Der 31. Oktober

Der 31. Oktober

Der 31. Oktober war ein Tag großer Verwirrung. Ungeheure Menschenmassen bewegten sich unruhig in den Straßen Petersburgs. Die Konstitution ist verliehen worden. Was nun? Was darf man, was darf man nicht? Während dieser Tage des Hängens und Bangens wohnte ich bei einem meiner Freunde, der im Staatsdienste stand. Am Morgen des 31. Oktober kam er mir entgegen mit einer Nummer des Regierungsanzeigers in der Hand. Ein Lächeln freudiger Erregung, gegen die der gewohnte Skeptizismus ankämpfte, spielte auf seinem klugen Gesichte.

Ein Konstitutions-Manifest ist erlassen!"

Unmöglich!"

Lesen Sie."

Wir begannen laut zu lesen. Erst die Betrübnis des Vaterherzens wegen der Verwirrung, dann die Beteuerung, dass „der Kummer des Volkes unser Kummer" sei, endlich das kategorische Versprechen aller Freiheiten, der gesetzgebenden Rechte der Duma und der Erweiterung des Wahlgesetzes.

Wir sahen einander schweigend an. Es war schwer die einander widersprechenden Gedanken und Gefühle auszudrücken, die das Manifest hervorgerufen hatte. Versammlungsfreiheit, Unantastbarkeit der Person, Kontrolle der Verwaltung … gewiss, das sind nur Worte. Aber das sind ja nicht die Worte einer liberalen Resolution, es sind die Worte eines kaiserlichen Manifestes. Nikolaus Romanow, der allerhöchste Patron der Pogrombanden, der Telemach Trepows ist nun der Urheber dieser Zeilen! Und dieses Wunder hat der Generalstreik bewirkt. Als die Liberalen vor elf Jahren das bescheidene Ansuchen stellten, „Annäherung des selbstherrschenden Monarchen an das Volk", da nahm sie der gekrönte Kadett „für ihre sinnlosen Träume" wie kleine Jungen bei den Ohren. Das war sein eigenes Wort! Und nun griff er an den Hut vor dem streikenden Proletariat.

Was sagen Sie dazu?" fragte ich meinen Freund.

Die Narren haben Angst gekriegt!" erwiderte er.

Das war eine in ihrer Art klassische Antwort. Wir lasen dann den alleruntertänigsten Bericht Wittes mit der Randnote des Zaren: „zur Richtschnur zu nehmen".

Sie haben Recht", sagte ich, „die Narren haben wirklich Angst."

Fünf Minuten später war ich auf der Straße. Die erste Gestalt, die mir dort begegnete, war ein Student, atemlos, mit der Mütze in der Hand; ein Parteigenosse. Er erkannte mich und stürzte auf mich zu:

In der Nacht hat das Militär auf das Polytechnische Institut geschossen … es heißt, man habe von dort aus eine Bombe gegen sie geworfen … offenbar Provokation … Soeben hat eine Patrouille mit blanken Säbeln eine kleine Versammlung auf dem Sabalkansky-Prospekt auseinandergejagt. Professor Lurie, der als Redner auftrat, ist durch einen Säbelhieb verwundet… Er soll gestorben sein."

So … Nicht übel für den Anfang."

Überall irren Volkshaufen umher. Man wartet auf Redner. Ich eile eben in eine Versammlung unserer Parteiagitatoren. Worüber soll man sprechen? Das Hauptthema ist ja jetzt die Amnestie?"

Von der Amnestie werden alle sprechen, auch ohne uns. Fordert die Entfernung des Militärs aus Petersburg. Kein Soldat auf fünfundzwanzig Werst im Umkreise! – das ist Losung und Parole!"

Der Student rannte weiter, die Mütze schwingend. Eine Patrouille zu Pferde ritt an mir vorüber. Trepow sitzt noch fest im Sattel. Die Beschießung des Institutes ist sein Kommentar zum Manifest. Diese wackeren Leute haben die Vernichtung der konstitutionellen Illusionen sofort in Angriff genommen.

Ich ging am Polytechnischen Institut vorüber. Es war geschlossen wie zuvor und wurde von Soldaten bewacht. An der Wand hing das alte Versprechen Trepows: „Keine Patronen zu sparen". Gleich daneben hatte jemand das Manifest des Zaren befestigt. Auf den Trottoirs drängten sich kleinere Ansammlungen von Menschen.

Geht zur Universität!" rief eine Stimme, „dort wird man Reden halten."

Ich begab mich mit den anderen dorthin. Man ging lautlos und rasch. Die Menge wuchs von Minute zu Minute. Es war keine Freude zu bemerken – nur Unsicherheit und Unruhe … Patrouillen waren nicht mehr zu sehen. Die vereinzelten Wachleute gingen der Menge schüchtern aus dem Wege. Die Straßen waren mit dreifarbigen Fahnen geschmückt.

Aha, der Herodes", sagte irgend ein Arbeiter laut – „jetzt hat er wohl den Schwanz eingezogen …" Man antwortete ihm mit einem beifälligen Lachen. Die Stimmung hob sich. Ein halbwüchsiger Bursche nahm von einem Tore die dreifarbige Fahne zusammen mit dem Fahnenstock herunter, riss den blauen und den weißen Streifen ab und hob den roten Rest der nationalen Fahne hoch über die Menge empor. Er fand Dutzende von Nachahmern. Weiße und blaue Fetzen lagen überall herum, die Menge trat sie mit Füßen … Wir gingen über die Brücke und schritten auf die Wassily-Insel zu. Ein ungeheurer Trichter hatte sich am Quai gebildet, in den die unabsehbare Menschenflut ungeduldig hineinströmte. Alles bemühte sich, an den Balkon heranzukommen, von dem herab die Redner sprechen sollten. Der Balkon, die Fenster und der Giebel der Universität waren mit roten Fahnen geschmückt. Mit Mühe gelangte ich in das Innere des Gebäudes. Ich kam als dritter oder vierter zum Worte. Ein wunderbarer, unvergesslicher Anblick bot sich vom Balkon aus. Die Straße war dichtgedrängt voll Menschen. Die blauen Studentenmützen und die roten Fahnen belebten wie grelle Flecke das Bild der nach Hunderttausenden zählenden Menge. Völlige Stille herrschte, alles wollte die Redner hören.

Bürger!" rief ich, und meine eigene Stimme erschien mir fern und fremd, „jetzt, wo wir der herrschenden Clique den Fuß auf den Nacken gesetzt haben, verspricht man uns Freiheit. Wahlrecht, gesetzgebende Gewalt verspricht man uns. Wer verspricht das? Nikolaus der Zweite. Tut er dies? Aus freiem Willen, von reinem Herzen? Niemand wird das behaupten wollen. Er hat seine Regierung damit begonnen, dass er den wackeren „Phanogoräern"* für die Ermordung der Arbeiter von Jaroslawl dankte, – und über Leichen und immer wieder über Leichen gelangte er zum Blutigen Sonntag des 22. Januar. Und diesen unermüdlichen Henker auf dem Throne haben wir nun gezwungen, uns Freiheit zu versprechen. Welch ein großer Triumph. Aber eilt nicht den Sieg zu feiern: noch ist er nicht vollständig. Wiegt denn das Zahlungsversprechen ebenso viel wie reines Gold? Ist denn das Freiheitsversprechen dasselbe wie die Freiheit selbst? Wer von euch den Versprechungen des Zaren glaubt, möge dies laut bekennen: wir alle würden uns freuen, einen solchen Menschen kennen zu lernen. Blickt um euch, Bürger: Hat sich seit dem gestrigen Tage etwas geändert? Haben sich die Pforten unserer Gefängnisse aufgetan? Beherrscht die Peter-Pauls-Festung nicht die Residenz? Hört ihr nicht wie zuvor das Stöhnen und Zähneknirschen hinter ihren verfluchten Mauern? Sind unsere Brüder aus den Einöden Sibiriens zu ihrem häuslichen Herde zurückgekehrt? …"

Amnestie! Amnestie! Amnestie!" schrie man von unten herauf.

„ …Wenn die Regierung ehrlich entschlossen wäre, mit dem Volke Frieden zu schließen, sie hätte sie vor allen Dingen die Amnestie gewährt. Aber, Bürger, ist denn die Amnestie alles? Heute wird man Hunderte Von politischen Kämpfern freilassen, morgen wird man Tausende anderer gefangen nehmen, hängt denn nicht neben dem Freiheitsmanifest der Patronenbefehl? Hat man nicht in dieser Nacht auf das Polytechnische Institut geschossen? Wurde nicht heute auf das Volk eingehauen, das friedlich dem Redner zuhörte? Ist nicht der Henker Trepow der unumschränkte Herr Petersburgs?"

Nieder mit Trepow!" rief man unten.

Nieder mit Trepow! – aber ist er denn allein? Hat die Bürokratie nicht genug andere Schufte, ihn zu ersetzen? Trepow beherrscht uns mit Hilfe der Armee. Die Gardisten, besudelt mit dem Blute des 22. Januar – sind seine Macht und seine Stütze. Sie sind es, denen er befiehlt, nicht mit Patronen zu sparen für eure Leiber, für eure Köpfe. Wir können, wir wollen und wir sollen nicht unter den Flintenläufen leben. Bürger! Unsere Forderung sei: die Entfernung der Truppen aus Petersburg! 25 Werft im Umkreise soll kein einziger Soldat bleiben! Die freien Bürger werden selbst die Ordnung wahren. Niemand wird unter Willkür und Gewalt zu leiden haben. Das Volk wird alle unter seinen Schutz nehmen."

Fort mit den Truppen aus Petersburg!"

„… Bürger! Unsere Kraft ist in uns selbst. Mit dem Schwerte in der Hand müssen wir die Freiheit verteidigen. Das Manifest des Zaren aber – sehet, es ist nur ein einfaches Blatt Papier. Hier ist es vor euch, und nun ist es zerknittert in meiner Faust. Heute hat man es gegeben und morgen wird man es wieder nehmen und in Stücke reißen, so wie ich jetzt diese papierne Freiheit vor euren Augen in Stücke reiße!"

Es sprachen noch zwei oder drei Redner. Alle schlossen mit der Anforderung, sich um 4 Uhr auf dem Newski, bei der Kasankathedrale, zu versammeln und von dort aus zu den Gefängnissen zu marschieren – mit der Forderung der Amnestie.

* Benennung eines Kosakenregiments.

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