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Leo Trotzki 19080818 Der eklektische Sancho Pansa und sein mystischer Schildknappe Don Quichotte

Leo Trotzki: Der eklektische Sancho Pansa und sein mystischer Schildknappe Don Quichotte

[Nach Literatur und Revolution. Berlin 1968, S. 248 f., s auch den russischen Text]

Ich habe kürzlich in einer russischen Zeitung gelesen, der Realismus sei heute endgültig abgeschafft, und wenn sich noch jämmerliche Überreste erhalten haben, dann höchstens in Hinterhöfen oder in marxistischen Broschüren. Nun, was tut es, abgeschafft ist abgeschafft. Da hat doch Herr Kusmin die Naturgesetze abgeschafft, und trotzdem ist das Weltgebäude nicht aus den Fugen geraten – während hier doch nur die materialistische Philosophie abgeschafft worden ist, so dass also zur Beunruhigung vorläufig gar kein Grund besteht. Aber wer denn eigentlich den Realismus abgeschafft hat, das wollte der Autor nicht verraten. Von sich selbst hat er beiläufig zugegeben, er fühle sich unter Mystikern als Positivist und unter Positivisten als Mystiker; unter Dekadenten sehne er sich nach Naturalisten, und von den Naturalisten will er stets zu den Dekadenten flüchten. Das heißt, der Mensch fühlt sich in höchstem Grade unbeschwert. In längst vergangenen Zeiten (d. h. vor 20 oder 30 Monaten) hätte man einem solchen Herrn sagen können: „das nennt man doch Prinzipienlosigkeit, und das, mein lieber Herr, ist wirklich doch kein Grund zum prahlen." Aber heutzutage kann man mit solchen „erbärmlichen Worten“ niemanden mehr aus der Ruhe bringen. Die Prinzipientreue ist zusammen mit den Überbleibseln des Realismus ebenfalls in die Hinterhöfe verbannt, wobei es wiederum nicht üblich ist, aufzuklären, ob es sich hierbei einfach nur um eine zeitweilige administrative Verbannung in geografische Hinterhöfe handelt oder um eine sozusagen „geistige“ und vollkommen unwiderrufliche Verbannung. Diese Frage nur zu stellen gilt bereits als in höchstem Masse unanständig, denn sie weckt einige unangenehme Erinnerungen, nagt am Gewissen und erzeugt ein Unsicherheitsgefühl… Und nichts wird von den kokett und unbeschwert spazierenden Herrschaften so geschätzt wie die Seelenruhe. Es wäre in unstatthafter Weise naiv zu glauben, dass ihr Schwanken zwischen Positivisten und Mystikern durch die Verwirrung ihrer suchenden Seele hervorgerufen sei. Nicht im Geringsten. Wer sucht, wird sich niemals damit brüsten, dass er nichts gefunden hat. Diese aber haben wahrhaft alles, was sie brauchen. Im lauwarmen Wässerchen ihres Gleichmuts haben sie eine handvoll Positivismus, eine Prise Mystik, eine handvoll Skepsis, etwas Ästhetik, sogar ein wenig Zynismus aufgelöst – und fürchten vor allem, dass irgendein grober Stoß von außen sie aus dem Gleichgewicht bringen und ihre eklektische armselige Brühe bis zum letzten Tropfen verplanschen könnte.

Sie sind im Grunde genommen sehr feige, diese Herrschaften, die vor dem Spiegel die Grimasse überheblicher Selbstzufriedenheit einstudieren. Zutiefst in ihrer Seele (das heißt in nicht sehr großer Tiefe) nistet wimmernde Angst vor realistischen Hinterhöfen. Von dort kann man immer gewaltige, fatale Unannehmlichkeiten erwarten.

Wissen sie, warum sie so eilfertig den gestrigen Tag schmälern und schmähen? Eben weil sie den morgigen fürchten. Sie sind Feiglinge, diese Eklektiker Sie beneiden sogar die Mystiker, obwohl sie ihnen gönnerhaft auf die Schultern klopfen. Und ihr Neid wäre ungleich brennender, wenn die Mystiker selbst nicht aus einem so unzuverlässigen Material gemacht wären. Aber das ist es ja gerade, dass unsere Mystiker nichts anderes sind als Positivisten, die an ihrem vulgären Positivismus verzweifelten. Darum würden sie bei ihnen vergeblich nach einem wahrhaft mystischen Kern suchen. Irgendein geistreicher Franzose hat Heinrich Heine einen romantique défroqué genannt, sozusagen einen Romantiker, der seine Kutte ausgezogen hat. Und man sieht auf Schritt und Tritt in der Heineschen Lyrik, wie der Skeptiker dem Romantiker plötzlich über den Mund fährt und ihm ungeniert die Zunge zeigt. Les proportions gardées, d. h. unter gleichen Bedingungen, aber in völlig anderem Größenverhältnis, vollzieht sich etwas ähnliches mit unserem heutigen Mystiker. Er ist kein Mystiker, sondern ein abtrünniger Positivist. Darum ereignen sich mit ihm auf Schritt und Tritt die peinlichsten geistigen Episoden und immer wieder reizt ihn in Augenblicken höchster „Offenbarungen“ sein alter, nicht ausgebrannter Positivismus mit der herausgestreckten Zunge

Diese beiden Figuren: der ängstlich-überhebliche Eklektiker und der „genial“ unberechenbare Mystiker stellen unsere neueste Variation zu dem Thema Sancho Pansa und Don Quichotte dar. Aber – o weh! wie radikal haben sich ihre rollen verändert. Der Herr ist jetzt Sancho, während Don Quichotte seine Aufträge ausführt, ein Mittelding zwischen Prophet und Narr.

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