Der 22. Januar

Der 22. Januar

I.

Herr! Wir Arbeiter, unsere Kinder, unsere Frauen und unsere alten, hilflosen Eltern sind gekommen, Herr, um Wahrheit und Schutz bei Dir zu suchen. Wir sind verarmt, man unterdrückt uns, man bürdet uns unerträgliche Arbeit aus, man verhöhnt uns, man anerkennt in uns keine Menschen, man verhält sich zu uns wie zu Sklaven, die ihr Los ertragen und schweigen müssen. Wir haben auch Entsetzliches ertragen, aber man stößt uns immer tiefer in den Abgrund der Armut, der Rechtlosigkeit und der Unsicherheit. Despotismus und Willkür würgen uns und wir ersticken. Wir haben keine Kraft mehr, o Herr! Die Grenze der Geduld ist da; für uns ist jener furchtbare Augenblick gekommen, wo der Tod besser ist, als die Fortdauer unerträglichster Qualen."

Mit diesen feierlichen Worten, in denen die Drohung der Proletarier die Bitte der Untertanen erstickt, begann die berühmte Petition der Petersburger Arbeiter. Sie malte alle Unterdrückung und alle Kränkung aus, die das Volk erleidet. Sie zählte alles auf: von der Zugluft in der Fabrik bis zur politischen Rechtlosigkeit im Lande. Sie forderte Amnestie, öffentliche Freiheiten, Trennung der Kirche vom Staate, den Achtstundentag, den Normalarbeitslohn und die allmähliche Übergabe des Grund und Bodens an das Volk. Aber an die Spitze stellte sie die Einberufung einer Konstituante auf Grund der allgemeinen und gleichen Abstimmung.

Dies, o Herr", So schließt die Petition, „sind unsere hauptsächlichsten Bedürfnisse, wegen deren wir zu Dir gekommen sind. Befiehl und schwöre, dass Du sie erfüllst und Du wirst Russland glücklich und glorreich machen, wirst Deinen Namen unseren Herzen und den Herzen der Nachkommen einprägen für ewige Zeiten. Lässest Du es nicht zu, kehrst Du Dich nicht an unser Flehen, so werden wir hier sterben, auf diesem Platze, vor Deinem Palaste. Wir haben keinen Weg mehr vor uns und kein Ziel. Wir haben nur zwei Wege – entweder zur Freiheit und zum Glücke oder ins Grab. Weise uns, Herr, einen von diesen, wir werden ihn gehen ohne Widerrede, Wenn es auch der Weg zum Tode ist. Möge unser Leben das Opfer sein für Russland, das zu viel gelitten. Uns tut das Opfer nicht leid, wir bringen es gern." Und sie brachten es.

Die Arbeiterpetition stellte nicht nur der verschwommenen Phraseologie der liberalen Resolutionen die scharf geprägten Schlagworte der politischen Demokratie gegenüber. Sondern sie füllte sie auch mit einem Klasseninhalt, indem sie Streikfreiheit und den Achtstundentag forderte. Ihre historische Bedeutung liegt jedoch nicht in ihrem Inhalt, sondern in der Tatsache selbst. Die Petition war nur die Einleitung zu einer Aktion, die die Arbeitermassen um die Fantasiegestalt einer Idealmonarchie vereinigte, sie vereinigte, um gleich darauf das Proletariat und die reale Monarchie als zwei Todfeinde einander gegenüberzustellen.

Der Gang der Ereignisse ist in aller Erinnerung. Im Laufe weniger Tage entwickelten sie sich mit einer merkwürdigen Planmäßigkeit. Arn 16. Januar loderte in der Putilowfabrik ein Streik auf, am 20. Januar umfasste er 140.000 Streikende. Der Kulminationspunkt des Streiks war der 23. Januar. Am 26. begann man schon die Arbeit wieder aufzunehmen. Also: zuerst kommt ein ökonomischer Streik wegen einer zufälligen Veranlassung. Der Streik breitet sich aus, erfasst Zehntausende von Arbeitern und verwandelt sich eben dadurch in ein politisches Ereignis. Er wird geleitet vom „Verein der Fabrik- und Werkstättenarbeiter“, einer Organisation von polizeilicher Herkunft. Die Radikalen, deren Politik der Bankette in eine Sackgasse geraten ist, brennen vor Ungeduld. Sie sind mit dem rein ökonomischen Charakter des Streiks unzufrieden und schieben ihren Führer Gapon vorwärts. Er betritt den Weg der Politik – und findet in den Arbeitermassen einen ganzen Abgrund von Unzufriedenheit, Wut und revolutionärer Energie, in denen die kleinen Pläne seiner liberalen Inspiratoren ganz und gar versinken. Die Sozialdemokratie tritt auf den Plan. Man begegnet ihr feindselig, aber sie passt sich bald der gegebenen Situation an und bemächtigt sich ihrer. Ihre Losungsworte werden von der Masse aufgegriffen und in der Petition festgenagelt.

Die Regierung verschwindet. Aus welcher Ursache? Ist es hinterlistige Provokation? Oder ist es erbärmliche Verlegenheit? Es ist beides. Die Bürokraten à la Swjatopolk wissen in ihrer Dummheit nicht ein noch aus. Die Clique Trepows, die sich beeilt hatte, dem „Frühling" ein Ende zu machen und die daher der Metzelei bewusst entgegenging, ließ die Ereignisse sich bis zu ihrem logischen Ende entwickeln. Der Telegraph berichtete der ganzen Welt mit voller Freiheit von jeder Etappe des Januarstreiks. Ein Pariser Hausmeister wusste es schon drei Tage vorher, dass in Petersburg am Sonntag den 22. Januar, um 2 Uhr mittags, Revolution sein werde. Die Regierung aber rührte keinen Finger, um dem Gemetzel vorzubeugen.

In elf Abteilungen des Arbeiter-„Vereins" fanden ununterbrochen Meetings statt. Die Petition wurde ausgearbeitet und es wurde über den Plan des Zuges zu dem kaiserlichen Palast beraten. Gapon fuhr von einer Abteilung zur anderen, die sozialdemokratischen Agitatoren wurden heiser und fielen um vor Müdigkeit. Die Polizei mischte sich nirgends ein. Sie existierte gar nicht.

Der Verabredung gemäß marschierte man ruhig, ohne Lieder, ohne Fahnen, ohne Reden. Man hatte Feiertagskleider angezogen. In einigen Teilen der Stadt trug man Heiligenbilder und Kreuze. Überall stieß man auf Soldaten. Man flehte um Durchlass, man weinte, man versuchte, die Soldatenabteilungen zu umgehen, man wollte die Reihen durchbrechen. Die Soldaten schossen in die Menge, schossen ununterbrochen den ganzen Tag Die Toten werden nach Hunderten gezählt, die Verwundeten nach Tausenden. Eine genaue Zählung war unmöglich, weil die Polizei die Leichen in der Nacht wegführte und heimlich verscharrte.

Um 12 Uhr nachts am 22. Januar schrieb Georgius Gapon: „Den Soldaten und Offizieren, die ihre unschuldigen Brüder, deren Frauen und Kinder töten, allen Bedrückern des Volkes – mein priesterlicher Fluch! Den Soldaten, die dem Volke helfen werden, die Freiheit zu erkämpfen, mein Segen! Ihren Soldateneid, geschworen dem verräterischen Zaren, der befohlen hat, unschuldiges Blut zu vergießen, löse ich …" Die Geschichte hat den phantastischen Plan Gapons für ihre Zwecke benutzt – und Gapon brauchte nur kraft seiner priesterlichen Autorität deren revolutionäres Ergebnis zu sanktionieren.

Am 24. Januar beantragte der damals machtlose Witte in der Sitzung des Ministerkomitees, „die Vorgänge des 22. Januar zu besprechen und über Maßnahmen zu beraten, um in der Zukunft so traurige Erscheinungen zu vermeiden". Der Antrag Wittes wurde abgelehnt, als „nicht in die Kompetenz des Komitees gehörend und nicht auf der Tagesordnung der gegenwärtigen Sitzung stehend". Das Ministerkomitee ging an dem Beginne der russischen Revolution vorüber, weil die russische Revolution … nicht aus der Tagesordnung ihrer Sitzung vermerkt war …

II.

Die Form, die der historisch gewordene 22. Januar angenommen hatte, konnte selbstverständlich von niemandem vorhergesehen werden. Der Geistliche den die Geschichte auf so unerwartete Weise für einige Tage an die Spitze der Arbeiterklasse stellte, prägte den Ereignissen den Stempel seiner Persönlichkeit auf, seiner Ansichten, seiner Priesterwürde. Diese Form verhüllte den Augen vieler den wahren Gehalt der Ereignisse. Aber der innere Sinn des 22. Januar wird durch die Symbolik des Zuges zum Winterpalais nicht erschöpft. Das Priestergewand Gapons ist nur ein Nebenumstand. Die handelnde Person ist das Proletariat. Es macht den Anfang mit einem Streik, vereinigt sich, schiebt politische Forderungen in den Vordergrund zieht auf die Straße, gewinnt sich die Sympathien der gesamten Bevölkerung, stößt mit Soldatenabteilungen zusammen und eröffnet die russische Revolution. Gapon hat die revolutionäre Energie der Petersburger Arbeiter nicht geschaffen – er hat sie nur, für ihn selbst unerwartet, zur Entladung gebracht.

Der Sohn eines Geistlichen, Seminarist, Theologiestudent, Gefängnispriester, Agitator bei den Arbeitern mit öffentlicher Zustimmung der Polizei stand plötzlich an der Spitze einer nach Hunderttausenden zählenden Menge. Seine offizielle Position, sein Priestergewand, die elementare Erregung der in sich unklaren Massen und der fabelhaft rasche Verlauf der Ereignisse hatten Gapon zum „Führer" gemacht. Ein Phantast auf dem psychologischen Untergrunde der Abenteuerlust, ein Südländer und Sanguiniker mit einer Andeutung von Verschmitztheit, ein völliger Ignorant in sozialen Problemen, war Gapon ebenso wenig imstande die Vorgänge zu leiten, als ihren Verlauf vorauszusehen. Die Ereignisse zogen ihn mit sich fort.

Die liberale Gesellschaft hat lange Zeit geglaubt, dass in Gapons Persönlichkeit das ganze Geheimnis des 22. Januar liege. Man stellte ihn der Sozialdemokratie, der Sekte von Doktrinären, als einen politischen Führer gegenüber, der das Geheimnis der Beherrschung der Masse kenne. Man vergaß dabei, dass es einen 22. Januar nicht gegeben hätte, wenn Gapon nicht einige Tausend aufgeklärte Arbeiter vorgefunden haben wurde, die durch die sozialistische Schule gegangen waren. Sie umgaben ihn wie ein eiserner Ring, aus dem er sich nicht mehr herausarbeiten konnte, auch wenn er es gewollt hätte. Er versuchte es gar nicht. Hypnotisiert durch seinen eigenen Erfolg, ließ er sich von der Strömung tragen.

Wenn wir aber schon am Tage nach dem blutigen Sonntag der politischen Rolle Gapons einen ganz untergeordneten Platz zugewiesen haben, so haben wir doch alle zweifelsohne seine Persönlichkeit noch überschätzt. In der Aureole des priesterlichen Zornes, mit den Priesterflüchen auf den Lippen, erschien er von weitem fast wie eine Gestalt aus der Bibel. Mächtige revolutionäre Leidenschaft schien in der Brust des jungen Geistlichen des Transportgefängnisses erwacht zu sein. Und siehe da! Als die Flammen erloschen, da erschien Gapon allen als eine politische und moralische Null.

Sein Posieren vor dem sozialistischen Europa, seine schonungslos „revolutionären", naiven und groben Briefe aus dem Auslande, seine Ankunft in Russland, die geheimen Beziehungen zur Regierung, die Silberlinge des Grafen Witte, seine pretenziösen und sinnlosen Unterredungen mit den Mitarbeitern konservativer Blätter, die lärmende Prahlsucht und endlich der erbärmliche Verrat, der die Ursache seines Unterganges wurde, – alles das ertötete völlig die Vorstellung von dem Gapon des 22. Januar. Unwillkürlich fallen uns die scharfsinnigen Worte Viktor Adlers, des Führers der österreichischen Sozialdemokratie ein, der nach Empfang des ersten Telegramms von der Ankunft Gapons im Auslande sagte: „Schade…, für sein historisches Andenken wäre es besser gewesen, wenn er ebenso geheimnisvoll verschwunden wäre wie er aufgetaucht ist. Es wäre eine schöne, romantische Sage zurückgeblieben von einem Priester, der die Schleusen der russischen Revolution geöffnet hat … Es gibt Menschen", fügte er mit jener feinen Ironie hinzu, die für diesen Mann so bezeichnend ist, „es gibt Menschen, die man lieber als Märtyrer hat, denn zu Parteigenossen …“

III.

Es gibt noch kein revolutionäres Volk in Russland", so schrieb Peter Struwe in seinem ausländischen Organ „Oswoboschdenije" am 7./20. Januar 1905 gerade zwei Tage vor dem von den Garderegimentern niedergewürgten Aufmarsch der Petersburger Arbeiter.

,,Es gibt kein revolutionäres Volk in Russland", so sprach aus dem Munde eines sozialistischen Renegaten der russische Liberalismus, der während einer dreimonatlichen Bankettperiode selbst die Überzeugung gewonnen hatte, dass er die Hauptfigur auf der politischen Bühne sei. Und noch hatte diese Erklärung Russland nicht erreicht, als der Telegraphendraht der Welt Kunde brachte vom Beginne der russischen Revolution.

Wir hatten sie erwartet, wir hatten nicht an ihr gezweifelt. Sie war für uns nur der Schlußsatz unserer „Doktrin", die die Ignoranten aller politischen Schattierungen verspotteten. Sie glaubten nicht an die revolutionäre Rolle des Proletariats, dafür aber glaubten sie an die Macht der Semstwo-Petitionen, an Witte, an Swjatopolk-Mirski, an die Dynamitbüchse … Es gab kein politisches Vorurteil, an das sie nicht geglaubt hätten. Nur den Glauben an das Proletariat hielten sie für ein Vorurteil.

Nicht nur Struwe allein, sondern auch jene ganze „gebildete Gesellschaft", in deren Dienst er übergetreten war, wurde von den Ereignissen überrascht. Mit vor Schreck und Ohnmacht weit geöffneten Augen beobachtete sie von den Fenstern aus das sich aufrollende historische Drama. Die Einmischung der Intelligenz in die Vorgänge trug einen wahrhaft erbärmlichen und nichtigen Charakter. Eine Deputation von Literaten und Professoren begab sich zu dem Fürsten Swjatopolk-Mirski und zum Grafen Witte – „mit der Hoffnung", wie die liberale Presse erklärte, „die Frage so zu beleuchten dass es möglich sein würde, die Anwendung militärischer Gewalt zu vermeiden." Ein Berg bewegte sich gegen den anderen und das Häuflein von Demokraten glaubte, dass es genüge, bei zwei Ministern zu antichambrieren, um das Unabwendbare abzuwenden. Swjatopolk empfing die Deputation nicht, Witte zuckte hilflos die Achseln. Und um gleichsam mit Shakespearischer Freiheit etwas von einer Farce in die größte Tragödie hineinzubringen, erklärte die Polizei die armselige Deputation für eine „provirorische Regierung" und beförderte sie in die Peter-Paul-Festung.

Aber selbst in dem politischen Bewusstsein der Intelligenz, in diesem formlosen Nebelfleck, haben die Januartage eine scharfe Grenzlinie gezogen. Für eine unbestimmte Zeit hinaus haben sie unseren traditionellen Liberalismus mit seinern einzigen Eigentum: dem Glauben an den glückbringenden Wechsel der Personen in der Regierung, – zum alten Eisen gelegt. Das törichte Regiment des Swjatopolk-Mirski war für diesen Liberalismus eine Epoche der höchsten Blüte, der Reform-Ukas vom 25. Dezember – seine reifste Frucht. Aber der 22. Januar fegte den „Frühling" hinweg und stellte die militärische Diktatur an seine Stelle. Er verschaffte dem unvergeßlichen Generat Trepow, den die liberale Opposition von seinem Posten eines Polizeimeisters von Moskau herabgestoßen hatte, die oberste Gewalt.

Gleichzeitig wurde die Trennung zwischen der Demokratie und der Zensus-Opposition in der liberalen Gesellschaft eine schärfere. Das Hervortreten der Arbeiter gab den radikalen Elementen der Intelligenz das Übergewicht, wie früher das Auftreten der Semstwomänner den opportunistischen Elementen in die Hände gespielt hatte. Die Frage der politischen Freiheit trat in das Bewusstsein des linken Flügels der Opposition zum ersten Mal in realer Gestalt als eine Frage des Kampfes, der Übermacht, des Ansturms der schweren Arbeitermassen. Und zugleich erwies sich das revolutionäre Proletariat, die „politische Fiktion" von gestern, heute als eine mächtige Realität.

Soll jetzt noch", so schrieb die einflussreiche liberale Wochenschrift „Prawo" nach den blutigen Januartagen, „der Gedanke von der politischen Mission des städtischen Proletariats Russlands einem Zweifel unterzogen werden? Diese Frage ist augenscheinlich, wenigstens für den gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick, gelöst – gelöst nicht von uns, sondern von denjenigen Arbeitern, die während der denkwürdigen Januartage, furchtbar durch die blutigen Ereignisse, ihre Namen in das heilige Buch der russischen politischen Bewegung eingetragen haben." Eine Woche liegt zwischen dem Artikel Struwes und diesen Zeilen – und doch trennt sie eine ganze geschichtliche Epoche!

IV.

Der 22. Januar war der Wendepunkt in dem politischen Bewusstsein der kapitalistischen Bourgeoisie.

Wenn in den letzten Jahren vor der Revolution zum großen Missvergnügen des Kapitals eine ganze Schule für Regierungsdemagogie geschaffen worden war, die die Arbeiter zu ökonomischen Konflikten mit den Fabrikanten provozierte, um sie von Konflikten mit der Staatsgewalt abzulenken, so stockte jetzt, nach dem Blutigen Sonntag, der normale Ablauf des industriellen Lebens vollständig. Die Produktion wurde gleichsam stückweise in einer Pause zwischen zwei Ausbrüchen der Unruhe bewerkstelligt. Die wahnsinnigen Profite von den Militärlieferungen fielen nicht der Industrie zu, die eben eine Krise durchmachte, sondern einer kleinen Gruppe von privilegierten räuberischen Monopolisten, und waren nicht imstande, das Kapital mit der stetig wachsenden inneren Anarchie auszusöhnen. Ein Zweig der Industrie nach dem anderen geht zur Opposition über. Börsenvereine, Industriekongresse, sogenannte „Beratungsbüros", das heißt verkappte Syndikate und andere Organisationen des Kapitals, gestern noch politisch unberührt, geben jetzt ihr Misstrauensvotum ab gegen die absolutistisch-polizeiliche Staatsleitung und reden die Sprache des Liberalismus. Der städtische Kaufmann zeigte, dass er in Sachen der Opposition dem „aufgeklärten" Gutsbesitzer nicht nachstehe. Die Stadtverwaltungen schlossen sich nicht nur den Semstwos an, sondern sie stellten sich bisweilen an die Spitze dieser letzteren. Die durchwegs kaufmännische Moskauer Stadtverwaltung rückte zu dieser Zeit in die vorderste Reihe vor.

Der Kampf der verschiedenen Zweige des Kapitals untereinander um Gnadengaben seitens des Finanzministeriums tritt zurück gegenüber dem gemeinsamen Bedürfnisse nach Erneuerung der bürgerlichen und staatlichen Ordnung. An die Stelle der einfachen Ideen: Konzessionen und Subsidien - oder auch neben sie treten kompliziertere Ideen: Entwicklung der Produktionskräfte und Erweiterung des inneren Marktes.

Neben diesen Leitgedanken zieht durch alle die Petitionen, Schreiben und Resolutionen der organisierten Unternehmer die bohrende Sorge um die Pazifizierung der Arbeiter und Bauern. Das Kapital hat den Glauben an die alles heilende Wirkung der polizeilichen Repressalien verloren, die auf der einen Seite den Arbeiter an seinem lebendigen Leibe treffen, auf der anderen aber den Industriellen an seiner Tasche, und ist nun zu dem feierlichen Schlusse gelangt, dass der friedliche Verlauf der kapitalistischen Ausbeutung ein liberales Regime erfordert.

Auch Du, Brutus!" schluchzt die reaktionäre Presse, als sie sehen muss, wie die Moskauer altgläubigen Kaufleute, die Hüter der guten, alten Sitte, ihre Hände an die konstitutionellen „Plattformen" legen. Aber dieses Schluchzen hält einstweilen den Textil-Brutus nicht zurück. Er muss seine politische Bahn durchlaufen, um zu Ende des Jahres, in dem Augenblicke, wo die proletarische Bewegung den Zenit erreicht haben wird, in den Schutz der durch die Jahrhunderte geheiligten, einzigen und unteilbaren Nagaika zurückzukehren.

V.

Aber am bedeutsamsten und tiefsten war der Einfluss des Januargemetzels auf das Proletariat von ganz Russland. Von einem Ende bis zum anderen ging eine grandiose Streikwoge über das Land, seinen ganzen Körper erschütternd. Nach ungefährer Schätzung umfasste der Streik 122 Städte und Dörfer, einige Bergwerke des Donezbassins und 10 Eisenbahnen. Die proletarischen Massen wurden bis in ihre Tiefen aufgewühlt Der Streik zog gegen eine Million Menschen in seinen Bannkreis. Ohne Plan, oft ohne Forderungen, sich immer wieder erneuernd, nur dem Solidaritätsinstinkte gehorchend, beherrschte er fast zwei Monate lang das Land.

Aus dem Höhepunkte des Streiksturmes im Februar 1905 schrieben wir, „Nach dem 22. Januar kennt die Revolution kein Halt mehr. Sie beschränkt sich nun nicht mehr auf die unterirdische, den Blicken verborgene Arbeit der Erweckung immer neuer und neuer Schichten, sie ist dazu übergegangen, offen und rasch Reveille zu schlagen für ihre Fähnlein, Regimenter, Bataillone und Korps. Die Hauptmacht ihrer Armee bildet das Proletariat, daher ist der Streik ihre Trommel.

Eine Branche nach der anderen, eine Fabrik nach der anderen legen die Arbeit nieder. Das Eisenbahnpersonal tritt auf als der erste Schütze des Streiks, die Eisenbahnlinien sind die Verbreitungswege der Streikepidemie. Ökonomische Forderungen werden aufgestellt, die fast sofort erfüllt werden, – ganz oder teilweise. Aber weder der Beginn des Streiks, noch sein Ende werden voll und ganz durch den Charakter der aufgestellten Forderungen und die Form ihrer Befriedigung bedingt. Der Streik beginnt nicht deswegen, weil der ökonomische Kampf sich in bestimmte Forderungen festgerannt hat, – umgekehrt: die Forderungen werden gewählt und formuliert, weil man den Streik braucht. Man muss sich selbst, dem Proletariate an anderen Orten, endlich dem gesamten Volke seine angehäuften Kräfte, seine Klassensympathien, seine Kampfbereitschaft zeigen, – eine allgemeine revolutionäre Zählung ist notwendig. Die Ausständigen selbst, diejenigen, die sie unterstützen, diejenigen, die mit ihnen sympathisieren, jene, die sie fürchten, die sie hassen, – alle begreifen oder fühlen es unklar, dass dieser wütende Streik, der von Ort zu Ort stürmt, stehen bleibt, sich im Kreise dreht, bald einen Ort verlässt, bald diesen wieder heimsucht, dann aufs Neue wieder fortgerissen wie ein Wirbelwind vorwärts stürmt, – alle begreifen oder fühlen es, dass er nicht aus eigener Kraft da in, dass er nur den Willen der Revolution vollzieht, die ihn gesendet. Über dem Operationsfelde des Streiks – und das ist das ganze Land – schwebt etwas Furchtbares, Unheilkündendes, von Kühnheit Durchtränktes.

Nach dem 22. Januar kennt die Revolution kein Halt mehr. Ohne sich um das Kriegsgeheimnis zu kümmern, offen und laut, die Routine des Lebens verhöhnend, ihre Suggestion verjagend, führt sie uns zu ihrem Höhepunkt."

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