Leo Trotzki‎ > ‎1908‎ > ‎

Leo Trotzki 19081016 Selbstmörder und Expropriateure

Leo Trotzki: Selbstmörder und Expropriateure

[Wiener „Prawda" N 1, 3./16. Oktober 1908, eigene Übersetzung nach dem russischen Text]

Einer warf sich vor den Zug, ein anderer ertränkte sich, dieser beendete sein Leben in einer Schlinge, jener fand den Tod mit einer Flasche Essigessenz. Jedes Zeitungsblatt berichtet über mehrere Selbstmorde im Arbeitermilieu … Hunger und Kälte, die niederträchtige Verfolgung der Behörden und damit Lebensmüdigkeit, hoffnungslose Verzweiflung – dies sind die Gründe für diese schreckliche Selbstmordepidemie … Was könnte schlimmer sein als die Einsamkeit eines hungrigen von der Polizei gehetzten Arbeiters in einer fremden großen Stadt? Entmutigt auf der Suche nach Arbeit, Brot und Obdach, zieht der Unglückliche den Browning aus seiner Tasche und schießt eine Kugel – entweder auf sich selbst oder auf einen zufälligen Krämer, der an seiner Kasse sitzt. Das Resultat ist in beiden Fällen eins. Denn sind unsinnige Expropriationen, an denen Arbeitslose teilnehmen, nicht im Wesen nur eine andere Form des Selbstmords? Ist es nicht ganz gleich: sich selbst die Schlinge um den Hals zu legen oder den Kopf zwecklos und unrühmlich in die Schlinge des Henkers des Zaren zu stecken? Viele Hundertschaften Ehrlicher und Mutiger gingen in dieser doppelten Epidemie zugrunde …

Und der Selbstmörder und der Expropriateur sind für uns, für die revolutionäre Armee, Deserteure: Sie verlassen ihre Posten, sie fliehen vom Feld des proletarischen Kampfes. Aber wir werden ihnen kein Wort des Tadels hinschleudern: Sie sind nur Opfer. Aber einen vergifteten Fluch schleudern wir in das Angesicht dieser niederträchtigen Gesellschaft, die ihnen einen Stein anstelle von Brot und einen Galgen anstelle von Obdach gab. An ihren unbekannten Gräbern werden wir den Eid schwören, jene teuflische Ordnung zu zerstören, in der sich die Arbeiterzahl durch Selbstmorde und Hinrichtungen regelt.

Aber wir stehen vor einer näheren Aufgabe: die neuen Hundertschaften von verzweifelten Menschen zu retten, ihnen neue Hoffnung und Zuversicht einzuhauchen, sie von ihrer Einsamkeit, ihrer Isolation, ihrer Verzweiflung zu befreien und sie vom Weg des Todes auf den Weg des Lebens zurückzubringen. Nur die große Idee des Kampfes für das gemeinsame Glück, für die sozialistische Brüderlichkeit, ist in der Lage, dieses Wunder zu vollbringen. Bringen wir die Idee des Sozialismus in die dunkelsten Winkel, wo der Hunger der Arbeitslosigkeit sich mit Verzweiflung und Kriminalität verbrüdert.

In diesen dunklen Tagen der Krise und Reaktion werden wir unsere Reihen erweitern! Heben wir die Fackel des Sozialismus höher, Brüder!

Kommentare