderheit, der begänne, einen Ausweg in der Spaltung zu suchen, müsste ich mit vollem Recht sagen: „Wie? Sie halten es für unerlässlich, die Politik des Proletariats mit der Politik der bürgerlichen Demokratie zu koordinieren – und zugleich wollen Sie die Möglichkeit zerschlagen, die Politik zweier Teile der Partei des Proletariats zu koordinieren? Sie stellen sich zu Recht gegen die künstliche Forcierung der Klassenwidersprüche im politischen Kampf; sie fürchten, dass die Klassenleidenschaften des Proletariats einen zu primitiven politischen Ausdruck erhalten und dadurch den Kampf um die Demokratie bremsen könnten – und anstatt unter diesen Bedingungen jedes Körnchen sozialistischen Bewusstseins hoch einzuschätzen, anstatt jedem Keim zu ermöglichen, sich aufzurichten und empor zu wachsen, wollen Sie mit ungeduldiger Hand längs einer völlig zufälligen Linie die Parteiorganisation zerbrechen, in die Reihen des aktiven Proletariats immense Verwirrung bringen, in seiner Mitte das Vertrauen in die Partei zerstören und das Feld für die übelsten Formen von Demagogie und die schädlichsten, echt anarchistischen Tendenzen frei machen, die vom primitiven Klasseninstinkt der Massen genährt werden! Oder hoffen Sie darauf, dass die Massen Ihnen folgen werden? Weshalb nehmen Sie dann Zuflucht zu einer so schmerzhaften Methode wie der Spaltung?

Haben Sie den Mut, die Früchte Ihres ideellen Kampfes um den Einfluss auf die Massen abzuwarten, ohne die eine Partei zu zerschlagen, die wir besitzen! Hofften Sie nicht vor einem, zwei, drei Jahren, dass „die Masse" ganz plötzlich auf Ihre Seite übergehen würde? Und haben Sie sich etwa nicht geirrt? Sie werden sagen, dass Sie letzten Endes gesiegt hätten, da die Bolschewiki Ihren Standpunkt übernommen hätten. Ausgezeichnet! Aber ist das etwa ein Argument für die Spaltung? Sie werden sagen, dass Sie für den Einfluss auf die Massen freie Hände benötigten; aber sind wir etwa nicht schon durch eine Phase formaler Spaltung hindurchgegangen? Und haben Sie dabei „freie" Hand gehabt? Sind Sie nicht bei jedem Schritt mit den Bolschewiki zusammengestoßen? Mussten Sie nicht bei jeder politischen Handlung in Unterhandlungen eintreten und Absprachen treffen? Gelangten Sie nicht auf diesem Wege zur Bildung „föderativen Organisationen? Und erwuchs nicht auf dieser Basis der Vereinigungskongress? Wollen Sie ganz einfach diese Geschichte von vorn beginnen? Oder besitzen Sie jetzt das Geheimnis, das Sie früher nicht kannten? Sie werden mir, Genosse, vielleicht sagen, dass die Einheit jetzt ohnehin einen rein formalen Charakter besitze. Das ist nicht wahr! Aber sogar wenn es so wäre, muss man dann nicht dafür Sorge tragen, dass sich diese organisatorische Einheit mit der Einheit politischen Inhalts füllt? Müssen nicht darauf alle Anstrengungen gerichtet sein? Und sind nicht die „Besseren“ verpflichtet, die Partei in Richtung jenes klugen innerparteilichen „Opportunismus* zu weisen, ohne den eine politische Gruppe, die Zehntausende von Mitgliedern zählt, nicht leben kann? Liegt der Ausweg etwa in der Spaltung und nicht in jenem System beständiger Kompromisse, von denen jeder eine Sprosse zur Einheit des Klassenkampfes ist?

Sie sagen, dass die Einheit jetzt nur formalen Charakter habe. Möge dem so sein: Aber dennoch ist das der Anfang der Einheit. Lokalkonferenzen treffen mittels Stimmenzählung eine allgemein verbindliche Entscheidung. Unterwirft man sich ihr in manchen Fällen nicht? Das ist böse! Dagegen muss man mit einer allgemeinen Erhöhung des Bewusstseins der Partei kämpfen. Aber einen Ausweg in der Spaltung suchen heißt sich den Kopf abschneiden, um sich nicht die Haare kämmen zu müssen. Die Spaltung erhebt zu jeder Frage zwei Taktiken zur Norm, mehr noch – zum Vermächtnis fraktionellen Ehrgeizes. Und wenn sie zu guter Letzt beide Seiten verschmachten lässt, dann werden Sie aufs Neue eine formale Einheit als Brücke zu realer Einheit suchen. Vielleicht werden Sie mir sagen, dass das nicht geschehen kann, dass die taktischen Widersprüche Sie auf verschiedene Seiten führen werden, indem sie eine immer tiefere (Klassen-?)Differenzierung innerhalb der Sozialdemokratie hervorrufen.

Sagen Sie mir das, und ich werde Sie auslachen. Eben sagten Sie mir doch, dass die Bolschewiki zu guter Letzt immer nach Canossa gehen. Wo ist dann die zunehmende Differenzierung? Lesen Sie doch die Broschüre Axelrods über die „zwei Taktiken": Er sagt, dass zwischen dem Inhalt der politischen Praxis von Minderheit und Mehrheit kein einziger prinzipieller Unterschied bestehe. Er existiert in den Grundideen, in den Pamphleten fraktioneller Literaten – das ist alles, was Sie sagen können. Aber Sie wollen doch nicht Ideen spalten, die das nicht nötig haben, nicht Literaten, die unglücklicherweise schon viel zu lange gespalten sind – Sie wollen die Parteiorganisationen spalten, deren Arbeit nach dem Eingeständnis Axelrods qualitativ gleich ist. Oder hat sie sich in den letzten Wochen so tief differenziert, dass sie die Spaltung erfordert?"

Eine Spaltung wäre Wahnwitz und Frevel! Sie wäre ein zu offensichtlicher Irrsinn, als dass sie stattfinden könnte. Das robuste politische Gefühl jedes durchschnittlichen Arbeiters wird sie nicht zulassen. Allein der politische Alptraum der letzten Monate, als jede breite politische Arbeit unmöglich war, als gewaltige Anstrengungen für die geringfügigsten Ergebnisse notwendig waren, als die Illegalität von neuem den Hals der Partei mit dem Würgegriff einer Boa constrictor umfasste, als die Frustration jedes einzelnen sich in allem so leicht in die Beschuldigung der gegnerischen Fraktion verwandeln musste – nur dieser Alptraum konnte aus seinen Tiefen sein liebstes Kind, das Alptraumgespenst der Spaltung gebären!

Wenn wir Internationalisten nicht nur verbal, sondern auch in der Aktion sind, müssen wir unsere fraktionellen Angelegenheiten unter dem Blickwinkel des internationalen Sozialismus betrachten können. Wir werden ihm über unsere Spaltung Rechenschaft ablegen müssen. Wird er uns begreifen? Nein, er wird uns nicht begreifen. Er kann nicht begreifen. Alles, was uns vor seinem Tribunal noch zu tun möglich ist, ist die Berufung auf unsere fraktionelle Barbarei als mildernden Umstand.

Wenn wir uns jetzt spalten, nachdem wir es gerade geschafft haben, uns mit dem Bund und der polnischen Sozialdemokratie zu vereinigen, worauf die europäischen Genossen immer beharrt haben — mit welchen Gesichtern würden wir in Stuttgart auf dem Internationalen Sozialistischen Kongress erscheinen, auf dem die Arbeiterinternationale von uns Rechenschaft über unsere Eroberungen fordern wird?

Verzeiht, Genossen, aber ich sage, wir würden mit den Spuren einer Ohrfeige im Gesicht erscheinen, die wir uns selbst versetzt haben.

Ich stehe dem letzten Jahr der Parteientwicklung mit seinen Stimmungen und Beziehungen zu fern, und vielleicht übertreibe ich die wachsende Gefahr für die Partei, indem ich zufällige Äußerungen, vereinzelte unglückliche Worte für ernsthafte Symptome nehme. O, wenn es doch so wäre!

Aber wenn dem nicht so ist, wenn sich tatsächlich in den führenden Parteikreisen die Spaltung vorbereitet, darin muss jeder der Partei ergebene Arbeiter schreiend auf diese Gefahr hinweisen, auf diesen Frevel gegenüber der Sache der russischen Revolution und des internationalen Proletariats.

1. Januar 1907

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