Acht Stunden!

Acht Stunden!

In diesem Kampfe stand das Proletariat allein. Niemand wollte noch konnte es unterstützen. Es handelte sich diesmal nicht um die Pressefreiheit und nicht um den Kampf gegen die Willkür der uniformierten Baschi-Bosuks, ja nicht einmal um das allgemeine Wahlrecht. Der Arbeiter forderte Garantien für seine Muskeln, für seine Nerven, für sein Gehirn. Er war entschlossen, einen Teil seines Lebens für sich selbst zu erobern. Er konnte und wollte diesen Kampf nicht länger hinausschieben. In der Revolution hatte er zum ersten Mal seine Macht gefühlt und er erkannte ein neues, höheres Leben in den Geschehnissen. Er war wie neugeboren – für das Leben des Geistes. Alle seine Empfindungen waren wie Saiten gespannt. Eine neue, unfassbare, leuchtende Weit erstand vor ihm … Wann wird der große Dichter kommen, der jene revolutionäre Geburt der Arbeitermassen lebendig auferstehen lassen wird?!

Nach dem Oktoberstreik, der die von Rauch und Qualm geschwärzten Fabriken in Tempel verwandelte, in denen das Wort der Revolution gepredigt wurde, nach dem Siege, der das müdeste Herz mit Stolz ersfüllte, befand sich die Arbeiterschaft wieder in den Fesseln der Maschine. In der Morgendämmerung verschwand der Arbeiter in dem Schlunde der Fabrikhölle, und spät abends, wenn die übersatte Maschine ihn pfeifend entließ, schleppte er im Halbschlaf seinen matten Körper dem finsteren, zum Ekel gewordenen Loche zu. Ringsum brannten hell die Flammen, die er selbst angezündet hatte – nah und doch unerreichbar. Die sozialistische Presse, die politischen Versammlungen, der Parteikampf – das alles war ein großes, herrliches Fest der Interessen, der Leidenschaften. Wo aber ist der Ausweg? Der Achtstunden-Arbeitstag! In dieser Losung liegt das Programm der Programme.

Nur der Achtstundentag konnte die Klassenmacht des Proletariats für die revolutionäre Politik des Tages unmittelbar freimachen. Zu den Waffen nun, Proletarier von Petersburg! Es beginnt ein neues Kapitel in dem furchtbaren Buche eurer Kämpfe.

Schon während des großen Streiks hatten die Delegierten mehr als einmal hervorgehoben, dass die Arbeiterschaft um keinen Preis zu bewegen sein werde, die Arbeit zu den alten Bedingungen wieder aufzunehmen.

Am 8. November beschlossen die Delegierten eines der Petersburger Rayons – ohne den Rat erst zu befragen auf revolutionärem Wege den Achtstundentag in ihren Werkstätten einzuführen. Am 9. November wird in einigen Arbeiterversammlungen der Antrag der Delegierten einstimmig angenommen. In der Alexandrowschen Maschinenfabrik wird die Abstimmung geheim vorgenommen, um den Druck von links zu vermeiden. Das Resultat ist: 1668 Stimmen für und 14 gegen den Antrag. Die großen Metallfabriken arbeiten vom 10. November ab acht Stunden. Gleichzeitig entsteht eine ebensolche Bewegung an dem anderen Ende Petersburgs. Am 11. November berichten die Delegierten, die diese Kampagne eingeleitet hatten, dass in drei großen Fabriken der Achtstundentag „auf dem Wege der action directe" eingeführt ist. Ein Beifallssturm war die Antwort. Gezweifelt wird nicht. Hatte uns nicht derselbe Weg Versammlungs- und Pressefreiheit gebracht? Haben wir nicht durch revolutionären Anprall das Konstitutionsmanifest ertrotzt? Sind uns die Privilegien des Kapitals heiliger als die der Monarchie? Schüchterne Einwendungen der Skeptiker gehen unter in den Wogen der allgemeinen Begeisterung. Der Rat fasst einen Beschluss von ungeheurer Wichtigkeit: er fordert alle Fabriken und Werkstätten auf, eigenmächtig den Achtstundentag einzuführen. Er dekretiert dies fast ohne Debatte, wie etwas Selbstverständliches. Er gibt der Arbeiterschaft Petersburgs 24 Stunden Zeit zur Vorbereitung, – und den Arbeitern genügt das.

Der Vorschlag des Rates wurde von unseren Arbeitern begeistert aufgenommen", schreibt Nemzow, der Delegierte einer Metallfabrik. „Im Oktober haben wir für die Forderungen des ganzen Landes gekämpft, jetzt aber stellen wir unsere spezielle proletarische Forderung auf, welche den Herren Bourgeois zeigen wird, dass wir unsere Klassenforderung keinen Moment aus dem Auge verlieren. Nach erfolgter Debatte beschloss das Fabrikkomitee (eine Versammlung von Vertretern der einzelnen Werkstätten; die führende Rolle in den Fabrikkomitees hatten die Delegierten des Rates) einstimmig, vom 14. November ab den Achtstundentag einzuführen. Am gleichen Tage noch teilten die Delegierten allen Werkstätten den Beschluss des Fabrikkomitees mit .… Sie baten die Arbeiter, sich das Essen in die Fabrik mitzubringen, um nicht die gewohnte Mittagspause zu machen. Am 14. November gingen die Arbeiter um 6¾ Uhr früh an die Arbeit wie sonst. Um 12 Uhr ertönte die Fabrikpfeife, welche die Arbeiter zu Mittag rief und sie für 1¾ Stunden aus der Fabrik entließ. Man lachte darüber und nahm nach einer nur halbstündigen Mittagspause die Arbeit in vollem Umfange wieder auf. Um 3½ Uhr nachmittags wurde die Arbeit eingestellt, nachdem genau 8 Stunden gearbeitet worden waren."

Am Montag den 13. November", so lesen wir in Nr. 5 der „Nachrichten des Arbeiterdelegiertenrates", „verließen alle Arbeiter unseres Rayons dem Beschlusse des Rates gemäß nach achtstündiger Arbeitszeit die Werkstätten und zogen mit roten Fahnen und unter dem Gesang der Marseillaise auf die Straße. Die Demonstranten bewirkten aus ihrem Wege, dass auch die kleineren Werkstätten, welche noch weiter arbeiten wollten, die Arbeit einstellten. Mit derselben revolutionären Energie wurde der Beschluss des Rates auch in den anderen Rayons ausgeführt. Am 11. November umfasst die Bewegung fast alle Metall-, und die größten Textilfabriken. Die Arbeiter der Schlüsselburger Fabriken fragen beim Rat telegraphisch an: wie viel Stunden von heute ab gearbeitet werden soll …

Die Kampagne entfaltete sich mit unüberwindlicher Einmütigkeit. Doch der fünftägige Novemberstreik schnitt wie ein Keil in sie hinein.

Die Situation wurde schwierig. Die Reaktion machte verzweifelte und nicht ganz erfolglose Anstrengungen, sich auf die Beine zu bringen. Die Kapitalisten vereinigten sich unter dem Protektorat Wittes zu energischer Abwehr. Die bürgerliche Demokratie war „müde" und sehnte sich nach Ruhe und Erholung.

Vor dem Novemberstreik pflegten die Kapitalisten auf eigenmächtige Verkürzung der Arbeitszeit in verschiedener Weise zu reagieren. Die einen drohten mit sofortiger Fabriksperre, die anderen beschränkten sich darauf einen entsprechenden Abzug am Arbeitslohne vorzunehmen. In einer ganzen Reihe von großen und kleineren Fabriken gab die Direktion nach, indem sie sich mit einem 9½-, ja sogar mit einem 9-Stunden-Arbeitstag einverstanden erklärte Das war z.B. beim Bund der Druckereibesitzer der Fall. Die Stimmung der Unternehmer war im Allgemeinen eine unsichere. Zu Ende des Novemberstreiks hatte das Kapital sich erholt und nahm nun eine möglichst unversöhnliche Stellung gegen die Arbeiterschaft ein: es gibt keinen Achtstundentag; bleiben die Arbeiter hartnäckig bei dieser Forderung, so erfolgt die Aussperrung bis auf den letzten Mann. Um den Unternehmern den Weg zu ebnen und mit gutem Beispiele voranzugehen, sperrte die Regierung als erste die Kronsfabriken. Die Arbeiterversammlungen wurden jetzt sehr oft mit Militärgewalt auseinandergesprengt, in der offenbaren Absicht, eine gedrückte Stimmung hervorzurufen. Die Lage spitzte sich von Tag zu Tag mehr zu. Nach den Kronsfabriken sperrte man eine Reihe privater Fabriken. Viele Tausende Arbeiter wurden schonungslos auf das Pflaster geworfen. Die Situation wurde unhaltbar. Das Proletariat hatte sich festgefahren – der Rückzug war unvermeidlich. Aber die Arbeitermassen bestehen auf ihrer Forderung. Sie wollen nichts davon hören, die Arbeit unter den früheren Bedingungen wieder aufzunehmen. Am 19. November greift der Rat zu einem Kompromiss, indem er den allgemein-bindenden Charakter der Forderung ändert und auffordert, nur in denjenigen Unternehmungen den Kampf weiterzuführen, wo Aussicht auf Erfolg ist. Der Beschluss ist augenscheinlich unbefriedigend, da er keinen deutlichen Kampfruf enthält, droht er die Bewegung in eine Reihe von Scharmützeln zu zersplittern. Die Aussichten auf irgend welchen Erfolg wurden immer trüber. Während zwar die Kronsfabriken auf Drängen der Delegierten zu den alten Arbeitsbedingungen wieder geöffnet wurden, hatten 13 neue Privatunternehmer ihre Fabriken geschlossen. Weitere 19.000 Arbeiter lagen auf der Straße. Die Sorge um Öffnung der Fabriken, sei es auch unter den alten Bedingungen, drängte die Frage der unmittelbaren Einführung des Achtstundentages immer mehr zurück. Es mussten unbedingt entscheidende Maßnahmen getroffen werden – und am 25. November beschloss der Rat, zum Rückzug zu blasen. Dieses war die allerdramatischste Sitzung des Arbeiterparlaments.

Die Stimmen waren geteilt. Zwei große Metallfabriken bestanden auf Fortsetzung des Kampfes. Die Vertreter einiger Textil,-, Glas,- und Tabakfabriken unterstützen sie. Die Putilowfabrik ist entschieden dagegen. Eine Weberin in mittleren Jahren erhebt sich von ihrem Platze. Sie ist von der Maxwell-Fabrik. Ein offenes slawisches Gesicht. Ein verschossenes Kattunkleid trotz des rauen Spätherbstes. Ihre Hand zittert vor Erregung und greift nervös nach dem Kragen. Eine klingende, seelenvolle, unvergessliche Stimme. „Ihr habt eure Weiber", schleudert sie den Putilowschen Delegierten entgegen, „daran gewöhnt, gut zu essen und weich zu schlafen und darum ist es für euch schrecklich, ohne Verdienst zu bleiben. Wir aber fürchten uns nicht davor. Wir sind bereit zu sterben oder den Achtstundentag zu erringen. Wir werden bis zu Ende kämpfen. Sieg oder Tod! Es lebe der Achtstundentag!"

Noch jetzt, nach 30 Monaten, tönt diese Stimme der Hoffnung, der Verzweiflung und der Leidenschaft in meinem Ohr wie eine furchtbare Anklage und ein unbesiegbarer Kampfruf zugleich. Wo bist du jetzt, mutige Genossin im verschossenen Kattunkleide? Dich hat niemand daran gewöhnt, gut zu essen und weich zu schlafen! …

Die schrille Stimme bricht ab. … Einen Augenblick lang krampfhafte Stille. Dann ein Sturm von leidenschaftlichem Beifall. Die Delegiertem die sich in dem schweren Gefühl der Allmacht des Kapitals hier versammelt haben, in diesem Augenblick haben sie sich weit über das Walten des Tages erhoben. Sie applaudierten ihrem zukünftigen Siege über das blutdürstige Fatum …

Nach vierstündiger Debatte nahm der Rat mit erdrückender Stimmenmehrheit den Beschluss des Rückzuges an. Zudem die Resolution darauf hinweist, dass die Koalition des vereinigten Kapitals mit der Regierung die Frage des Achtstundentages in Petersburg in eine Frage des ganzen Reiches umgewandelt hat, dass daher die Petersburger Arbeiter gesondert von den Arbeitern des ganzen Landes keinen Erfolg erringen können, lautete dieselbe: „Aus diesen Gründen erachtet es der Arbeiter-Delegiertenrat für notwendig, eine Zeittang die sofortige und allgemeine gewaltsame Einführung des Achtstundentages einzustellen."

Es kostete viel Mühe, den Rückzug in geordneten Reihen zu bewerkstelligen. Es gab viele Arbeiter, die vorzogen, den Weg zu gehen, den die Maxwellsche Weberin gezeigt hatte. „Genossen, Arbeiter anderer Fabriken", So schrieben an den Rat die Arbeiter einer großen Fabrik, die beschlossen hatten, den Kampf für den 9½-Stundentag fortzusetzen, „verzeiht uns, wenn wir so handeln, aber wir haben keine Kraft mehr, dieses allmähliche Zugrunderichten des Menschen in physischer wie in moralischer Beziehung mit anziehen. Wir werden bis zum letzten Tropfen Blutes kämpfen."

Als die Kampagne zugunsten des Achtstundentages eröffnet wurde, schrie die kapitalistische Presse natürlich, der Rat wolle die vaterländische Industrie vernichten. Die liberal-demokratischen Blätter, die in dieser Zeit vor dem Herrn von links zitterten, schwiegen, als ob ihnen der Mund zugestopft wäre. Und erst als die Niederwerfung der Revolution im Dezember ihnen den Mund öffnete, da gingen sie daran, alle Vorwürfe der Reaktion gegen den Rat in den liberalen Jargon zu übersetzen. Sein Kampf für den Achtstundentag rief noch hinterher die schärfste Verurteilung seitens dieser Presse hervor. Es muss immerhin im Auge behalten werden, dass der Gedanke der „gewaltsamen” Verkürzung des Arbeitstages, d.h. auf dem Wege der tatsächlichen Arbeitseinstellung ohne vorheriges Übereinkommen mit den Unternehmern, nicht im Oktober und nicht im Rate entstanden ist. Während der Streikepoche des Jahres 1905 wurden Versuche solcher Art mehr als einmal gemacht. Sie führten nicht immer zu Niederlagen. In den Kronsfabriken, für welche die politischen Motive mächtiger sind als die ökonomischen, hatten die Arbeiter auf diese Weise den neunstündigen Arbeitstag errungen. Nichtsdestoweniger kann der Gedanke der revolutionären Festsetzung des Normal-Arbeitstages – in Petersburg allein – innerhalb 24 Stunden, als ein ganz phantastischer erscheinen. Irgend ein achtbarer Beamter einer soliden Gewerkschaft wird ihn auch als einfach wahnsinnig ansehen. Er ist es auch wirklich – unter dem Gesichtswinkel einer „vernünftigen” Zeit. Aber unter den Bedingungen des revolutionären „Wahnsinns” hatte er einen „vernünftigen” Sinn. Gewiss ist der Normal-Arbeitstag in Petersburg allein etwas Undenkbares. Aber der Petersburger Versuch sollte, so meinte der Rat, das Proletariat des ganzen Landes auf die Beine bringen. Gewiss kann der Achtstundentag nur unter Beihilfe der Staatsgewalt festgesetzt werden. Aber das Proletariat stand ja damals mitten im Kampfe um die Staatsgewalt. Hätte es damals politisch gesiegt, so wäre die Einführung des Achtstundentages nur die natürliche Folge des „phantastischen Experiments” gewesen. Aber es siegte nicht – und das ist freilich die schwerste „Schuld”.

Und doch glauben wir, dass der Rat gehandelt hat, wie er handeln konnte und musste. Er hatte keine Wahl. Wenn er aus Bedenken „realpolitischer” Natur den Massen ein Zurück zugerufen hätte, so hätten sie sich einfach nicht gefügt und sich gegen ihn empört. Der Kampf wäre doch entbrannt, aber ohne Führung. Die Streiks wären ausgebrochen, aber vereinzelt. Unter solchen Bedingungen hätte die Niederlage eine völlige Demoralisierung im Gefolge gehabt. Der Rat fasste seine Aufgabe anders auf. Seine führenden Elemente rechneten gar nicht auf einen unmittelbaren und vollen Erfolg der Kampagne, aber sie rechneten mit der mächtigen elementaren Bewegung als mit einer Tatsache und beschlossen, sie in eine majestätische, in der sozialistischen Welt noch nie gesehene Demonstration für den Achtstundentag ausmünden zu lassen, Ihre praktischen Früchte, die bedeutende Verkürzung der Arbeitszeit in einer Reihe von Industriezweigen, wurden in der nachfolgenden Reaktionsperiode durch die Unternehmer wieder zunichte gemacht. Aber die politischen Ergebnisse haben sich unverwischbar in das Bewusstsein der Massen eingegraben. Die Idee des Achtstundentages genoss von nun an eine solche Popularität selbst in den zurückgebliebenen Arbeiterschichten, wie sie Jahre fleißiger Propaganda nicht bewirkt hätten. Gleichzeitig verschmolz diese Forderung organisch mit den Grundforderungen der politischen Demokratie. Als sich die Arbeitermassen gegen den organisierten Widerstand des Kapitals gedrängt sahen, hinter dessen Rücken schützend die Staatsgewalt stand, da trat wieder in den Vordergrund die Frage der Selbstbewaffnung und der revolutionären Umwälzung des ganzen Staatsgebildes.

Der Berichterstatter des Exekutivkomitees, der im Rate die Resolution des Rückzuges verteidigt hatte, resümierte die Kampagne dahin:

Wenn wir nicht den Achtstundentag für die Massen gewonnen haben, so haben wir doch die Massen für den Achtstundentag gewonnen! Von nun an lebt im Herzen eines jeden Petersburger Arbeiters der Kampfruf: Achtstundentag und Waffen!"

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