Das Ministerium Witte

Das Ministerium Witte

Am 30. Oktober kapitulierte die mit dem Blute und den Flüchen der Jahrhunderte bedeckte zarische Regierung vor dem Streikaufstande der Arbeitermassen. Keine Macht der Restauration wird diese Tatsache aus der Geschichte auslöschen. In die heilige Krone des zarischen Absolutismus ist die Spur des Proletarierstiefels unverwischbar eingegraben.

Als Verkünder der Kapitulation des Zaren erschien in dem inneren Kriege ebenso wohl wie in dem äußeren Graf Witte. Ein plebejischer Parvenü mitten unter den adeligen Reihen der höchsten Bürokratie, dem Einfluss allgemeiner Ideen politischer und moralischer Prinzipien ebenso unzugänglich wie diese, hatte Witte vor seinen Rivalen die Vorzüge des Emporkömmlings voraus, der durch keine höfisch-adeligen Stalltraditionen gebunden ist. Dies erlaubte ihm, sich zu einem idealen Typus eines Bürokraten zu entwickeln, frei nicht nur von Nationalität, Religion, Gewissen und Ehre, sondern auch von Standesvorurteilen. Dies machte ihn empfänglicher für die elementaren Anforderungen der kapitalistischen Entwicklung. Unter den hereditär-stumpfsinnigen Hofjägermeistern erschien er als ein staatsmännisches Genie.

Die konstitutionelle Karriere des Grafen Witte basiert ganz und gar auf der Revolution. Zehn Jahre lang der unkontrollierte Buchhalter und Kassierer der Selbstherrschaft, wurde er 1902 durch seinen Antagonisten Plehwe auf den machtlosen Posten eines Vorsitzenden des vorrevolutionären Ministerrates zurückgestellt. Als dann Plehwe selbst durch die Bombe eines Terroristen „zurückgestellt” worden war, begann Witte nicht ohne Erfolg und mit Hilfe dienstbereiter Journalisten in der Rolle des Retters Russlands in den Vordergrund zu rücken. Man berichtete mit wichtiger Miene, dass er alle liberalen Maßnahmen Swjatopolk-Mirskis unterstütze. Wegen der Niederlagen im Osten schüttelte er vielsagend den Kopf. Am Vorabend des 22. Januar antwortete er den erschrockenen Liberalen: „Sie wissen, die Macht ist nicht in meiner Hand.” Auf diese Weise ebneten ihm die terroristischen Anschläge, die japanischen Siege und die revolutionären Ereignisse den Weg. In Portsmouth unterzeichnete er das Traktat, das ihm von der Weltbörse und ihren politischen Agenten diktiert worden war, und kehrte von dort als Triumphator zurück. Man hätte glauben können, nicht Marschall Oyama, sondern er, Witte, habe alle Siege im asiatischen Osten errungen. Auf den von der Vorsehung auserkorenen Mann konzentrierte sich die gespannteste Aufmerksamkeit der Bourgeoisie der ganzen Welt. Die Pariser Zeitung „Matin” stellte in einem Schaufenster ein Stück von dem Löschpapier aus, auf das Witte seine Portsmouther Unterschrift gedruckt hatte. Die Laffen der öffentlichen Meinung interessierten sich von nun an für alles: für seine riesige Gestalt, seine schlecht geschnittenen Hosen, ja für seine halb eingefallene Nase. Seine Audienz bei Wilhelm II. sicherte ihm endgültig die Aureole eines Staatsmannes ersten Ranges. Andererseits bezeugte seine konspirative Unterredung mit dem Emigranten Struve, dass es ihm gelingen werde, den rebellischen Liberalismus zu zähmen. Die Bankiers waren entzückt: dieser Mann wird es verstehen, die regelmäßige Auszahlung der Zinsen sicherzustellen. Nach Russland zurückgekehrt, nahm Witte mit selbstbewusster Miene seinen machtlosen Posten wieder ein, hielt im Ministerrate liberale Reden und nannte, offensichtlich auf die Revolution spekulierend, die Deputation der ausständigen Eisenbahner „die besten Kräfte des Landes". Er hatte sich in der Rechnung nicht geirrt: der Oktoberstreik erhob ihn auf den Posten eines selbstherrschenden Ministers des konstitutionellen Russland. Den höchsten liberalen Ton schlug Witte in seinem programmmäßigen „alleruntertänigsten Berichte" an. Hier ist der Versuch gemacht, sich von dem höfisch-lakaienhaften und fiskalisch-bürokratischen Standpunkt zu der Höhe politischen Generalisation zu erheben. Der Bericht anerkennt, dass die Bewegung, die das Land ergriffen hat, nicht das Resultat einfacher Aufhetzung sei, dass deren Ursache in dem gestörten Gleichgewichte liege zwischen den Ideenbestrebungen der denkenden russischen Gesellschaft und ihren äußeren Lebensformen. Sieht man jedoch von dem geistigen Niveau desjenigen Milieus ab, in dem und für das der Bericht geschrieben wurde, nimmt man es als das Programm eines „Staatsmannes", so ist man erstaunt über die Nichtigkeit der Gedanken, die stets ausweichende Feigheit in der Form und die Unangepasstheit der Kanzleisprache. Die Erklärungen betreffs der öffentlichen Freiheiten sind in einer Form gemacht, deren Unbestimmtheit durch die Energie der beschränkenden Kommentare nur unterstrichen wird. Indem Witte es wagt, die Initiative einer konstitutionellen Reorganisation auf sich zu nehmen, spricht er das Wort Konstitution nicht aus. Er hofft, diese ungestört in der Praxis zu verwirklichen, gestützt auf diejenigen die das Wort Konstitution nicht vertragen. Aber dazu braucht er notwendig Ruhe. Er erklärt, dass von nun an Verhaftungen, Konfiskationen und Füsilierungen zwar auf Grund der alten Gesetze, jedoch „im Geiste" des Manifestes vom 30. Oktober vollzogen werden sollen. In seiner betrügerhaften Naivität hoffte er, dass die Revolution unverzüglich vor seinem Liberalismus kapitulieren werde, so wie einen Tag vorher die Selbstherrschaft vor der Revolution kapituliert hatte. Er täuschte sich gründlich.

Wenn Witte dank dem Siege, oder richtiger, dank der Halbheit des Sieges des Oktoberstreiks zur Macht gelangte, so hatten dieselben Bedingungen für ihn schon von vornherein eine völlig aussichtslose Situation geschaffen. Die Revolution erwies sich als zu schwach, um die alte Staatsmächte zu zertrümmern und aus den Elementen ihrer eigenen Organisation eine neue aufzubauen. Die Armee blieb in den früheren Händen. Alle früheren Verwaltungspersonen, vom Gouverneur bis zum Urjadnik herab, gewählt für die Zwecke der Selbstherrschaft, hatten ihre Stellungen behauptet. Unangetastet blieben auch alle alten Gesetze – bis zur Ausgabe neuer. So blieb der Absolutismus als eine materielle Tatsache ganz und gar bestehen. Er blieb sogar als Name bestehen, denn das Wort Selbstherrscher war nicht aus dem Titel des Zaren entfernt worden. Freilich war den Behörden befohlen worden, die Gesetze des Absolutismus „im Geiste” des Manifestes vom 30. Oktober anzuwenden. Das hieß aber soviel, als wenn man Falstaff befehlen wollte, keusch zu werden. Der Erfolg war, dass die lokalen Selbstherrscher, die 60 russischen Satrapen, ganz und gar in Verwirrung gerieten. Einmal gingen sie mit den revolutionären Demonstrationen und salutierten vor der roten Fahne, ein anderes Mal veranstalteten sie eine Parodie auf Geßler, indem sie forderten, dass die Bevölkerung den Hut vor ihnen ziehe, als den Vertretern der geheiligten Person seiner Majestät. Das eine Mal erlaubten sie den Sozialdemokraten, die Soldaten einen Treueid ablegen zu lassen, ein anderes Mal organisierten sie offen antirevolutionäre Metzeleien. Es herrschte völlige Anarchie. Eine gesetzgebende Gewalt existierte nicht. Es war nicht einmal bekannt, wann und wie eine solche einberufen werden würde. Immer mehr stieg der Zweifel, ob überhaupt die Einberufung stattfinden werde. Über diesem Chaos schwebte nun Graf Witte, der es sich angelegen sein ließ, sowohl Peterhof als auch die Revolution zu hintergehen und der vielleicht sich selbst am meisten betrog. Er empfing unzählige Deputationen, radikale und reaktionäre, er war in gleichem Maße zuvorkommend, sowohl den einen wie den anderen gegenüber. Er entwickelte zusammenhanglos seine Pläne vor den europäischen Korrespondenten, schrieb täglich Regierungsmitteilungen, in denen er die Gymnasiasten unter Tränen bat, sich nicht an den regierungsfeindlichen Kundgebungen zu beteiligen und allen Klassen des Gymnasiums und der Gesellschaft ans Herz legte, sich zu ermannen und eine regelmäßige Tätigkeit zu beginnen; kurz, er verlor vollständig den Kopf. Dafür arbeiteten die antirevolutionären Elemente der Bürokratie mit Volldampf. Sie hatten es gelernt, die Unterstützung der „gesellschaftlichen Kräfte” zu schätzen, sie riefen überall Pogromorganisationen ins Leben und vereinigten sich, ohne die offizielle, bürokratische Hierarchie zu beachten. Im Ministerium selbst hatten sie in der Person des Durnowo ihren Mann. Der niedrigste Vertreter der niedrigen Sitten der russischen Bürokratie, ein notorischer Dieb, den selbst der unvergessliche Alexander III. mit den energischen Worten: „Fort mit diesem Schwein!” hinauswerfen musste, war Durnowo jetzt aus der Müllgrube wieder hervorgeholt worden, um in der Gestalt eines Ministers des Innern ein Gegengewicht zu bilden für den „liberalen” Premierminister. Witte nahm diese selbst für ihn schimpfliche Mitarbeiterschaft an, die seine eigene Rolle sehr bald zu der gleichen Fiktion herabdrückte, zu der die reale Praxis der Bürokratie das Manifest vom 30. Oktober herabgedrückt hatte. Nachdem Witte eine ermüdende Serie von liberal-bürokratischen Kommuniqués erlassen hatte, gelangte er zu dem Schlusse, dass der russischen Gesellschaft der elementare, politische Sinn abgehe, ebenso wie die moralische Kraft und die sozialen Instinkte. Nun überzeugte er sich von seinem Bankrott und sah die Unvermeidlichkeit einer blutigen Repressionspolitik voraus, als einer „Vorbereitungsmaßregel" für die Einführung einer neuen Ordnung. Er selbst aber hielt sich nicht dazu berufen – aus Mangel an „erforderlichen Fähigkeiten" – und versprach, seinen Platz einem anderen zu überlassen. Auch in diesem Falle log er. In der Funktion eines machtlosen, von allen verachteten Premierministers behielt er dennoch seinen Posten im Laufe der ganzen Dezember-Januar-Periode, während der der Herr und Gebieter Durnowo mit aufgekrempelten Ärmeln die blutige Arbeit eines Schlächters für die Gegenrevolution verrichtete.

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