Leo Trotzki‎ > ‎1908‎ > ‎

Leo Trotzki 19081125 „Der Schönheit des Stils wegen“

Leo Trotzki: „Der Schönheit des Stils wegen“

[Nach Literatur und Revolution. Berlin 1968, S. 265-268, s. auch den russischen Text]

Vom Zeitschriftenrummel irgendwie unbemerkt, vollzog sich der vollkommene Zusammenschluss des Herrn Mereschkowski mit Herrn Pjotr Struwe in der Zeitschrift „Russkaja Mysl“. Uns kann man auf diesem Gebiet heute überhaupt durch nichts mehr verblüffen. Durch die Ereignisse der letzten Jahre sind unsere lieben Intelligenzler derart durcheinander gewirbelt worden, haben dabei derart viele völlig unvorhergesehene und unvorsichtige Körperbewegungen vollbracht, haben in diesem Wirbel soviel verschiedenartigstes ideologisches Porzellan zertrümmert, dass es einen nicht mehr wundert, wenn jetzt, da man sich gezwungen sieht, in aller Eile Ideologien und Reputationen zu restaurieren, manch einer der Kochtöpfe in deutschem nationalliberalem Stil plötzlich mit irgendeinem der aller buntesten byzantinischen, durch und durch revolutionär-messianistischen Scherben geflickt erscheint.

Versuchen sie doch einmal, dieses verschnörkelte Ornament abzukratzen: hier wie dort wird immer der gleiche, für alle Umgestaltungen geeignete Intelligenzlerton zutage treten.

Und dennoch sei erlaubt, wenn auch nicht mit dem Gefühl, so doch mit dem Verstand, sich über die ungewöhnliche Elastizität der menschlichen Psychologie zu wundern. Da ist Anton Krajnyj (der Allerextremste!). Und was sehen wir? Dieser „Extremste“ bespricht heute besänftigt die Literatur in der „gemäßigtesten“ Zeitung unserer Zeit. Da ist Herr Rosanow. Er wurde in den neunziger Jahren durch seinen grauenhaften Artikel über die Chodynka-Katastrophe bekannt, in der er eine gerechte Strafe für die Sünden der revolutionären Bewegung erblickte. Eine deutlichere Fixierung seiner Anschauungen kann man, wie es scheint, nicht verlangen. Jedoch stolperte der Mensch unerwartet (lange vor der Zeit Sanins!) über das „Sexualproblem“ und purzelte von der Höhe einer Chodynka-Vergeltung in den Abgrund, purzelte dabei mit einer solchen Geschwindigkeit, dass er Ende 1905 an der Schwelle der sozialdemokratischen Redaktion erschien und … dort anklopfte. Die Türangeln erwiesen sich als hartnäckig, die Tür öffnete sich nicht – und Herr Rosanow blieb bis zur weiteren Klärung der näheren Umstände bei der (Zeitung) „Nowoje Wremja“ hängen, als deren eigener Gerechter in Sodom … Und hier ist Herr Berdjajew. Er purzelte die ganze Zeit über mit der gleichen Geschwindigkeit und auf dem gleichen Weg, nur in entgegengesetzter Richtung … und hier Herr Minski, Poet und Mäonist. Er hielt den höchsten Würdenträgern der Kirche einen Vortrag über das wahre Christentum, wenige Monate später aber verkündete er in der schonungslosen „proletarischen Hymne“: „wer nicht mit uns ist – ist wider uns!“ Und schließlich Struwe und Mereschkowski. Der erste begann nach Engels „mit dem Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“, endete… nun, es ist noch nicht bekannt, womit er enden wird. Der zweite erklärte dem Antichrist einen schonungslosen Krieg, wobei anfangs sich die Revolution als Antichrist erwies und später – als das genaue Gegenteil… Sie alle schwirrten wie aus ihrer Bahn geschleuderte Kometen durch die Sternenhimmel der Metaphysik und Mystik. Es schien, als könnten sie nie und nirgends zueinanderfinden. Und dennoch, es fand sich bei ihnen irgend etwa sehr Gemeinsames, irgend so ein irdischer Schwerpunkt – und sie alle scharten sich um die „Russkaja Mysl“, sowohl diejenigen, die von Karl Marx zur Apokalypse gelangten, wie auch diejenigen, die von der Apokalypse her zu Karl Marx kamen. Hier, in der „Russkaja Mysl“, wo Herr Struwe über die staatliche Macht nachdenkt und Herr Isgojew Staatsideen bei Personen entdeckt, denen diese schon von Amts wegen zustehen. Hier und nirgends sonst hat Herr Mereschkowski seinen Anker geworfen. Ist das nicht fatal? Mereschkowski, der militante Staatsgegner! Mereschkowski, der die Revolution vertiefen wollte bis auf den Grund der Unterwelt und sie bis zum Thron Zebaots erheben wollte? Ist das etwa nicht „tragisch“?

Überhaupt nicht tragisch! Nicht im geringsten Grade! Und wissen sie warum? Es ist viel zu wenig Leidenschaft und allzu viel .Stil darin. Viel zu viel Symmetrie, vernichtende, mechanische Symmetrie. Ein Abgrund oben – ein Abgrund unten. Engel und Teufel. Menschgott – Gottmensch. Und Mereschkowski selbst immer auf dem Gipfel, immer auf dem Grat zwischen zwei Abgründen, das Gesicht mal dem einen, mal dem anderen zugewandt. Aber unbedingt unter Beachtung der Symmetrie. Zu viel Stil! Nicht etwa deshalb, weil Mereschkowski der beste russische Stilist wäre, wie Herr Struwe es sich einbildet, sondern weil in dem äußerlichen Stil (es gibt aber auch einen inneren), der Mechanik der Rede, sich für ihn selbst das ganze Geheimnis seines Glaubens offenbart. Ob er alte Götter verbrennt oder neue erschafft, ständig schmückt er sie mit symmetrischen Wortgirlanden.

Erst ein leichter Anlauf mit literarischen Antinomien, dann – eine sich in einer Linie langziehende formallogische Analyse und dort, wo die scholastische Kette sich einer Schlussfolgerung nähert – plötzlich eine unerwartete Unterbrechung, ein Sprung zur Seite, eine Metapher, ein Symbol, eine Anspielung, ein Wort – und wieder eine neue Kette – bis zum nächsten Sprung. Und vielleicht ist das Unerträglichste in alledem, dass jeder derartige „plötzliche“ logische Sturz in den Abgrund des Glaubens in keiner Weise spontan ist, im Gegenteil, er ist sorgfältig durchdacht, vorbereitet und geprobt. Schließlich und endlich überzeugen sie sich ungewollt, dass alle diese mystischen .Anwandlungen bereits vorhanden waren, bevor das scholastische Philosophieren begann und dass gerade dieses sie für die Aufnahme der plötzlichen Offenbarungen in ihrer ganzen Plötzlichkeit und darum seelischen Tiefe empfänglich machen soll.

Viel zu viel literarische Kosmetik! Viel zu viele Blumen – o weh, Papierblumen! Wie fein das Papier auch sein mag und wie fein die Arbeit, sie werden nach einigen Minuten ihres Aufenthaltes in dieser Umgebung eine grimmige Gereiztheit und den unüberwindlichen Wunsch verspüren, diese ganze trocken raschelnde Pracht zusammen zu knüllen und sie unter den Tisch, in den Papierkorb zu werfen.

Die klugredende und überaus um sich selbst besorgte Schönheit – ist der Fluch Mereschkowskis. Die leidenschaftslosen Dramen seines Suchens vermögen niemandes Mitgefühl zu erregen. Seine ideellen „Verrätereien“ rufen bei niemandem einen Protest hervor. Es fehlt ihm an Leidenschaft. Diese aber ist durch nichts zu ersetzen. Und selbst wenn er Ossa über Pelion herfallen oder einen Abgrund in den anderen stürzen ließe, so werden sie in jedem Falle zu dem Schluss kommen, dass dies nur der Schönheit des Stils wegen geschieht und werden achtlos vorbeigehen, denn auch sein Stil wird durch eben diese Schönheit unerträglich.

Kommentare