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Leo Trotzki 19081000 Nationalpsychologie oder Klassenstandpunkt?

Leo Trotzki: Nationalpsychologie oder Klassenstandpunkt?1

[„Die Neue Zeit“, 27. Jahrgang, 1. Band, Nr. 3 (16. Oktober 1908), S. 76-84]

In einem bedeutenden Teile der sozialistischen Internationale lässt sich eine überaus große, bisweilen geradezu in Teilnahmslosigkeit übergehende Zurückhaltung beobachten, so oft es sich um Fragen der auswärtigen Politik handelt. Dieser Zug ist das Erbe jener Periode der europäischen Geschichte, die auf den Deutsch-Französischen Krieg, die Kommune und den Zerfall der alten Internationale folgte. Inmitten der mächtigen industriellen Entwicklung und der Festigung der europäischen Reaktion wurde die ganze Energie unserer Partei von der Organisierung der vom Kapital proletarisierten Massen in Anspruch genommen. Revolutionäre Zusammenstöße zwischen den Klassen fehlten in gleicher Weise wie kriegerische Verwicklungen unter den Staaten. Der bewaffnete Friede und das europäische Gleichgewicht zwangen die Sozialdemokratie, ihre Aufmerksamkeit in erster Linie den Lasten des Militarismus im Innern zuzuwenden. Der rein diplomatische Charakter der internationalen Politik trug neben manchen anderen Ursachen zu einer gewissen nationalen Absonderung der proletarischen Parteien bei.

Der Russisch-Japanische Krieg, die russische Revolution und das Erwachen Asiens – diese Umstände ändern von Grund auf die Situation.

Jenes hohe Maß von Aufmerksamkeit, das der Stuttgarter Kongress der Frage der internationalen Verwicklungen widmete, zeugt davon, dass der Sozialismus zu der neuen politischen Situation Stellung nimmt, und die neulich stattgefundene Friedensdemonstration der Arbeiterschaft zu Berlin bedeutet einen mächtigen praktischen Schritt nach vorwärts auf dem Wege der aktiven Einmischung der Sozialdemokratie in die auswärtige Politik der kapitalistischen Regierungen. Aus einem Prinzip unseres Programms, aus dem Solidaritätsgefühl der proletarischen Massen ist der Internationalismus im Begriff, sich zu einer Tatsache der direkten und unmittelbaren revolutionären Mitarbeiterschaft der Arbeiterklassen in den verschiedenen Ländern umzuwandeln. Man kann diese neue Phase der politischen Entwicklung nur willkommen heißen! Auf dem Weltmarkt der gegenwärtigen Politik, wo sich die gewaltigen Kräfte der kapitalistischen Entwicklung kreuzen, wo deren Gegensätze mit dem Argument der Waffen gerüstet aufeinanderprallen – da ist es für jede einzelne Arbeiterpartei am leichtesten, ihre privaten Siege und Errungenschaften an dem Maßstab der Weltbeziehungen zu messen und auf diese Weise sich der Augenbinde der nationalen oder gar lokalen Beschränktheit zu entledigen.

Vielleicht hat gerade das unklare Bewusstsein, dass es in dieser Sphäre am schwersten sei, gewisse einlullende Vorurteile vor raschen Schlägen zu bewahren, hier und da manchen veranlasst, voller Unruhe aufzuhorchen.

So brachten, noch bevor die englische Deputation in Berlin eintraf, die „Sozialistischen Monatshefte" eine flüchtige, aber hinreichend bestimmte Würdigung der sich vorbereitenden Manifestation.

Man darf sich darüber nicht täuschen", schrieb Karl Leuthner, „dass auch sozialdemokratische Kundgebungen dieser Art wenig beachtet, als bloße Sache der Form und Formeln angesehen werden."A Vom wem? Von der Masse etwa, die zu solchen Demonstrationen mit der revolutionären Bereitschaft erscheint, das Wort zur Tat werden zu lassen? Natürlich nicht! Von der Regierung vielleicht, die die waffenlosen politischen Demonstrationen mit der Mobilmachung der Truppen beantwortet? Gleichfalls nicht! Von wem also? Offenbar von jenen Politikern, die das Rauschen ihrer Feder für einen diplomatischen Faktor größter Wichtigkeit halten, die Massenmanifestationen aber als ein technisches Detail, als ein dekoratives Nebenbei der sozialistischen Politik behandeln.

Was jedoch schlägt Leuthner als Ersatz vor? Seine Anschauung muss um so lehrreicher sein, als er schon seit langem und emsig in der „Wiener Arbeiter-Zeitung" alle Wandlungen der internationalen Politik verfolgt – weshalb er auch für sich das Recht in Anspruch nehmen zu können glaubt, der deutschen Sozialdemokratie einige Schlussfolgerungen aus seinem Beobachtungsmaterial als Richtschnur zu empfehlen.

Vor allem hält es Karl Leuthner für nötig, die „unfehlbare Schablone" über Bord zu werfen, die die heutigen internationalen Konflikte und Kriege als „das natürliche Produkt der kapitalistischen Konkurrenz und des Dranges nach neuen Märkten" hinstellt. Frei von jeder Schablone, wie er ist, gelangt Leuthner zu dem völlig neuen und höchst lehrreichen Schlusse, dass „das geistige Element heute in der äußeren Politik eine gesteigerte Wichtigkeit" besitze, und dass „sich selbst in Russland die alten Eroberungs- und Vorherrschaftsgedanken des Zarentums längst mit volkstümlichen Ideen verquickt, in volkstümliche Strömungen umgesetzt haben".

Das „geistige Element", das die gegenwärtige internationale Politik durchdringt, erweist sich nach den Beobachtungen Leuthners als nichts anderes wie der allgemeine Deutschenhass. Die Engländer, Franzosen, Russen, Slawen überhaupt – hassen Deutschland. Dieser Hass habe seinen Ursprung in der Verleumdung, der Dummheit und Unwissenheit, dem Neide und anderen verwandten „geistigen Elementen". Und dieser allgemeine Hass sei eben der Hauptquell der Kriegsgefahr. Unter solchen Umständen „konkretisiere sich für die deutsche Sozialdemokratie die Aufgabe, dem Frieden zu dienen in der Bekämpfung des Deutschenhasses". Dies aber erreiche sie am besten, wenn sie die deutsche Regierung in Fragen der auswärtigen Politik in Schutz nehme. „Ihr Zeugnis für die Friedensliebe des deutschen Volkes, des Deutschen Reiches, fände einen tiefen und weiten Nachhall. Es ist in den Tagen nach Reval nicht mehr die Zeit, Vorgänge der auswärtigen Politik als Agitationsmittel in der inneren zu verwerten"

Die Alarmpolitik der deutschen Regierung ist nach Leuthner stets und in jedem Einzelfall nur das zufällige Resultat der persönlichen Nervosität – daher bedeute sie keine Gefahr. Die feige Provozierungspolitik Österreichs auf dem Balkan erscheine „nur als das böse Missgeschick der Ungeschickten". In beiden Fällen – honny soit qui mal y pense (es ist eine Schande, schlecht davon zu denken)! Dies ist der Standpunkt, den Genosse Leuthner mit Konsequenz in seiner Auslandspolitik durchführt, indem er uns zeigt, wie die wahre Auslandspolitik gemacht werden muss, um nicht „als bloße Sache der Form und Formeln angesehen zu werden". Wenn die gelbe Presse Englands, Frankreichs oder Russlands, die um nichts besser oder schlechter ist als die gelbe Presse Deutschlands oder Österreichs – und warum in der Tat sollte sie besser oder schlechter sein? –, einen ihrer regelmäßigen deutschfeindlichen Artikel zur Welt bringt, ja dann ist dies die Willensäußerung der Nation, dann sind dies „volkstümliche Strömungen", dann ist dies der blind wütende, der gefährliche, der unerklärliche, der mystische, der allgemeine Deutschenhass. Und dieses Gefühl, das die Völker Englands, Frankreichs und Russlands in gleicher Weise beseele, könne die deutsche Sozialdemokratie nur durch ein Mittel aus der Welt schaffen: indem sie in der auswärtigen Politik die Waffe der Opposition aus der Hand lege und die Verantwortung für die Politik des Fürsten Bülow auf sich nehme.

Wir müssen eingestehen, dass dieser Gedankengang für uns nichts Überzeugendes enthält. Vielleicht deshalb, weil wir uns noch nicht frei gemacht heben von der „unfehlbaren Schablone" der materialistischen Analyse zugunsten der neuen Werte jenes „historischen Wissens", von dem Leuthner in etwas nebelhafter, aber um so verlockenderer Form spricht. So vermögen wir nicht die Ansicht zu teilen, dass die deutsche Sozialdemokratie der Welt einen besseren Dienst leisten würde, wenn sie die Verantwortung für die Politik der imperialistischen Nervosität auf die eigenen Schultern lüde. So erlauben wir uns auch daran zu zweifeln, dass auf diesem Wege jenes unbedingte Vertrauen, das die deutsche Partei in Millionen und aber Millionen Herzen unter den anderen Nationen sich zu erwerben wusste, auf die deutsche Regierung übergehen werde; ja wir bekennen uns zu der Ansicht, dass dies das beste Mittel sei, um das Misstrauen, das in die Regierung gesetzt wird, auch auf die Sozialdemokratie auszudehnen.

Indes diese Seite der Frage interessiert uns im gegebenen Augenblick weniger: wenn der konsequente Revisionismus auf dem Gebiet der auswärtigen Politik für die deutsche Partei eine Gefahr bedeutete, so würde er einer informierteren und überzeugenderen Kritik begegnen, als wir sie zu geben imstande sind

Dagegen halten wir es aus dem zwiefachen Rechte des russischen Sozialisten und fleißigen Schülers der deutschen Sozialdemokratie für unbedingt notwendig, mit aller Entschiedenheit gegen Leuthners Versuch Front zu machen, der darauf hingeht, auf den Kurs der deutschen Sozialdemokratie Einfluss zu bekommen, mit Hilfe von vollkommen falschen – schief aufgefasstem übertriebenen oder entstellten – faktischen Darstellungen, wenigstens soweit es sich um Russland handelt.

II.

Ein höchst beredtes Muster der Politik im Stile Karl Leuthners bot die „Wiener Arbeiter-Zeitung" in ihrem Artikel anlässlich der Revaler Entrevue zwischen Eduard VII. und Nikolaus II.

Nachdem sie darauf hingewiesen hat, dass die englisch-russische Entente gegen Deutschland ihre Spitze habe, welche auch selbstverständlich das amtliche Russland sich hüte, dies offen anzuerkennen, fährt die „Arbeiter-Zeitung" fort: „Allein das amtliche Russland hat sich schon in den Zeiten des Absolutismus oft durch die öffentliche Meinung seine Wege bestimmen lassen, und der an den Wahnsinn streifende Hass gegen alles Deutsche, wie er aus der gesamten russischen Presse in wilden Verleumdungen und tückischen Lügen gegen das Reich wie gegen die Deutschen Österreichs hervorbricht, nährt in gewissen Londoner Politikern die Hoffnung, dass die Russen doch einmal ihre Haut zu Markte tragen werden, um die Kraft des verhassten Konkurrenten Englands in verzweifeltem Ringen zu schwächen" (Nr. 160). Wir müssen gestehen, dass uns ein Gefühl der tiefsten Verlegenheit überkommt, indem wir diesen ungeheuerlichen Passus zitieren, der wohl besser aus den Seiten der nationalliberalen und alldeutschen Blätter geblieben wäre, anstatt in die Spalten eines proletarischen Organs überzusiedeln Ist es denn wirklich gar so schwer, zu begreifen, dass „die gesamte russische Presse" keinen Hass hegen könne „gegen alles Deutsche", weil für einen solchen keine Ausnahme kennenden Hass Deutschland ein zu ungleichartiges Objekt und Russland ein zu ungleichartiges Subjekt ist!

Vor allem käme es einer Arbeiterzeitung wohl zu, für die sozialdemokratische Presse eine Ausnahme von der Regel zu machen. Freilich haben wir jetzt in Russland keine legalen Organe. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass unser Wort die Arbeitermassen nicht erreicht. Und wir können ohne das geringste Schwanken behaupten, dass sowohl die Blätter, die von unseren Parteiorganisationen in illegalen Druckereien herausgegeben werden, als auch diejenigen, die im Ausland erscheinen, nicht nur nicht von Hass gegen Deutschland und die Deutschen Österreichs angesteckt sind, sondern vielmehr durchaus jener saloppen Denkart fernstehen, die kein Bedenken trägt, aus der einen Seite „alles Deutsche" und aus der anderen „alles Russische" zu einem Haufen aufzuschichten. Diese Presse als quantité negligeable völlig übersehen, hieße auf dem Niveau der europäischen Diplomatie stehen, die die Jungtürken erst in dem Augenblick gewahr wurde, als sie dem Padischah das Messer an die Keine setzten.

Ebenso wie die Sozialdemokratie sind auch diejenigen Parteien einer legalen Presse beraubt, die sich mit ihr in den Haupteinfluss aus das Bauerntum teilen: nämlich die Sozialrevolutionäre und die Trudowiks (Arbeitsgruppe). Mithin müssen die revolutionären Parteien, die in der zweiten Duma bei dem durch den Senat verhunzten Kurialsystem Wittes 212 Stimmen besaßen (64 Sozialdemokraten und 148 Narodniki) und denen allein das Recht zusteht, in Namen des Volkes zu sprechen, von jeglicher Verantwortung für das Verhalten jener Presse losgesprochen werden, die Stolypin und seine Provinzsatrapen zu dulden die Gewogenheit haben. Und ein sozialdemokratischer Schriftsteller, welcher es für nötig fand, die deutschen Arbeiter mit der Haltung der russischen Presse gegenüber allem, was „deutsch" ist, bekannt zu machen, hätte, meinen wir, jene Tatsache klar und deutlich hervorheben müssen.

Trifft es aber – fragen wir weiter – wenigstens in Bezug aus jenen Teil der legalen Presse, welche den konterrevolutionären Sturm überlebte, zu, dass die „wilden Verwünschungen und tückischen Lügen gegen alles Deutsche" ihren einzigen und ganzen Lebensinhalt ausmachen? Nein, auch das trifft nicht im Entferntesten zu. Vor allem nicht, was die Provinzblätter anbetrifft. In der Mehrzahl sind es parteilose Organe, die in der Mitte zwischen kadettistischem Liberalismus und revolutionärer Demokratie stehen. Zwar ist ihr Radikalismus überaus unbeständig und blass, und trotz ihrer großen Verbreitung genießen sie fast gar keinen selbständigen politischen Einfluss; dennoch aber würde man selbst bei genauestem Zusehen in diesen Organen auch nicht eine Spur von Hass gegen „alles Deutsche" entdecken können.

Somit käme nur noch die hauptstädtische Presse in Frage. Aber auch deren Verhalten zu Deutschland ist ein derartiges, dass es beileibe nicht durchweg grau in grau gemalt werden darf. Gehen wir von links nach rechts, von den Kadetten zu den Schwarzhundertlern, so tritt es mit Gesetzmäßigkeit zutage, dass, je reaktionärer ein Blatt in, um so lebhafter seine Sympathien für die regierenden Sphären Deutschlands sind. Am wenigsten stabil ist die Haltung der „Nowoje Wremja", die alle Schwankungen des Regierungskurses mitmacht. Aber der korrupteste und einflussreichste Mitarbeiter dieser korrupten und einflussreichen Zeitung charakterisierte – in Verbindung mit dem Eulenburg-Prozess – das „fromme Deutschland" und seinen „stolzesten der christlichen Throne" als „Kreml der christlichen Gesellschaft". Die Stolypinsche „Rossija" protestiert entschieden gegen diejenigen, die „Deutschland zum Gegenstand steter und schroffer Angriffe machen, indem sie ihm … listige Machenschaften zur Last legen für die nicht die geringsten positiven Anhaltspunkte vorliegen".

Die oktobristische „GoIos Prawdy" empfiehlt „eine Politik möglichst gleichmäßigen Wohlwollens gegenüber allen Großmächten der Welt, sei es Deutschland ober Japan ober Frankreich ober England". – Endlich schlägt die „St. Peterburgskija Wedomosti", das reaktionäre und subventionierte Blatt des Fürsten Meschtschersky, nicht mehr und nicht weniger als folgendes vor: Das Bündnis mit Frankreich nicht zu festigen, sondern die Verträge mit ihm höflich zu lösen; freundschaftlich, aber ein für allemal das Band mit den österreichischen und Balkanslawen zu zerreißen; gute Beziehungen zu pflegen zu den treuen und im Geschäft wie in der Politik ehrlichen Deutschen. Und noch in den jüngsten Tagen war es Fürst Meschtschersky, der pathetisch die seitens der deutschen Regierung dem Zarismus erwiesenen Liebesdienst den Ränken des tückischen Albion gegenüberstellte.

Was sehen wir also? Von der „gesamten russischen Presse" mussten wir zunächst die illegalen Organe ausscheiden, dann den größten Teil der Provinzpresse und zuletzt die konservativen und reaktionären Blätter. Mithin blieben nur noch die Pressorgane der Kadettenpartei und der verwandten Richtungen. In diesem Teil der Presse kann man tatsächlich eine systematische Hetze gegen Deutschland konstatieren. Wir können hier ganz ruhig die Frage unerörtert lassen, ob der Feldzug der Kadetten gegen Deutschland durch den angeblichen Deutschenhass hervorgerufen sei oder durch den tiefsinnigen, echt liberalen Plan, die zarische Regierung aus den Armen Deutschlands zu reißen und sie dem Zauber des Londoner Parlamentarismus zuzuführen. Nicht zu bezweifeln ist aber die Tatsache, dass die „Arbeiter-Zeitung" ober richtiger ihr Redakteur für die Auslandsrubrik ein völlig phantastisches Gemälde entwirft, indem er uns mit einem so großen Wortaufwand von der tollwütigen Kampagne der gesamten russischen Presse gegen alles Deutsche erzählt. Könnte es denn auch anders sein? Die russischen Volksmassen, das heißt in erster Linie die Bauernschaft, haben bis jetzt entweder an dem politischen Leben gar nicht teilgenommen ober aber, wenn dies geschah, revolutionär neben dem Proletariat gehandelt. Der eine wie der andere Fall schließt die Möglichkeit einer bewussten und aktiven Unterstützung der Eroberungspolitik des Zarismus aus. Damit die Volksmassen von nationalem Hasse durchdrungen werden, bedarf es langer Jahre entwickelten politischen Lebens und in erster Linie der Schule des bürgerlichen Parlamentarismus. Beide Bedingungen fehlten bei uns vollständig. Was aber die Presse anbetrifft, welche bei uns die auswärtige Politik „machte", so wandte sie sich niemals an das Volk und hatte auch zu ihm keinen Zutritt. Jedenfalls betonte diese privilegierte Presse im Laufe einer langen Reihe von Jahren stets, dass Russlands Erbfeind das „tückische England" sei und nicht das „ehrliche Deutschland", – und wenn die neue internationale Kombination, von deren Haltbarkeit wir übrigens durchaus nicht überzeugt sind, im gegenwärtigen Augenblick die Regierungsorgane zu einem Frontwechsel zwingt, so werden selbst diese letzteren nicht wagen, mit Karl Leuthner zu behaupten, dass die von ihnen verteidigten „Eroberungs- und Vorherrschaftsgedanken des Zarismus sich in volkstümliche Strömungen umgesetzt" hätten.

Das von uns oben angeführte Zitat bildet keinen Ausnahmefall. Vielleicht dass es nur allzu offen jenem Gedanken Ausdruck verleiht, der wie ein gelber Faden (von einem roten zu sprechen, fehlt uns die Kühnheit) durch die ganze äußere Politik der „Arbeiter-Zeitung" hindurchgeht, und dies besonders in denjenigen Fällen, wo es sich um derart „wenig erforschte" Länder handelt, wie Russland ober die Balkanhalbinsel.B Die einzigen Faktoren, die man hier gelten lässt, das sind die nationalen Antagonismen, ja selbst der Kampf des Slawentums gegen das Deutschtum – gewissermaßen als abstrakte überhistorische Kräfte. Von Klassenkampf, internationaler Solidarität der Arbeiter und ähnlichen banalen Dingen wird man hier höchst selten etwas zu hören bekommen – viel seltener, als man es zu erwarten berechtigt wäre. Einen nicht unwesentlichen Grund für diese einem Sozialisten so wenig anstehende Neigung, Russland als ein einziges Ganzes zu betrachten, bildet unzweifelhaft der über jede Sorgfalt erhabene Mangel an Informiertheit. In der Tat braucht man nur im „Österreichischen Arbeiterkalender für 1907" den historisch-philosophischen Aufsatz: „Ursachen und Wesen der russischen Revolution" von Karl Leuthner nachzulesen, um eine Vorstellung zu bekommen von den Ursachen und dem Wesen der zahlreichen – milde ausgedrückt – Missverständnisse, die dem Wiener Parteiorgan bei der Beurteilung der inneren und äußeren Politik Russlands hinuntergelaufen sind.C An sich selbst ist dieser Mangel an Informiertheit nur geeignet, mehr oder minder harmlose Kuriositäten zu zeitigen. Wehe aber, wenn sie mit tendenziöser Voreingenommenheit gepaart ist, die sich um so freier fühlt, je weniger sie durch Kenntnis der Tatsachen beengt ist Wenn wir nicht fehlgehen, entspringt die tendenziöse Färbung, der Mangel an Informiertheit unseres Verfassers aus der sozialistischen Blasiertheit, der es als Sache schlechten literarischen Geschmacks erscheint, die Erklärung für historische Tatsachen in den Klassenbeziehungen zu suchen, und die eine launenhafte Sucht nach nationalen Charakteristiken und psychologischen Farbeneffekten erzeugt.

III.

Wie ein Rätsel starrt uns der russische Staats- und Völkerkoloss entgegen. … Neben sklavischer Unterwürfigkeit sehen wir lebensverachtenden Heldenmut, neben fast völliger Rohheit und Stumpfheit des Intellektes ein schier unfassbares Drängen nach Erkenntnis und Klarheit. Nach der Orgie des Zarismus und mitten in ihr erscheint ein Zeitalter des selbstlosen Opferns. Noch erkennen wir nicht ganz die Seele der russischen Völker" usw. So schreibt die „Wiener Arbeiter-Zeitung" in der Empfehlung, mit der sie den Gorkischen Roman „Die Mutter" bei ihren Lesern einführte. Mit welcher Leichtigkeit wirft man hier in den gleichen Topf die Merkmale durchaus verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, beziehungsweise einer und derselben Gruppe auf verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung, um dann das so erhaltene chaotische Gemenge „Seele der russischen Völker" zu taufen. Ließen sich denn nicht ebenso gut als Parallele derartiger Verquickung verschiedenster Dinge zu einem Ganzen die Orgien des Kapitalismus mit dem proletarischen Idealismus zusammenwerfen; die Stumpfheit des katholischen Bauern, der die Grazer Universität stürmt, mit der Intelligenz des Wiener sozialistischen Arbeiters, der nicht anstehen würde, sich zum Schutze der freien Wissenschaft zu erheben; die idiotischste Rohheit des galizischen Gendarmen mit dem fanatischen Heroismus des ruthenischen Studenten – und ließe sich dann nicht von dieser Mischung, zu der man noch die Behutsamkeit der k. k. Diplomatie und die über alles hinweg hastende Oberflächlichkeit der Journalisten hinzunehmen müsste, ebenso gut ausrufen: „So sieht die Seele der österreichischen Völker aus"? Man könnte ohne Weiteres an dieser billigen psychologischen Redensart vorbeigehen, wenn hier eine bloße Zufälligkeit vorläge. Dies ist aber nicht der Fall – sondern wir haben es leider mit einer Gepflogenheit zu tun, die fast zum System erhoben worden ist. Schon mehr als einmal nämlich wurde in dem Wiener Parteiorgan der unglückselige Versuch unternommen, den Gang der russischen Revolution durch die Eigenschaften der Psyche der russischen Völker zu begründen – wobei jedes Mal diese Psyche ohne sonderliche alchemistische Weisheit aus rasch hier und da aufgelesenen psychologischen Antithesen vorher konstruiert wurde. Neulich konnten wir sehen, wie dasselbe Verfahren auch in Bezug aus die türkische Revolution angewendet wurde. „Etwas Geheimnisvolles, Rätselhaftes liegt über den Ereignissen, die sich in der Türkei abspielen." Und was ist das? „Es ist wie die ungeheure Verschwörung eines ganzen Volkes, bei der die planenden Berechnungen erfahrener Leiter die Handlung des Ganzen durchdringen." Der Verfasser zählt die möglichen materialistischen Erklärungen für die Planmäßigkeit und den ruhigen Verlauf der türkischen Resolution auf, um sie aber eiligst zu verwerfen und zu dem Schlusse zu gelangen: „So viel Fragen, so viel unlösbare Rätsel" Natürlich bleibt dann nichts anderes übrig, als diese Rätsel in der Seele der türkischen Völker aufzulösen die gleich jeder nationalen Seele dazu verdammt ist, bei allen geschichtlichen Ereignissen die Rolle des verantwortlichen Redakteurs zu spielen – wobei die Ärmste nicht nur die ganze Last der inneren Gegensätze der sozialen Ordnung zu tragen hat, sondern obendrein noch die romantische Schwäche einiger Publizisten für das Geheimnisvolle und Rätselhafte.

Es ist hier nicht unsere Absicht, das Verhältnis zwischen dem national-psychologischen Faktor einerseits und den Klassenfaktoren der historischen Entwicklung andererseits einer Analyse zu unterziehen. Indes erlauben wir uns, als feststehend anzunehmen, dass der Sozialist erst alle Möglichkeiten der Klassenerklärung erschöpft haben muss, ehe er für sich das Recht in Anspruch nehmen darf, das „Rätselhafte" und „Geheimnisvolle" in die Kehrichtgrube des nationalen Geistes abzuladen. Der umgekehrte Weg bedeutet ein überaus großes Wagnis. Der abstrakt psychologische Standpunkt, ein so harmlos-belletristisches Aussehen er im Anfang auch haben mag, verschlingt schließlich den Klassen- beziehungsweise sozialistischen Standpunkt ebenso, wie die sieben mageren Kühe Pharaos die sieben fetten verschlungen haben.

Der national-psychologische Impressionismus führt schließlich zur Annahme des Standpunktes derjenigen Partei in dem betreffenden Lande, die selbst den nationalen Standpunkt vertritt. Daher entpuppt sich auch unser Sozialist in der Türkei als Jungtürke und in Russland als Kadett. Und wir sehen tatsächlich, dass für die „Arbeiter-Zeitung" ebenso wie für die revolutionären Nationalliberalen des jungtürkischen Komitees die Konstantinopeler Aufstände oder die nationalen Forderungen der bulgarischen Bauern in Mazedonien nichts anderes bedeuten als Auswüchse eines gefährlichen Scheinradikalismus, die man sobald als möglich befestigen müsse. Und wir sehen, dass in den Augen der „Arbeiter-Zeitung" ganz Russland sowohl in seiner inneren wie in seiner äußeren Politik die Farbe des monarchischen Liberalismus annimmt. Geradeso wie die Kadetten reduziert sie das Drama der russischen Revolution auf einen Kampf „um die Grenze der konstitutionellen Befugnisse". Geradeso wie sie übersieht sie völlig die russische Sozialdemokratie, die übrigens bei einer derartigen Auffassung der Revolution als ein einfaches historisches Missverständnis erscheinen muss. Geradeso wie die Kadetten begrüßt sie unbedacht den „neuen Kurs" in der russischen auswärtigen Politik, für den sie mit echt liberalem Optimismus Anzeichen in der Dumarede Iswolskys zu erblicken glaubt. Geradeso wie die Kadetten ignoriert sie die warnende Stimme der sozialdemokratischen Fraktion, die seinerzeit den groben Schwindel mit dem „neuen Kurs" aufdeckte und die Teheraner Rolle des Obersten Ljachow prophezeite … Und endlich, wenn sie an die Fragen der russisch-deutschen und russisch-österreichischen Beziehungen herantritt, unterliegt sie dem Einfluss desselben Kadettismus, nur mit einem großen Minuszeichen davor. Alle Klassen und alle Parteien schillern da ohne Unterschied in dem gleichen „kadettischen" Hasse gegen Deutschland und die Deutschen Österreichs. Und in der Vorstellung des Redakteurs der „Wiener Arbeiter-Zeitung" löst sich Russland unmerklich in dem kadettischen Panslawismus aus.

Wir haben oben dem Gedanken Raum gegeben, dass der Redakteur der „Arbeiter-Zeitung" für den auslandspolitischen Teil den „banalen" Klassenstandpunkt aus literarisch-ästhetischen Rücksichten aufgebe, sozusagen ermüdet von der Eintönigkeit der sozialistischen Terminologie. Wir möchten nun gerne glauben, dass unsere Annahme richtig ist, und dass tiefer gehende Tendenzen nicht mit im Spiele sind. Selbstverständlich ist es ganz überflüssig, besonders hervorzuheben, dass das ästhetische Kriterium nicht maßgebend sein kann, und dass es den österreichischen Arbeitern zu großem Vorteil gereichen würde, wenn man ihnen anstatt national-psychologischer Rätsel simple materialistische Erklärungen für die Tatsachen und Geschehnisse böte. Wir unterfangen uns aber, die Ansicht auszusprechen, dass man selbst vom Standpunkt der literarischen Ästhetik sehr gewichtige Argumente gegen diese Belletristik des nationalen Geistes ins Treffen führen könne. In geringer Quantität ließen sie sich noch vielleicht vertragen, auf die Dauer aber müssen diese Mystik der nationalen Besonnenheit oder des nationalen Hasses, diese psychologischen Antithesen der Stumpfheit und der Opferwilligkeit, dieser Kultus des „Rätselhaften" und „Geheimnisvollen" der nationalen Psyche unausbleiblich Überdruss erzeugen, weil sie nur allzu sehr nach jenen Völkercharakteristiken seligen Angedenkens schmecken, denen schon Heinrich Heine (siehe „Englische Fragmente") in gelehrten Kompendien und in Bierkellern ihren Platz anwies.

1 Das Erwachen Asiens, namentlich die türkische Revolution mit den internationalen Verwicklungen, die sie erzeugt, machen für die gesamte internationale Sozialdemokratie das Verständnis des Orients zu einer dringenden praktischen Angelegenheit. Für unsere deutsche Parteipresse ist aber über die Beziehungen Österreichs zu den Völkern des Ostens die „Wiener Arbeiter-Zeitung" naturgemäß ein wichtiges Informationsmittel. Schon das würde es rechtfertigen, dass wir vorliegender Kritik des AusIandsredakteurs unseres Wiener Bruderorgans Raum geben. Wir haben umso mehr Veranlassung dazu, als dieser Redakteur seit einiger Zeit dazu übergegangen ist, die ausländische Politik der deutschen Sozialdemokratie direkt in sein Fahrwasser lenken zu wollen. So haben wir alle Ursache, einem sachkundigen Kritiker seines Standpunktes das Wort zu erteilen.

Die Redaktion.

A Karl Leuthner: Die Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie in der auswärtigen Politik. „Sozialistische Monatshefte", Heft 18/19, S. 1129.

B So lesen wir in einer der letzten Nummern (272) der „Arbeiter-Zeitung", dass die verleumderischen Gerüchte von den Absichten Österreichs, Bosnien einzuverleiben, „in Russland, mit den ,Times' zu reden, die ,schlafenden Hunde' geweckt haben, die denn kräftiglich in der gesamten Presse knurren und belfern".

C Der genannte Aufsatz bildet im wahrsten Sinne des Wortes eine Blütenlese von historischen Kuriositäten. Wir halten es nicht für angängig, an dieser Stelle den Inhalt desselben näher zu prüfen, weil dies zu viel Raum beanspruchen und uns bestenfalls nur um den armseligen Schluss bereichern würde, dass Karl Leuthner wohl getan hätte, sich für den Arbeiterkalender ein anderes Thema auszusuchen. Dafür aber können wir es uns nicht versagen, hier auf eine Stelle in seinem Jubiläumsartikel über Tolstoi zu verweisen, wo er den österreichischen Arbeitern erzählt, dass „die Fraktionsführer der (russischen) Revolution, zwar meist nicht mehr Aristokraten, aber dank den reichen Schriftstellerhonoraren, die die russische Leselust gewährt, auf aristokratische Art lebend, mitten in der Revolution Badereisen und Landaufenthalt nicht entbehren konnten". Diesen erstaunlichen Ausfall könnte man unqualifizierbar nennen, wenn er nicht so töricht und komisch wäre.

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