Der Prozess des Arbeiterdelegiertenrates

Der Prozess des Arbeiterdelegiertenrates

Am 16. Dezember beginnt die Ära der konterrevolutionären Hochflut mit der Verhaftung des Arbeiterdelegiertenrates Der Dezemberstreik in Petersburg, sowie die übrigen Aufstände in den verschiedenen Teilen des Landes während dieses Monats waren heldenhafte Anstrengungen der Revolution, alle diejenigen Positionen zu behaupten, die sie im Oktober erobert hatte. Die Führung der Petersburger Arbeiter übernahm zu dieser Zeit der Zweite Rat, der sich aus den Überresten des ersten, sowie aus neugewählten Delegierten zusammensetzte. Gegen dreihundert Mitglieder des ersten Delegiertenrates waren verhaftet und in drei Petersburger Gefängnissen verteilt. Ihr ferneres Schicksal war eine Zeitlang nicht nur für sie selbst, sondern auch für die am Ruder befindliche Bürokratie ein Rätsel. Der Justizminister leugnete, wie die unterrichtete Presse behauptete, entschieden die Möglichkeit, die Arbeiterdelegierten vor ein Gericht zu stellen. Wenn ihre völlig offene Tätigkeit verbrecherisch war, so war, seiner Meinung nach, auch die Rolle der höchsten Verwaltungsinstanz, die den Delegiertenrat nicht nur zuließ, sondern sogar in direkte Beziehungen zu ihm trat, nichts als Verbrechen. Die Minister diskutierten, die Gendarmen leiteten das Verhör und die Delegierten saßen in ihren Einzelzellen. Zur Zeit der Strafexpeditionen im Laufe des Dezember und Januar hatte man allen Grund, anzunehmen, dass der Delegiertenrat in die Schlinge des Kriegsgerichts geraten würde. Ende April, in den ersten Tagen der ersten Duma, erwarteten die Arbeiterdelegierten, wie das ganze Land, eine Amnestie. So schwankte das Schicksal der Mitglieder zwischen Todesstrafe und völliger Straflosigkeit Endlich trat die Entscheidung ein. Das Duma- oder richtiger das Antidumaministerium des Goremykin übertrug die Angelegenheit des Delegiertenrates der Kammer des Gerichts zur Beurteilung mit der Anweisung, dass sich die Ständevertreter daran beteiligen sollten.A Der Anklageakt in Sachen des Delegiertenrates, dieses elende Produkt, das in gemeinsamer juristischer Tätigkeit von Gendarmen und Staatsanwälten zusammengebraut wurde, ist als ein Dokument aus der großen Zeit von Interesse Die Revolution strahlt aus diesem Akt wie die Sonne aus der schmutzigen Lache eines Polizeihofes. Die Mitglieder des Rates wurden wegen Vorbereitung zum bewaffneten Aufstande auf Grund zweier Gesetzesparagraphen angeklagt, wobei sie nach dem einen bis zu acht, nach dem anderen bis zu zwölf Jahren Zwangsarbeit zu gewärtigen hatten. Die juristische Begründung der Anklage, oder richtiger, die absolute Unmöglichkeit einer solchen, hat der Verfasser in einem kleinen ReferatB dargelegt, das er noch während seiner Untersuchungshaft der Sozialdemokratischen Fraktion der ersten Duma zwecks einer Interpellation wegen des Prozesses gegen den Delegiertenrat zur Verfügung gestellt hat. Die Interpellation kam nicht zustande, da die erste Duma auseinandergejagt und die sozialdemokratische Fraktion selbst eines schönen Tags unter Anklage gesteht wurde.

Die Gerichtsverhandlung war für den 3. Juli bei offenen Türen – anberaumt worden. Eine Sturzwelle von Protestmeetings ergoss sich über alle Werkstätten und Fabriken von Petersburg.

Wenn die Staatsanwaltschaft es versucht hat, das Exekutivkomitee des Delegiertenrates als eine Gruppe von Geheimbündlern darzustellen, die der Masse ihr fremde Beschlüsse aufoktroyieren wollten, wenn die liberale Presse nach den Dezembertagen tagaus tagein behauptete, dass die „naiv-revolutionären" Methoden des Delegiertenrates schon längst ihren Reiz für die Masse verloren hätten, für die Masse, die das Streben beherrscht, ihr eigenes Leben in das Strombett des neuen, „konstitutionellen" Rechtes zu leiten, – wenn dies behauptet wurde, sage ich, – welch schöne Widerlegung der albernen Verleumdungen der Polizei und der Liberalen waren dann doch die Junimeetings und Resolutionen der Petersburger Arbeiter, die von den Fabriken aus ihren Vertretern den Zuruf der Solidarität ins Gefängnis schickten, die forderten, man möge sie selbst anklagen als die aktiven Teilnehmer an den revolutionären Ereignissen, die erklärten, dass der Delegiertenrat nur der Vollstrecker ihres Willens gewesen sei, die schwuren, dass sie die Arbeit des Rates vollenden würden!

Der Hof beim Gerichtsgebäude sowie die angrenzende Straße waren in ein Militärlager verwandelt worden. Die ganze Polizeimacht von Petersburg war auf den Beinen. Ungeachtet dieser kolossalen Vorbereitung kam die Gerichtsverhandlung nicht zustande. Der Vorsitzende der Kammer des Gerichts fand einige formalistische Gründe, um die Verhandlung gegen den Wunsch der Staatsanwaltschaft sowohl, als gegen den der Verteidiger, ja sogar gegen den Willen des Ministeriums, wie sich später herausstellte, auf drei Monate, das heißt bis zum 2. Oktober, zu vertagen. Das war ein seiner politischer Schachzug. Ende Juni war die Situation voll „unbegrenzter Möglichkeiten": ein Kadettenministerium war jetzt ebenso wahrscheinlich wie die Restauration des Absolutismus. Eine Prozessführung, wie die gegen den Delegiertenrat beabsichtigte, war aber nur möglich aus dem Boden einer völlig sicheren Politik, darum blieb dem Vorsitzenden tatsächlich gar nichts weiter übrig, als der Geschichte weitere drei Monate Bedenkzeit zu lassen, aber ach, dieser diplomatische Cunctator musste bereits nach wenigen Tagen seinen Posten verlassen!

In den Katakomben Peterhofs war man über die kommende Politik nicht im Zweifel, ein selbst in Russland nicht alltäglicher skrupelloser Absolutismus gewann bald die Oberhand und forderte schonungsloseste Entschlossenheit.

Die Gerichtsverhandlung wurde am 2. Oktober unter einem neuen Vorstehenden begonnen und dauerte einen ganzen Monat, – es war der brennendste Zeitpunkt des ersten Duma-Interregnums, es waren die Flitterwochen der Feldgerichte. Nichtsdestoweniger wurde die gerichtliche Untersuchung, wenn nicht in allem so doch in einer ganzen Reihe von Fragen, mit einer Freiheit geführt, die ganz unbegreiflich gewesen wäre, hätte man nicht die Sprungfeder einer bürokratischen Intrige dahinter spüren können. Das Ministerium Stolypin wehrte offenbar die Attacken des Grafen Witte ab. Es war eine fehlerlose Rechnung. Je mehr der Prozess um sich griff, um so deutlicher zeigte er die Demütigung der Regierung zu Ende des Jahres 1905. Die Toleranz Wittes, seine Intrigen nach zwei Seiten, seine heuchlerischen Beteuerungen in Peterhof, seine derbe Kriecherei vor der Revolution, – das war es, was die höheren bürokratischen Sphären aus dem Prozesse gegen den Delegiertenrat ans Licht ziehen wollten. Den Angeklagten blieb nichts anderes übrig, als die günstige Situation zu politischen Zwecken auszunützen und den Rahmen des Protestes so weit als möglich zu gestalten.

Es waren gegen 400 Zeugen aufgerufen worden, von denen mehr als 200 erschienen und Aussagen machten.C Arbeiter, Fabrikanten, Gendarmen, Ingenieure, Bedienstete, Bürger, Journalisten, Post- und Telegraphenbeamte, Polizeimeister, Gymnasiasten, Gemeinderäte, Hausdiener, Senatoren, Hooligans, Abgeordnete, Professoren und Soldaten defilierten im Laufe eines Monats an dem Gerichtshofe vorüber unter einem Kreuzfeuer von Fragen seitens des Gerichts, des Staatsanwalts, der Verteidiger und der Angeklagten – besonders der letzteren. So reproduzierten sie Strich um Strich, Linie um Linie die an Ereignissen so reiche Epoche der Wirksamkeit des Arbeiterrates.

Der Generalstreik im Monat Oktober, der die Bulyginsche Duma begraben hatte, zog an dem Gerichte vorüber, die Streikmanifestation im Monat November in Petersburg, dieser vornehme und großartige Protest des Proletariats gegen das Militärgericht, das die Kronstädter Matrosen verurteilt hatte, dann der heldenhafte Kampf der Petersburger Arbeiter für den Achtstundentag, endlich der von dem Arbeiterdelegiertenrate geleitete Ausstand der Post- und Telegraphensklaven. … Die Protokolle der Sitzungen des Rates und des Exekutivkomitees, die zum ersten Mal bei Gericht veröffentlicht wurden, zeigten dem Lande jene kolossale Werktagsarbeit, die die Vertreter des Proletariats geleistet hatten, indem sie die Arbeitslosenunterstützung organisierten, die Konflikte zwischen Arbeitern und Unternehmern ausglichen, die ununterbrochenen ökonomischen Streiks leiteten.

Das stenographische Protokoll des Prozesses, das einige dicke Bände füllen müsste, ist bis heute nicht veröffentlicht. Nur eine Änderung der politischen Verhältnisse in Russland kann dieses unschätzbare geschichtliche Material freimachen. Ein deutscher Richter oder auch ein deutscher Sozialdemokrat wäre in gleichem Maße erstaunt, hätte er den Verhandlungen im Gerichtssaale beiwohnen können. Übertriebene Strenge verflocht sich in barocker Weise mit völligem Sichgehenlassen und beides charakterisierte in vielseitiger Weise jene erstaunliche Zerfahrenheit, die trotz alledem noch immer in Regierungskreisen herrschte, als Nachwehen des Oktoberstreiks.

Das Gerichtsgebäude wurde in Kriegszustand erklärt und tatsächlich in ein Militärlager verwandelt. Im Hofe, beim Tore, aus den angrenzenden Straßen befanden sich einige Abteilungen Soldaten und Kosaken. Überall, wo man hinsah: längs des ganzen unterirdischen Korridors, der das Gefängnis mit dem Gerichtsgebäude verbindet, in allen Räumen des Gerichtsgebäudes, hinter den Rücken der Angeklagten, in allen Aborten, wahrscheinlich auch im Schornstein, waren Gendarmen mit blanken Säbeln. Sie sollten eine lebende, drohende Mauer bilden zwischen den Angeklagten und der Außenwelt, wozu auch das Publikum gehörte, das man in einer Anzahl von etwa 100 bis 120 Personen in den Sitzungssaal zugelassen hatte. Aber 30 bis 40 schwarze Advokatenfracks durchbrechen jeden Augenblick diese blaue Wand. Auf den Bänken der Angeklagten erscheinen fortwährend Zeitungen, Briefe, Bonbons und Blumen. Blumen ohne Ende! In den Knopflöchern, in den Händen, auf den Knien, endlich auf der Anklagebank selber – Blumen. Und der Vorsitzende hat nicht den Mut, diese duftende Unordnung zu entfernen. Zu guter Letzt überbringen sogar Gendarmerieoffiziere und Gerichtsbeamte, ganz und gar „demoralisiert" von der im Gerichtssaale herrschenden Atmosphäre, den Angeklagten die Blumen vom Publikum.

Nun aber die Arbeiter als Zeugen! Sie drängten sich im Zeugenzimmer zu Dutzenden, und wenn der Gerichtsbeamte die Tür des Gerichtssaales öffnete, da rollte eine Woge eines revolutionären Liedes manchmal bis an den Sessel des Vorsitzenden. Einen wunderbaren Eindruck machten diese Arbeiterzeugen! Sie brachten die revolutionäre Luft der Fabrikvorstädte in den Gerichtssaal und sprengten mit einer so göttlichen Verachtung die mystische Feierlichkeit des gerichtlichen Rituals, dass der Vorsitzende, gelb wie Leder, nur in seiner Ohnmacht die Achseln zucken konnte. Die Zeugen aus der sogenannten guten Gesellschaft aber und die liberalen Journalisten sahen die Arbeiter mit jenem Blicke der Achtung und des Neides an, mit dem die Schwachen die Starken ansehen.

Schon der erste Verhandlungstag war durch eine denkwürdige Demonstration gekennzeichnet. Von den 52 Angeklagten rief der Vorsitzende nur 51 auf. Den Angeklagten Ter-Merkschtjanz erwähnte er nicht.

Wo ist der Angeklagte Ter-Merkschtjanz?" fragte der Rechtsanwalt Sokolow.

Er ist aus der Liste der Angeklagten gestrichen."

Warum?"

Er … er … ist … hingerichtet"

Ja, in der Zeit zwischen dem 3. Juli und dem 2. Oktober war Ter-Merkschtjanz, der gegen Kaution freigelassen worden war, auf dem Walle der Festung Kronstadt als Teilnehmer an der Meuterei hingerichtet worden.

Die Angeklagten, die Zeugen, die Verteidiger, das Publikum, alles erhebt sich von den Plätzen, um das Andenken des Gefallenen zu ehren. Zugteich mit den anderen erheben sich auch die verlegenen Gendarmerie- und Polizeioffiziere.

Die Zeugen wurden in Gruppen von je 20 bis 30 Personen zur Beeidigung hereingeführt. Viele erschienen in Arbeitskleidern. Sie hatten nicht Zeit gehabt, die Hände zu waschen, in denen sie ihre Mützen hielten. Sie warfen einen Blick aus die Richter, dann suchten sie mit den Augen die Bänke der Angeklagten, grüßten energisch zu uns herüber und sagten laut: „Guten Tag, Genossen!" Es sieht so aus, als wären sie in eine Sitzung des Exekutivkomitees gekommen, um sich Instruktionen zu holen. Der Vorsitzende rief Sie rasch hintereinander auf und forderte sie auf, den Eid abzulegen. Der alte Geistliche stand in der Nähe des Kruzifixes und hantierte mit den Werkzeugen seines Gewerbes. Die Zeugen rührten sich nicht. Der Vorsitzende wiederholte seine Aufforderung.

Nein, wir werden nicht schwören! …" antworteten gleichzeitig mehrere Stimmen. „Wir erkennen das nicht an!"

Aber Ihr seid ja rechtgläubig?"

Wir gelten als rechtgläubig in den Polizeilisten, aber wir erkennen das alles nicht an …“

In diesem Falle sind Sie frei, Ehrwürden, wir werden heute ihre Dienste nicht brauchen."

Außer den Polizeibeamten legten vor dem orthodoxen Geistlichen nur die evangelischen und katholischen Arbeiter den Eid ab. Die „rechtgläubigen" Arbeiter verweigerten wie ein Mann die Eidesleistung, indem sie statt deren das Versprechen gaben, die Wahrheit auszusagen.

Dieser Vorgang wiederholte sich in gleicher Weise bei jeder neuen Gruppe. Nur hier und da erzeugte die ungleichartige Zusammensetzung der Zeugengruppen eine neue, unerwartete Kombination.

Diejenigen, die den Eid leisten", wendet sich der Vorsitzende zu einer neuen Gruppe von Zeugen, „mögen an den Geistlichen herantreten, diejenigen, die ihn nicht leisten, mögen zurücktreten!"

Ein kleingewachsener, alter Gendarm, der bei irgend einer Fabrik Dienst dar, sondert sich aus der Gruppe und geht mit flotten Soldatenschritten auf das Kruzifix zu. Die Arbeiter treten geräuschvoll mit den schweren Stiefeln auf and sprechen miteinander. Zwischen ihnen und dem alten Gendarmen bleibt der Zeuge O. stehen, ein bekannter Petersburger Advokat, Hausbesitzer, Liberaler und Gemeinderat

.Schwören Sie, Zeuge O.?" wendet sich der Vorsitzende an ihn.

Ich … ich … schwöre … eigentlich …"

Dann treten Sie an den Priester heran!"

Unentschlossenen Schrittes und mit einem schiefen Gesichte nähert sich der Zeuge dem Kruzifix Er sieht sich um: hinter ihm ist niemand. Vor ihm steht der kleine Alte in der Gendarmenuniform.

Erhebt die Hände zum Schwure!"

Der alte Gendarm erhebt drei Finger hoch über den Kopf. Der Advokat O. erhebt die Hand ein wenig, steht sich um und stutzt.

Zeuge O.", ertönte eine zornige Stimme, „Schwören Sie oder nicht?"

Gewiss, gewiss, ich schwöre." Und der liberale Zeuge ermannte sich und erhob die Hand fast ebenso hoch wie der Gendarm. Gleichzeitig mit diesem wiederholte er die naiven Worte der Eidesformel, die der Geistliche vorsagte. Wenn ein Künstler ein solches Bild gemalt hätte, es wäre zu tendenziös erschienen! Die tiefe soziale Symbolik dieser kleinen Gerichtsszene wurde von allen gleich stark empfunden. Die Arbeiter tauschten ironische Blicke mit den Angeklagten aus, und die Leute aus dem Publikum sahen einander verlegen an. Auf dem Jesuitengesichte des Vorsitzenden war unverhohlene Schadenfreude zu lesen. Gespanntes Schweigen herrschte im Saal

Es wird der Senator Graf Tiefenhausen, ein Petersburger Gemeinderat, vernommen. Er war in der Gemeinderatssitzung zugegen gewesen, in der eine Delegation des Arbeiterrates an die Stadtverwaltung eine Reihe von Forderungen gestellt hatte.

Wie haben Sie, Herr Zeuge", fragt ein Verteidiger, „sich zu der Forderung gestellt, eine bewaffnete Stadtmiliz einzurichten?"

Ich halte diese Frage für nicht zur Sache gehörig", antwortete der Graf.

In dem Rahmen meiner gerichtlichen Untersuchung", erwiderte der Vorsitzende, „ist die Frage des Verteidigers gesetzlich".

In diesem Falle muss ich sagen, dass ich damals der Idee einer Stadtmiliz sympathisch gegenüberstand, aber seit jener Zeit habe ich meine Ansicht in dieser Frage vollständig geändert."

Ach, wie viele von ihnen hatten im Laufe des verflossenen Jahres ihre Ansichten über diese und viele andere Fragen geändert! … Die liberale Presse, die den Angeklagten gegenüber als Persönlichkeiten ihre „vollkommene Sympathie" geäußert hatte, fand nicht scharfe Worte genug, deren Taktik zu tadeln. Die radikalen Zeitungen sprachen mit einem Lächeln des Bedauerns von den revolutionären „Illusionen" des Arbeiterrates. Dafür aber blieben die Arbeiter diesem ohne jeden Vorbehalt treu. Viele Fabriken sandten durch die Zeugen aus ihrer Mitte schriftliche Kundgebungen ins Gericht. Auf dringendes Ersuchen der Angeklagten nahm das Gericht diese Dokumente unter die Prozessakten auf und ließ dieselben während der Sitzung verlesen.

Wir, Arbeiter der Obuchowschen Fabrik", hieß es in einem derselben, das wir aufs Geratewohl herausgreifen, „haben uns davon überzeugt, dass die Regierung ein Gericht voller Willkür über den Arbeiterdelegiertenrat abhalten will und sind tief empört über das Bestreben der Regierung, den Rat als ein Häuflein von Geheimbündlern hinstellen, die Ziele verfolgen, die der Arbeiterklasse fremd sind. Wir, Arbeiter der Obuchowschen Fabrik, erklären, dass der Rat nicht aus einem Häuflein von Geheimbündlern besteht, sondern aus den wahren Vertretern des gesamten Petersburger Proletariats! Wir protestieren gegen die Willkür, die die Regierung gegen den Rat ausübt, indem sie die von uns gewählten Genossen, die alle unsere Forderungen innerhalb des Rates zur Ausführung brachten, anklagt, und erklären der Regierung, dass, insofern unser von uns allen geehrter Genosse P. A. Slydnew schuldig ist, auch wir schuldig sind, was wir durch unsere Unterschriften bestätigen."

An dieser Resolution waren einige Bogen Papier befestigt, die mit mehr als 2000 Unterschriften bedeckt waren. Die Bogen waren schmutzig und zerknittert, sie waren ja durch alle Werkstätten der Fabrik von Hand zu Hand gegangen. Die Obuchowsche Resolution ist bei weitem nicht die schärfste. Es waren auch solche darunter, von deren Verlesung der Vorsitzende Abstand nahm – angesichts ihres „höchst unangemessenen" Tones in Bezug auf das Gericht und die Regierung.

Im Ganzen zählten die Unterschriften auf den dem Gerichte zugestellten Resolutionen nach Zehntausenden. Die Aussagen der Zeugen, von denen viele, nachdem sie kaum den Gerichtssaat verlassen hatten, in die Hände der Polizei fielen, gaben einen ausgezeichneten Kommentar ab für diese Dokumente. Die Verschwörer, die die Staatsanwaltschaft unbedingt brauchte, gingen in der heldenhaft namenlosen Masse völlig unter. Zu guter Letzt war der Staatsanwalt, der seine schmähliche Rolle mit äußerer Korrektheit zu vereinigen wusste, gezwungen, in seiner Anklage zwei Tatsachen zuzugeben: erstens, dass das Proletariat auf einer gewissen Entwicklungsstufe eine „Neigung" zum Sozialismus zeigt; zweitens, dass die Stimmung der Arbeitermassen während der Wirksamkeitsperiode des Delegiertenrates eine revolutionäre gewesen war. Noch einen sehr wichtigen Punkt musste die Staatsanwaltschaft aufgeben. „Die Vorbereitung zum bewaffneten Aufstand" war natürlich die Hauptachse, um die sich die ganzen gerichtlichen Untersuchungen drehten.

Hat der Delegiertenrat zum bewaffneten Aufstand aufgefordert?"

Eigentlich nicht", antworteten die Zeugen. „Der Rat hat bloß die allgemeine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass ein bewaffneter Aufstand unvermeidlich sei."

Der Rat forderte eine Konstituante. Wer hätte sie denn einberufen sollen?"

Das Volk selbst."

.Wie denn?"

Mit Gewalt natürlich. Im Guten erreicht man ja nichts."

Also hat der Rat die Arbeiter für den Aufstand mit Waffen versorgt?"

Nein, für die Selbstverteidigung."

Der Vorsitzende zuckte ironisch die Achseln; aber schließlich zwangen die Aussagen der Zeugen und Angeklagten das Gericht dennoch, sich diesen Widerspruch klarzumachen. Die Arbeiter waren unmittelbar für die Selbstverteidigung bewaffnet worden. Es war aber gleichzog auch eine Bewaffnung zum Zwecke eines Aufstandes – in dem Maße nämlich, als die Regierungsgewalt zum Hauptorgan der Pogrome wurde. Der Erstellung dieser Frage war eine Rede gewidmet, die der Verfasser dieser Zeilen vor dem Gerichte hieltD

Die Angeklagten und die Verteidiger sagten:

Hoher Gerichtshof! Unsere Behauptung, die Organe der Regierungsgewalt hätten bei der Vorbereitung und Organisierung der Pogroms die führende Rolle gehabt, scheinen Sie für unbewiesen zu halten? Sind die Zeugenaussagen, die hier gemacht wurden, vielleicht ungenügend? Haben Sie die Enthüllungen die Fürst Urussow, das ehemalige Mitglied des Ministerrats in der Duma gemacht hat, bereits vergessen? Oder hat Sie der Gendarmeriegeneral Iwanow überzeugt, der hier unter Eid aussagte, dass die Reden über die Pogrome nur ein Vorwand waren für die Bewaffnung der Massen? Haben Sie dem Zeugen Statkowski, dem Beamten der „Abteilung für inneren Schutz" Glauben geschenkt, der unter Eid aussagte, dass er in Petersburg nie eine Pogromflugschrift gesehen habe? Aber sehen Sie nur! Hier ist die beglaubigte Abschrift eines Briefes des früheren Direktors des Polizeidepartements Lopuchin an den Minister des Innern Stolypin.E Auf Grund der Nachforschungen, die er speziell im Auftrage des Grafen Witte angestellt hat, bestätigt Herr Lopuchin, dass die Pogromflugschriften, die der Zeuge Statkowski nie gesehen haben will, in der Druckerei derselben „Abteilung für inneren Schutz" gedruckt wurden, in der Statkowski Beamter ist; dass diese Flugschriften durch die Agenten der Abteilung, sowie durch die Glieder der monarchistischen Parteien in ganz Russland verbreitet wurden; dass zwischen dem Polizeidepartement und den Banden der Schwarzen Hundert eine enge organisatorische Beziehung besteht; dass an der Spitze dieser verbrecherischen Organisation zur Zeit des Delegiertenrates General Trepow gestanden hat, der als Palastkommandant eine ungeheure Macht besaß, persönlich dem Zaren Vortrag hielt über die Tätigkeit der Polizei und über die Köpfe aller Minister hinweg für seine Pogromtätigkeit über ungeheure Summen verfügte.

Und nun noch eine Tatsache, hoher Gerichtshof! Viele Flugblätter der Schwarzen Hundert – Sie haben sie in den Akten der Voruntersuchung – haben die Mitglieder des Arbeiterdelegiertenrates beschuldigt, Arbeitergelder geraubt zu haben. Der Gendarmeriegeneral Iwanow leitete auf Grund dieser Blätter eine besondere, natürlich völlig resultatlose Untersuchung in den Petersburger Fabriken und Werkstätten ein. Wir Revolutionäre sind an solche Methoden seitens der Behörden gewöhnt. Aber selbst wir die wir so weit davon entfernt sind, die Gendarmerie zu idealisieren, selbst wir ahnten es nicht, wie weit diese Institution zu gehen imstande ist. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Flugblätter, die den Arbeiterrat des Raubes von Arbeitergeldern beschuldigten, in eben derselben Gendarmerieverwaltung verfasst und geheim gedruckt wurden, an der General Iwanow beamtet ist Auch diese Tatsache wurde von Herrn Lopuchin bestätigt. Hoher Gerichtshof! Hier ist die Abschrift des Briefes mit der Unterschrift des Autors selbst. Wir fordern, dass dieses kostbare Dokument, ganz wie es ist, hier im Gerichte verlesen werde Wir fordern außerdem, dass der Wirkliche Staatsrat Lopuchin als Zeuge hierher berufen werde."

Diese Erklärung wirkte wie ein Donnerschlag auf das Gericht. Die gerichtliche Untersuchung nahte bereits ihrem Ende und der Vorsitzende führte sich schon nahe dem Hafen nach stürmischer Fahrt, als er sich nun plötzlich wieder ins offene Meer zurückgeworfen sieht. Schon der Brief Lopuchins deutete an, welchen Charakters die geheimnisvollen Rapporte waren, die Trepow dem Zaren erstattete. Das Gericht taumelte in heiliger Scheu vor der Möglichkeit weiterer Enthüllungen zurück. Nach langer Beratung verweigerte es den Angeklagten die Annahme des Briefes und die Heranziehung Lopuchins als Zeugen.

Da erklärten die Angeklagten, dass sie im Gerichtssaale nichts weiter zu tun hätten und verlangten in energischer Weise, in ihre Einzelzellen zurückgebracht zu werden.

Wir wurden fortgeführt. Gleichzeitig entfernten sich auch unsere Verteidiger aus dem Gerichtssaale. In Abwesenheit der Angeklagten der Advokaten und des Publikums hielt der Staatsanwalt seine trockene und korrekte Rede. Bei fast leerem Saale verkündete der Gerichtshof sein Urteil. Die Frage der Beschaffung von Waffen zum Zwecke eines Aufstands wurde verneint. Fünfzehn Angeklagte, darunter der Verfasser dieser Zeilen wurden Zum Verluste aller Bürgerrechte und zu lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien, zwei Angeklagte zu kürzerer Gefängnishaft verurteilt. Die Übrigen wurden freigesprochen.

Der Prozess des Arbeiterdelegiertenrates machte einen ungeheuren Eindruck auf das Land. Man kann mit Sicherheit sagen, dass der Erfolg der Sozialdemokratie bei den Wahlen für die zweite Duma der agitatorischen Wirkung des Gerichtes über das revolutionäre Parlament des Petersburger Proletariats zu danken ist.

Der Prozess des Arbeiterdelegiertenrates hat zu einer Episode geführt, die es verdient, hier erwähnt zu werden.

Am 15. November, an dem Tage der Urteilsverkündung in seiner endgültigen Form, erschien in der „Nowoje Wremja" ein Brief des aus dem Auslande zurückgekehrten Grafen Witte anlässlich des Prozesses des Arbeiterdelegiertenrates. Hier wehrte sich der Graf gegen die Angriffe der bürokratischen Rechten, indem er nicht nur auf die Ehre verzichtete, der Hauptanstifter der russischen Revolution zu sein, sondern seine persönlichen Beziehungen zu dem Delegiertenrate rundweg leugnete. Die Zeugenaussagen, sowie die Aussagen der Angeklagten nannte er mit eiserner Stirne „erfunden zum Zwecke der Verteidigung", indem er offenbar keine Erwiderung aus den Gefängnismauern heraus erwartete. Aber der Graf täuschte sich.

Wir Sind uns", so lautete die gemeinsame Erwiderung der Verurteilten, die von dem Verfasser dieses Buches geschrieben und im „Towarischtsch" vom 18. November abgedruckt war, „des Unterschiedes zwischen unserer politischen Art und der des Grafen Witte zu sehr bewusst, um es für möglich zu erachten, dass wir dem ehemaligen Premierminister jene Gründe klarmachen könnten, die und, die Vertreter des Proletariats, unserer ganzen politischen Tätigkeit nach zwingen, die Wahrheit zu sagen. Wir halten es jedoch am Platze, auf die Rede des Herrn Staatsanwalts hinzuweisen. Ein Ankläger ex professo, ein Beamter der uns feindlichen Regierung, hat zugegeben, dass wir ihm in unseren Erklärungen und Reden „ohne Kampf" das Material für die Anklage – die Anklage, nicht die Verteidigung! – geliefert haben, und er nannte unsere Aussagen vor dem Gerichte wahrheitsgemäß und aufrichtig"

Wahrheit und Aufrichtigkeit – das sind Eigenschaften, die nicht nur politische Gegner, sondern auch Lobredner von Beruf dem Grafen Witte nie zugesprochen haben.

Ferner legte das Kollektivschreiben die ganze Unvorsichtigkeit des Leugnens seitens des Grafen WitteF dokumentarisch nieder und schloss mit den Zeilen, die das Ergebnis des Gerichts über das revolutionäre Parlament des Petersburger Proletariats klarlegten.

Mögen die Ziele und Beweggründe der Berichtigung des Grafen Witte welche immer gewesen sein", so hieß es in unserem Schreiben, „so unvorsichtig sie auch erschien, sie kam doch gar sehr zur rechten Zeit, um, wie ein letzter Pinselstrich, das Wesen der Regierungsgewalt, wie es dem Delegiertenrate in jenen Tagen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, fertig zu zeichnen." Wir werden uns erlauben, mit einigen Worten bei diesem Bilde zu verweilen.

Graf Witte betont die Tatsache, dass gerade er es war, der uns den Händen der Gerechtigkeit übergab. Der Tag dieser historischen Tat ist, wie wir schon oben sagten, der 16. Dezember 1905. Dann gingen wir durch die Hände der „Abteilung für inneren Schutz“, hernach durch die der Gendarmerieverwaltung und gelangten dann vor das Gericht.

Vor dem Gerichte figurierten als Zeugen zwei Beamte der „Schutzabteilung". Auf die Frage, ob im Herbst des vergangenen Jahres ein Pogrom in Petersburg vorbereitet würde, antworteten sie auf das entschiedenste nein! und erklärten, kein einziges Flugblatt gesehen zu haben, das zu Pogromen aufforderte. Nun aber bezeugt der ehemalige Direktor des Polizeidepartements. Wirklicher Staatsrat Lopuchin, dass die Pogromflugschriften gerade zu jener Zeit in der „Schutzabteilung" gedruckt wurden. Dies die erste Etappe der „Gerechtigkeit", der Graf Witte uns auslieferte.

Ferner erschienen vor Gericht die Gendarmerieoffiziere, die das Verhör in Sachen des Delegiertenrates geleitet hatten. Nach ihren eigenen Worten waren die Blätter der Schwarzen Hundert die Veranlassung zu ihrer Untersuchung betreffs der von den Delegierten geraubten Gelder. Der Herr Staatsanwalt nannte diese Blätter lügenhaft und verleumderisch. Und was sehen wir? Herr Lupochin bezeugt, dass diese lügenhaften und verleumderischen Blätter in derselben Gendarmerieabteilung gedruckt wurden, die das Verhör in Sachen des Delegiertenrates leitete. Das ist die zweite Etappe auf dem Wege der Gerechtigkeit.

Als wir nach zehn Monaten vor Gericht standen, erlaubte uns dieses, auf alles das hinzuweisen und alles das klarzustellen, was in den Grundzügen auch schon vor dem Prozesse bekannt war. Kaum aber versuchten wir es klarzulegen und zu beweisen, dass wir damals gar keine Regierungsgewalt vor uns gehabt hatten, dass ihre tatkräftigsten Organe sich in antirevolutionäre Vereinigungen verwandelt hatten, die nicht nur die geschriebenen Gesetze, sondern auch alle Gebote der menschlichen Moral missachteten, dass die Personen, die das größte Vertrauen der Regierung besaßen, eine allrussische Pogromorganisation gebildet hatten und dass der Arbeiterdelegiertenrat wesentlich die Aufgaben einer Volkswehr erstellte, – kaum hatten wir zu diesem Zwecke verlangt, der dank unserem Prozesse berühmt geworbene Brief des Herrn Lopuchin möge in die Akten eingereiht und – was die Hauptsache war – Lopuchin selbst möge als Zeuge vernommen werden – kaum hatten wir dies versucht, als das Gericht uns, ohne sich auch nur im entferntesten an das Recht zu kehren, mit starker Faust den Mund schloss. So sieht die dritte Etappe des Witteschen Gerechtigkeitsverfahrens aus.

Und nun, wo der Prozess zu Ende geführt, das Urteil gesprochen ist, erscheint Graf Witte und versucht, seine politischen Gegner, die er völlig besiegt glaubte, nochmals und hinterrücks anzufallen. Mit derselben Entschiedenheit, mit der die Beamten der „Schutzabteilung" beteuerten, auch nicht ein einziges Pogromflugblatt gesehen zu haben, behauptet jetzt Graf Witte, dass er in keinerlei Beziehung zum Delegiertenrate gestanden habe. Mit der gleichen Entschiedenheit und – mit der gleichen Wahrhaftigkeit!

Mit Ruhe blicken wir auf diese vier Etappen des offiziellen Gerichts, das über uns urteilte, zurück. Die Vertreter der Macht haben uns „alle Rechte" genommen und schicken uns in die Verbannung. Aber sie sind zu schwach, um uns das Recht auf das Vertrauen des Proletariats und das aller ehrlichen Mitbürger zu rauben. Wie in allen anderen Fragen unseres nationalen Seins, so hat auch in unserer Sache das Volk das letzte Wort. Mit vollem Vertrauen appellieren wir an sein Gewissen

Untersuchungsgefängnis, 17. November 1906.“

A Es waren sieben Personen: vier angestellte Richter, der Adelsvertreter des Petersburger Kreises Graf Gudowitsch, ein rechtsstehender Oktobrist, der Vertreter des Petersburger Gemeinderats Troinitzki, ein Gouverneur, der ein wenig gestohlen hatte und deshalb aus dem Dienste gejagt worden war, einer von den Schwarzen Hundert, und endlich der Amtsvorstand eines Amtsmanns eines Petersburger Landbezirkes, ich glaube, ein Progressist.

C Viele Zeugen waren während der Verhandlungen „unauffindbar" oder befanden sich in Sibirien, wie zum Beispiel der Veteran der Revolution, Leo Deutsch, der übrigens zu dieser Zeit schon geflohen war.

D Wir bringen diese Rede in einem anderen Abschnitt nach dem in Russland nicht veröffentlichten stenographischen Bericht.

E Im Kabinett Goremykin war Stolypin Minister des Innern.

F Graf Witte musste dann seine Beziehungen zum Delegiertenrat zugeben, erklärte aber, dass er in den Abgesandten des Rates nur die Vertreter der Arbeiter hatte sehen wollen.

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