Leo Trotzki‎ > ‎1909‎ > ‎

Leo Trotzki 19090122 Jaurès

Leo Trotzki: Jaurès

[„Kiewskaja Mysl" Nr 9, 9./22 Januar 1909, eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung]

Über dem zeitgenössischen politischen Frankreich erheben sich zwei Figuren: Clemenceau und Jaurès.

Es wäre nicht schwer gewesen zu erklären, wie Clemenceau am Boden des Tintenfasses ses Journalisten das Mittel ausfindig machte, das es ihm ermöglichte, zu guter Letzt das Schicksal Frankreichs zu meistern. Dieser „unversöhnliche" Radikale, dieser gewaltige Stürzer der Kabinette erwies sich in der Tat als die letzte politische Ressource der französischen Bourgeoisie: die Herrschaft der Börse „adelt" er durch das Banner und die Phraseologie des Radikalismus. Hier ist alles bis zum letzten Grad klar.

Aber Jaurès? Was erlaubt es ihm, so viel Platz im politischen Leben der Republik einzunehmen? Die Stärke seiner Partei? Natürlich: Jaurès wäre außerhalb seiner Partei undenkbar, aber man kann den Eindruck nicht loswerden – vor allem, wenn man auf Deutschland blickt –, dass die Rolle Jaurès' über die wahren Kräfte seiner Partei hinausgewachsen ist. Wo liegt die Auflösung? In der Kraft der Individualität selbst? Aber der persönliche Charme erklärt die Ereignisse im Wohnzimmer1 oder Boudoir durchaus zufriedenstellend – in der Politik bleiben die „titanischsten" Individuen die ausführende Organe gesellschaftlicher Kräfte.

In der revolutionären Tradition liegt die Lösung der politischen Rolle von Jaurès.

Was ist Tradition? Die Frage ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. Wo nistet sie: in den materiellen2 Institutionen? im individuellen Bewusstsein? Auf den ersten Blick scheint es: hier und da. Aber in Wirklichkeit stellt sich heraus: irgendwo tiefer – in der Sphäre des Unbewussten.

In einer gewissen Periode ergreifen revolutionäre Ereignisse von Frankreich Besitz, sättigen die Luft mit ihren Ideen, benennen ihre Straßen mit ihren Namen und prägen ihre dreiteilige Losung auf den Wänden ihrer öffentlichen Gebäude ein, vom Pantheon bis zum Gefängnis. Aber die Ereignisse entfalteten im rasenden Spiel der eigenen inneren Kräfte all ihrem Inhalt, und die letzte Welle steigt an und flutet zurück – die Reaktion regiert. Mit bösartiger Unermüdlichkeit vertilgt sie alle Erinnerungen von Institutionen, Denkmälern, Dokumenten, aus dem Journalismus, aus der Alltagssprache und – was noch auffälliger ist – aus dem öffentlichen Bewusstsein. Fakten, Daten, Namen sind vergessen. Den Thron besteigen Mystik, Erotik, Zynismus. Wo sind die revolutionären Traditionen? Sie verschwanden spurlos… Aber dann geschah etwas Unsichtbares, etwas setzte sich in Bewegung, ein unbekannter Strom ging durch die Atmosphäre Frankreichs – und das Vergessene wurde lebendig, und das Toten wurden auferweckt. Und die Traditionen wurden mit aller Kraft entdeckt … Wo haben sie sich versteckt? In den geheimnisvollen Depots des Unbewussten, irgendwo in den letzten Nervenfasern, die sich der historischen Verarbeitung unterzogen, die kein Dekret aufhebt oder beseitigt. So erwuchs aus 1793: 1830, 1848 und 1871.

Schwerelos, körperlos, werden diese Traditionen jedoch zu einem echten Faktor der Politik, denn sie sind in der Lage, zu Fleisch zu werden. Selbst in den schlimmsten Tagen ihres Lebens stand das zu Fraktionen und Sekten zerrissene französischen Proletariats als warnender Schatten über den offiziellen Vätern des Vaterlandes. Deshalb stand der direkte politische Einfluss der französischen Arbeiter immer über ihrer Organisation und ihrer parlamentarischen Vertretung. Und diese historische, von Generation zu Generation führende Kraft ist die Kraft Jaurès'.

★ ★ ★

Aber dieser Jaurès – der Träger des Erbes – ist noch nicht der ganze Jaurès. Auf der anderen Seite steht er als Parlamentarier der dritten Republik vor uns. Parlamentarier von Kopf bis Fuß! Seine Welt ist das Wahlabkommen, die parlamentarische Tribüne, die Interpellation, das rednerische Duell, das Abkommen hinter den Kulissen, manchmal – ein zweideutiger Kompromiss … ein Kompromiss, gegen den zu protestieren gleichermaßen sowohl die Traditionen als auch die Ziele, sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft bereit sind. Wo ist der psychologische Knoten, der diese beiden Gesichter miteinander verbindet? …

Zu einem praktischen Menschen", sagt Renan in einem Artikel über Cousin, „gehört, dass er niedrig sein muss. Wenn er hohe Ziele hat, werden sie ihn nur verwirren. Deshalb nehmen große Menschen nur mit ihren eigenen Mängeln oder kleinlichen Eigenschaften am praktischen Leben teil." Mit diesen Worten eines kontemplativen Skeptikers, eines spirituellen Epikureers wäre es nicht schwer, den Schlüssel zu Jaurès' Widersprüchen zu finden – wenn in ihnen nur nicht eine böswillige Verleumdung des Menschen im Allgemeinen und Jaurès' im Besonderen läge. Alles Leben ist Praxis, ist Schaffen, ist Handeln. „Hohe Ziele" können die Praxis nicht verwirren, denn sie sind nur ihre Organe, und die Praxis behält immer ihre höchste Kontrolle über sie. Zu sagen, dass ein praktischer Mensch – d.h. vorrangig ein gesellschaftlicher Mensch – niedrig sein müsse, bedeutet nur, seinen eigenen moralischen Zynismus zu offenbaren, der über seine praktischen Schlussfolgerungen erschrocken ist und sich daher in idealistischen Spekulationen erschöpft.

Mit all seiner moralischen Figur zerstört Jaurès Renans Verleumdung des Menschen. Ungeduldiger tätiger Idealismus leitet ihn auch in seinen riskantesten Schritten.

In der schlimmsten Zeit des Millerandismus (1902) musste ich Jaurès neben Millerand auf der Tribüne sehen – Hand in Hand – anscheinend durch eine völlige Einheit von Mitteln und Zielen verbunden. Aber ein unfehlbares Gefühl sagte, dass eine unüberbrückbare Kluft sie trennt – dieser überschäumende Enthusiast, uneigennützig und feurig, und dieser parlamentarische Karrierist, kalt-kalkulierend. Es gibt etwas unwiderstehlich Überzeugendes, eine Art kindlich-athletische Aufrichtigkeit in seiner Figur, in seiner Stimme, in seiner Geste…

Auf dem Podium wirkt er riesig, und doch ist er unterdurchschnittlich groß. Stämmig, mit einem eng auf dem Hals sitzenden Kopf, mit ausdrucksstarken „spielenden“ Wangenknochen, mit sich während der Zeit des Sprechens aufblähenden Nasenlöchern, alles dem Fluss seiner Leidenschaft gebend – gehört er auch im Erscheinungsbild zum gleichen Menschentyp wie Mirabeau und Danton. Als Redner ist er einzigartig und unvergleichlich. In seiner Rede gibt es nicht die vollendete, manchmal ärgerliche Finesse, mit der Vandervelde glänzt. In logischer Unwiderstehlichkeit misst er sich nicht mit Bebel. Ihm ist die boshafte, mit Galle getränkte Ironie Victor Adlers fremd. Aber Temperament, aber Leidenschaft, aber Elan hat er genug für alle…

Es stimmt, ein anderer russischer Mensch aus dem Schwarzerdegebiet3 findet bei Jaurès auch nur geschickte technische Ausbildung und pseudo-klassische Deklamation. Aber in dieser Einschätzung zeigt sich nur die Armut unserer vaterländischen Kultur. Bei den Franzosen ist die rednerische Technik ein gemeinsames Vermächtnis, das sie ohne Mühe aufnehmen und ohne das sie unvorstellbar sind, wie ein „kultureller" Mensch ohne Kleidung. Jeder Reden haltende Franzose redet gut. Aber umso schwieriger ist es für einen Franzosen, ein großer Redner zu sein. Und das ist Jaurès. Nicht seine reiche Technik, nicht die gewaltige, wie ein Wunder berührende Stimme, nicht die freie Großzügigkeit seiner Gesten, sondern die geniale Naivität seines Enthusiasmus – das verbindet Jaurès mit der Masse und macht ihn zu dem, was er ist…

★ ★ ★

Aber wir sind von unserer Frage abgekommen: Welcher psychologische Knoten verbindet den Erben der promethischen Traditionen in Jaurès mit dem parlamentarischen Geschäftemacher?

Was ist Jaurès: Opportunist? Revolutionär? Das eine und das andere – in Abhängigkeit vom politischem Moment – und darüber hinaus mit der Bereitschaft zu den äußersten Schlussfolgerungen in beide Richtungen. Jaurès hat die Natur4 des Handelns.5 Er ist immer bereit, „den Gedanken mit der Krone der Ausführung zu krönen".… Während der Dreyfus-Sache sagte Jaurès zu sich selbst: „Wer dem Henker nicht in den Arm fällt, der über dem Opfer schwebt, wird selbst zum Komplizen des Henkers", und ohne sich nach dem politischen Ergebnis der Kampagne zu fragen, stürzte er sich in den Strom der Dreyfusiade. Sein Lehrer, Freund und später6 sein unversöhnlicher Antagonist, Guesde, sagte ihm: „Jaurès, ich liebe Sie, weil bei Ihnen die Sache immer aus dem Gedanken folgt!"

Das sind die Stärken und Schwächen Jaurès'.

Jede Zeit", schrieb Heine, „glaubt, dass ihr Kampf der wichtigste von allen sei. Darin liegt in der Tat der Glaube der Zeit, in diesem Glauben lebt und stirbt sie"…

Bei Jaurès gibt es etwas jenseits dieser Religion seiner Zeit: Bei ihm gibt es das Pathos des Moments. Er misst eine vorübergehende politische Kombination nicht mit dem großen Maßstab historischer Perspektiven. Er ist ganz, völlig – hier, in der Empörung dieses Tages. Und im Dienste dieses Tages hat er keine Angst, mit seinem großen Ziel in Konflikt zu geraten. Seine Leidenschaft, seine Energie und sein Talent gibt er mit so spontaner Verschwendungssucht aus, als ob das Ergebnis des großen Kampfes der beiden Welten von jedem der Schlange stehenden politischen Themen abhänge.

Darin liegt die Kraft Jaurès' und darin liegt seine fatale Schwäche. Seiner Politik fehlen die Proportionen, und oft sieht er den Wald vor lauter Bäume nicht.

Der Strom der menschlichen Geschäfte wechselt“ (sagt Shakespeares Brutus)

Nimmt man die Flut wahr, führet sie zum Glück;

Versäumt man sie, so muss die ganze Reise

Des Lebens sich durch Not und Klippen winden.“

Nach seinen Fähigkeiten, nach dem Schwung seiner Natur wurde Jaurès für die Zeit einer großen Flut geboren. Und sein Schicksal war, sein Talent in der Zeit der schlimmsten europäischen Reaktion zu entwickeln. Es ist nicht seine Schuld, sondern sein Unglück. Aber dieses Unglück führte wiederum zu Schuld. Unter seinen Talenten fand Jaurès eines nicht: die Fähigkeit zu warten. Nicht passiv am Meer auf das Wetter zu warten7, sondern in einer zuversichtlichen Vorausberechnung der kommende Brandung Kraft zu sammeln und das Tauwerk vorzubereiten. Er wollte sofort sowohl die großen Traditionen als auch die großen Chancen in die harte Münze des praktischen Erfolgs schlagen. Deshalb geriet er so oft in hoffnungslose Widersprüche „in den Untiefen und Katastrophen" der dritten Republik.…

Nur ein Blinder wird Jaurès zu den Doktrinären des politischen Kompromisses zählen. In diese Politik brachte er nur sein Talent ein, seine Leidenschaft, seine Fähigkeit, bis zum Ende zu gehen – aber er machte daraus keinen Katechismus. Und bei Gelegenheit wird Jaurès der erste sein, der ein großes Segel auf seinem Schiff setzen und von den Sandbänken auf das offene Meer segeln wird …

1In der französischen Übersetzung: „Salon“

2In der französischen Übersetzung: „Finanz-“

3In der englischen Übersetzung: „reinrassiger“

4In der englischen Übersetzung: „ist die Figur“

5Der Satz fehlt in der französischen Übersetzung

6Fehlt in der französischen Übersetzung

7In der englischen Übersetzung: „nicht müßig abzuwarten“, in der französischen Übersetzung: „nicht am Meer der Zeit passiv abzuwarten“

Kommentare