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Leo Trotzki 19090513 Die Wiener Secession 1909

Leo Trotzki: Die Wiener Secession 1909

[Kiewskaja Mysl, Nr. 118, 30. April/13. Mai 1909, nach Literatur und Revolution. Berlin 1968, S. 417-421, s. auch den russischen Text]

In diesen Sälen, in denen vor nicht gar so langer Zeit russische Maler Gemälde ausgestellt hatten, die nur sehr wenig Russisches an sich hatten, veranstalten jetzt die Österreicher die Jahresschau ihrer Malerei und Plastik, die nur sehr wenig Österreichisches an sich haben. Nicht, dass wir von der Kunst die Offenbarung des „nationalen Antlitzes“ im künstlerischen Stil fordern. Wohl war ein „stilistischer“ Nationalismus dieser Art auf der russischen Ausstellung reichlich vertreten (Bilibin, Rerich); er fehlt auch nicht in der jetzigen Ausstellung der Secession. Aber in diesem Falle bietet der nationale Stil einfach die fertigen, in der Vergangenheit entstandenen Alltagsformen, Motive für Ornamente und Farbkombinationen. Die Verwendung von „Archaismen“ aller Art ist sogar ein unentbehrliches Merkmal des Modernismus. Jedoch erweckt die Wendung zu den Archaismen, selbst wenn sie nicht rein äußerlich sein sollte, den Eindruck vorübergehender Exkursionen in die Vergangenheit, in der der Maier irgend etwas vergessen hat oder irgend etwas Übersehenes zu finden hofft. Das liegt aber abseits der großen Straße der Kunst. Die einen brauchen die künstlerischen Naivitäten der historischen Kindheit, um die Ausdrucksmittel für ihr verschlissenes Seelenleben aufzufrischen. Die anderen versuchen, mit Hilfe von Resten des nationalen Stils jenes Leben zu restaurieren, das diesen Stil irgendwann abgelagert hatte; sie ziehen sich in die historische Vergangenheit zurück oder sogar noch tiefer, in das Reich des Märchens oder des Mythos. Doch die ferne Vergangenheit herrscht unabänderlich über die jüngere Vergangenheit; das Heutige fehlt dagegen vollkommen. Wenn der Künstler sich dem Leben als Ganzes anschließen will, steigt er in die Tiefe der Jahrhunderte hinab. Aber inmitten jener lebendigen Geschichte, die sich vor seinen Augen vollzieht, fühlt er sich einsamer als in den Urwäldern der Mythologie Das ist der allgemeine Eindruck, den man natürlich nicht auf der Wiener Secession zum ersten Male gewonnen hat; hier findet man ihn nur erneut bestätigt.

Den hervorragendsten Platz nimmt auf der Ausstellung Albin Egger-Lienz ein, merken sie sich seinen Namen. Früher oder später werden sie es sowieso tun müssen. Ein Tiroler aus einem Dorf bei Lienz, Sohn eines Kirchenmalers, hat Egger sich seit 1895 ganz der historischen Vergangenheit Tirols gewidmet. In diesem Jahr hat er ein eben erst vollendetes Kolossalgemälde ausgestellt, zu dem ihn die Hundertjahrfeier des Tiroler Aufstands gegen Bayern angeregt hat. Gegen den linken Rand des Gemäldes hin, tatsächlich aber als dessen Mittelpunkt, steht der Kapuzinermönch Haspinger. Schon als Student kämpfte er gegen die Franzosen; als Mitglied eines Geheimbunds Tiroler Patrioten ging er in den ersten Reihen des heroischen Aufstands von 1809. Die Stirn ist von der Kapuze verdeckt; in der linken Hand das hoch erhobene Kreuz; die Rechte umfasst den Säbel. Hinter ihm die Tiroler Aufständischen mit Gewehren, Beilen und Hacken. Gesichter und Körper sind gespannt, alle sind von Erregung ergriffen. Eine furchterregende menschliche Woge!… Was einen an dem Gemälde sofort packt, ist seine innere Geschlossenheit. Große Gemälde wirken gewöhnlich unruhig, weil sie durch eine erdrückende Fülle von Details das Auge nicht zur Ruhe kommen lassen und die Aufmerksamkeit verzetteln. Bei Egger gibt es nichts Überflüssiges. Er hält sich keinen Augenblick bei Einzelheiten auf. Die Farben sind ohne Nuancen, die Schatten der Gestalten nur schematisch angedeutet. Das ganze Gemälde – Gesichter, Hände, nackte Knie, Kleidung, die Erde unter den Füßen – ist in einer Art Ziegelton gehalten. Die Zeichnung ist sicher, hart, fast grob. Im Endergebnis aber – eine vollständige Überwindung der Schwierigkeiten und Widersprüche eines großen Gemäldes: es ist gesammelt und konzentriert und die Gestalt des heroische Mönchs zieht als der dramatische und künstlerische Mittelpunkt des ganzen Gemäldes mühelos ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich. In den gleichen rauen Tönen ist eine andere Arbeit von Egger-Lienz gemalt „Die beiden Sämänner". Der eine ein „guter“ Sämann, ein Christ, derselbe Tiroler Bauer, nur nicht im elementaren Vorstoß des Aufstands, sondern ein auf friedlichem Acker arbeitender, hartnäckiger, seine Erde liebend Bauer. Hinter ihm folgt Schritt für Schritt der Sämann des bösen, ein nackter, kupferfarbener Teufel, der Unkrautsamen dorthin wirft, wo schon Weizen gesät ist. Großartig ist dieser Teufel mit dem freien Schwung seines Armes. Seine Teufelsfratze sieht man nicht, aber an seinem Rücken kann man mit absoluter Sicherheit seine gewaltige Kraft erahnen. Betrachtet man seine kupferfarbene Haut, die athletischen Schultern, seinen mächtigen, unermüdlichen und bedrohlich klugen Nacken – dann sagt man sich unwillkürlich: sehr stark ist der Feind des Menschengeschlechts, und es fällt einem schwer zu glauben, dass Mereschkowski mit ihm Mann gegen Mann fertig werden könnte!…

In dem gleichen Saal, in dem sechs Gemälde von Egger-Lienz konzentriert sind (die übrigen vier sind weniger bedeutend), hängen drei Gemälde des hervorragenden Krakauer Malers Wlastimil Hofmann. Das interessanteste von ihnen ist – die „Madonna". Eine vollkommen bäuerliche Madonna, eine Polin in der Tracht einer polnischen Bäuerin. Auf Kopf und Schultern hat sie ein großes buntes Tuch, darunter ein kleineres, das die Wangen umfasst und unter dem Kinn zusammengebunden ist. Aus dieser Umrahmung leuchtet ebenmäßig ihr stilles, wunderschönes, schlichtes Bauerngesicht. Auf dem Arm hat sie einen Knaben, zart, schwächlich wie nach einer schweren Krankheit, einen hellblonden Knaben mit einem Vögelchen. Das ist Christus. Unter rot entzündeten Lidern hervor blickt ihn aus fanatischen Augen unverwandt ein kleiner junge, Johannes der Täufer an. Schließlich blickt aus der rechten Ecke des Bildes ein städtischer Junge in Mantel und mit einem weichen Hut in der Hand Christus an – vielleicht der Sohn des Künstlers … Dieser zarte, dem Untergang geweihte kleine Jesus, dieser blassgesichtige Johannes und diese sanfte, fast gleichgültige Maria prägen sich dem Gedächtnis für lange Zeit ein.

Abgesehen von den drei beschriebenen Gemälden finden wir auf der Ausstellung nichts Bedeutendes. Der Phantast Rudolf Jettmar zeigt zwei Zentauren, die eine Frau geraubt haben. Gut ist der alte Zentaur, der seinen ergrauten Kopf an den Leib der Geraubten legt, und gut ist die Frau: in ihrem Gesicht malt sich Entsetzen, zugleich aber schmiegt sie sich fast vertrauensvoll an den mächtigen Greis, als suche sie bei ihm Schutz vor ihm selbst… Es gibt einige interessante, an Technik und Stimmung reiche Landschaften, wie sie der verstorbene Leistikow zu malen gelehrt hat. Gut ist der „Spaziergang, von Rudolf Nissl, ausgezeichnet der sonnenüberflutete „Park“ von Friedrich König, gut ist die Tiroler Landschaft von Anton Novak, aber solchen Bildern begegnet man auf jeder Ausstellung und vergisst sie wieder, weil eins das andere verdrängt. Es gibt einige glückliche Porträts – solche, bei denen man ohne das Original zu kennen, unwillkürlich ausruft: „Wie ähnlich muss das sein!“ Adolf Levier hat aus Paris das Porträt des Herrn N. geschickt. Das ist schon fast ein Typ und kein Porträt. Im Gartensessel sitzt ein Herr von schwer bestimmbarem Alter mit kalten, klugen Augen, sinnlichen Backenknochen und mit einem harten Mund. Hinter diesen dünnen Lippen muss man Hauer eines Raubtiers vermuten, die Kiefern eines kultivierten Wolfs, mit denen dieser im Laufe seines Lebens nicht versäumt hat, so manches abzubeißen und zu zerkauen. Er ist selbstverständlich ein Ästhet, aber ohne jeglichen Enthusiasmus, glaubt an nichts, verneigt sich nur vor sich selbst, ein echter Typ des internationalen Nihilisten, der auch bei uns unseren alten „Nihilisten“ verdrängt, der ja in Wirklichkeit kein Nihilist, sondern ein Romantiker gewesen ist, der an vieles geglaubt und vieles verehrt hat. Der Vorläufer dieses gut gewaschenen Tiers war bei uns Weltschaninow, der – erinnern sie sich noch? – meinte: „Wie sehr auch der gesellschaftliche Bau geknistert haben mag, wie sehr sich dort die Menschen und Gedanken auch gewandelt haben mögen ich werde trotzdem wenigstens dieses raffinierte und wohlschmeckende Mittagessen haben, an das ich mich jetzt setze, und darum bin ich für alles gerüstet".

In der Abteilung für Skulptur gebührt der erste Platz dem gewaltigen Reiter von Josef Müllner. Herrlich dieses erstarrte wilde Ross mit den nach hinten gelegten Ohren und dem sensiblen Maul. Herrlich auch der nackte Reiter, ein Jüngling, der zum Mann heranreift. Er hält die Hand schirmend über die Augen und blickt Leidenschaftlich in die ferne. Es liegt kein ausgetretener Weg vor ihm, er muss seinen Weg selbst wählen. Bewegungslos ist das Pferd, das kein Zaumzeug hat und bewegungslos der Reiter; aber in der Bewegungslosigkeit des Steins fühlt man Leidenschaft und Sturm – Glück auf den Weg, herrlicher Reiter!

Anton Hanak hat einige große arbeiten in Untersberger Marmor geliefert, der in Tirol gewonnen wird. Wir sind lediglich vor seiner „Mutter“ länger stehengeblieben. Sie hat schützend die Hände vor den Leib gelegt, in dem sie neues Leben ahnt. Ihr Kopf ist gegenüber allem, was von außen kommt, blind und taub. Sie spürt die fremden Blicke nicht, die über ihre Nacktheit gleiten. Irgendein andächtiges, nach innen gerichtetes Lauschen hypnotisiert und vergeistigt sie zugleich.

Erwähnung verdient noch „Turandot“ des Wiener Bildhauers Alfred Hofman Das ist jene Prinzessin, die ihren Freiern Rätsel aufgab und diejenigen hinrichten ließ, die sie nicht lösen konnten. Geheimnisvolle Stirn und geheimnisvolle Augen, sinnliche Lippen und ein sinnliches Kinn, eine Verbindung von einer Sphinx und der Messalina – das ist dem Künstler gelungen. Das ist wohl auch alles.

Wenn man jetzt von den einzelnen Werken erneut auf das Gesamtbild der Ausstellung zurückkommt, wird man vor allen Dingen wiederholen müssen, was zu Anfang dieses Briefes gesagt wurde: die Malerei steht abseits von allem, was die Seele der gegenwärtigen Epoche ausmacht. Das ist natürlich auch in Bezug auf die Kunst überhaupt richtig; aber in der Malerei äußert es sich mit erschütternder Eindringlichkeit Der Maler flüchtet in den Wald, in die Berge, in die ferne Vergangenheit, in die Höhlen des Mythos – dort sucht er die Verbindung zum Leben, die er hier in seiner Umgebung nicht findet. In seiner Isolierung hat er anfangs seine schöpferische Freiheit gepriesen, aber bald wurde diese an Technik reiche, doch innerlich verödete „Freiheit“ für ihn bitterer als jede Tyrannei. Und nun sagt sich die Malerei vor unseren Augen immer mehr von ihrer Selbständigkeit los und sucht Unterordnung. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf dekorative Motive, sie strebt nach Verschmelzung mit der Architektur. Rein dekorative Werke gibt es auf der Secession sehr viele. Da sind die fünf Kartons von Ferdinand Andri für Wandmalerei, da ist das große dekorative Oval von Karl Schmoll, da ist der „Sklave“ von Engelhart, der unmittelbar auf ein Rechteck aus Ton gemalt ist, aber noch ausdrucksvoller und tiefer zeigt sich dieselbe Tendenz in den bemerkenswerten Arbeiten von Egger-Lienz. Sein „Haspinger“, seine „Sämänner“ sind unzweifelhaft und in höchstem Maße vollkommene Wandmalerei. Eine Bewegung der Luft, perspektivische Tiefen, das Spiel des Lichts – das alles würden sie bei ihm vergeblich suchen. Er fürchtet sich nicht, seine Gestalten in eine Fläche zu stellen und ihnen Luft und Schatten zu nehmen. Und trotzdem atmen seine stämmigen, kräftigen, selbstsicheren Gestalten unverkennbares Leben.

Immer öfter vertauschen die Maier den Pinsel mit dem Stichel, oder sie stellen ihn in den dienst architektonischer Pläne. Die Architektur will der Malerei und Bildhauerei unter ihren Fittichen Zuflucht geben und sie zu neuem Leben erwärmen. Vielleicht beobachten wir jetzt lediglich die ersten Schritte in Richtung auf eine neue synthetische Kunst

30. April 1909

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