Anstatt einer Vorrede zum zweiten Teil

Anstatt einer Vorrede zum zweiten Teil

Auf dem zweiten sozialdemokratischen Parteitag im Jahre 1906 wurden einige interessante statistische Ziffern bekannt gegeben, die eine höchst beredte Illustration bilden zu den Bedingungen, unter denen die Partei des russischen Proletariats ihrer revolutionären Tätigkeit oblag:

Der Parteitag, insgesamt ans 140 Delegierten bestehend, hatte im Gefängnis summa summarum 138 Jahre 3½ Monate zugebracht.

Die von ihm in der Verbannung zugebrachte Zeit belief sich auf 148 Jahre 6½ Monate.

Geflohen waren:

aus dem Gefängnis – je einmal: 18 Delegierte, je zweimal: 4 Delegierte;

aus der Verbannung – je einmal 23, je zweimal 5, je dreimal 1 Delegierter.

Zieht man in Erwägung, dass der Parteitag in seiner Gesamtheit im ganzen 942 Jahre an der sozialdemokratischen Arbeit teilgenommen hatte, so gelangt man zu dem Schlusse, dass die im Gefängnis und in der Verbannung zugebrachte Zeit etwa ein Drittel der Teilnahme an der Arbeit ausmacht. Indes diese Ziffern schildern den wahren Sachverhalt allzu optimistisch: „Der Parteitag nahm an der sozialdemokratischen Arbeit 942 Jahre teil", – das besagt nur, dass die politische Tätigkeit der Parteitagsdelegierten sich über diesen ganzen Zeitraum neu verteilt, – keineswegs aber natürlich, dass diese sämtlichen 942 Jahre lückenlos von politischer Arbeit erfüllt sind. Die wirkliche, unmittelbare Tätigkeit unter den Bedingungen der Illegalität beträgt vielleicht nicht mehr als ein Fünftel oder gar ein Zehntel dieser Frist. Dafür trifft aber die Darstellung auf den Aufenthalt in dem Gefängnis und in der Verbannung ganz und gar zu: über 50.000 Tage und Nächte hatte der Parteitag hinter dem Gitterfenster zugebracht und eine noch größere Zeitperiode in den trostlosen Winkeln und Einöden des Landes.

Es sei uns gestattet, als Ergänzung zu diesen Ziffern ein paar statistische Daten aus unserer eigenen Vergangenheit heranzuziehen. Das erste Mal im Januar 19001 nach zehnmonatiger Tätigkeit in den Arbeitervierteln der Stadt Nikolajew verhaftet, blieb der Verfasser dieser Zeilen 2½ Jahre im Gefängnis und floh aus Sibirien, nachdem er die Hälfte seiner vierjährigen Verbannungsfrist abgebüßt hatte. Das zweite Mal wurde er am 16. Dezember 1905 als Mitglied des Arbeiterdelegiertenrats verhaftet. Die Tätigkeit des Rats hatte sieben Wochen gewährt. Sämtliche in dem Prozess gegen den Rat Verurteilten wurden je 57 Wochen in Gefängnishaft behalten, worauf man sie nach Obdorsk zur „ewigen Ansiedlung" abschob. … Jeder russische Sozialdemokrat, der gegen 10 Jahre in der Partei gewirkt hat, würde über seine Person etwa dieselben Angaben zu machen haben.

Die bei uns nach dem 30. Oktober eingetretene Zweideutigkeit der Staatsform, die von dem Gothaer Almanach mit dem unfreiwilligen Humor der juristischen Pedanterie als konstitutionelle Monarchie unter autokratem Zaren bezeichnet wird, änderte nichts an unserer Lage. Wir hatten 50 Tage Freiheit gehabt und sie damals in vollen Zügen ausgekostet. In diesen herrlichen Tagen hatte der Zarismus das begriffen, was uns schon längst bekannt war: dass für uns beide nebeneinander kein Raum sei. Darauf traten die fürchterlichen Monate der Vergeltung ein … Der Zarismus wechselte nach dem 30. Oktober eine Duma nach der anderen, wie die Riesenschlange ihre Haut – trotz der so eifrigen Häutung wusste er sich aber seinen Charakter als Riesenschlange in vollem Umfange zu bewahren …

Die Einfaltspinsel und die liberalen Heuchler, die uns in den letzten beiden Jahren so oft aufforderten, den Weg des Rechts zu betreten, gleichen der Königin Marie Antoinette, die den hungernden Bauern empfahl, Kuchen zu essen. Als ob wir an irgend einem organischen Widerwillen gegen Kuchen litten! Als ob unsere Lungen angesteckt wären von dem unwiderstehlichen Drange nach der Atmosphäre der Einzelzellen der Peter-Paulsfestung! Als ob es außerhalb unseres Wollens und Könnens läge, für jene endlos langen Stunden, die der Kerkermeister aus unserem Leben reißt, eine bessere Anwendung zu finden!

Wir sind ebenso wenig in unser unterirdisches Versteck verliebt, wie der Ertrinkende in den Meeresgrund. Aber wir haben ebenso wenig freie Wahl, wie – sagen wir es offen – der Absolutismus. Die klare Erkenntnis dieser Tatsache erlaubt uns, Optimisten selbst in jenen Minuten zu bleiben, wo das unterirdische Versteck mit fataler Schonungslosigkeit unsern Nacken zu Boden drückt. Es wird uns nicht ersticken, dessen sind wir gewiss! Wir werden alle überleben! Wenn keine Spur mehr sein wird von jenen großen Werken, die heute von den Fürsten der Erde, ihren Dienern und den Dienern ihrer Diener gefördert werden, wenn es unmöglich sein wird, die Gräber aufzufinden, in denen viele der heutigen Parteien samt ihren Taten begraben sein werden – dann wird die Sache, der wir dienen, die Welt beherrschen und unsere Partei, die heute in ihrem unterirdischen Versteck vergeht, wird in der Menschheit aufgehen, die zum ersten Mal ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wird.

Die ganze Geschichte – das ist eine große Maschine im Dienste unserer Ideale. Sie arbeitet barbarisch langsam, mit fühlloser Grausamkeit, aber sie tut ihre Sache. Wir glauben an sie. Und nur in jenen Augenblicken, wo ihr gefräßiger Mechanismus als Feuerungsmaterial das warme Blut unserer Herzen verschlingt, möchten wir ihr aus voller Macht zurufen:

Was du tust – tue es rascher!

1Im Text steht irrtümlich 1908, geändert nach späteren Auflagen

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