I. Die soziale Entwicklung Russlands und der Zarismus

I. Die soziale Entwicklung Russlands und der Zarismus.

Unsere Revolution hat unsere "Urwüchsigkeit" getötet. Sie hat gezeigt, dass die Geschichte keine besonderen Gesetze für uns geschaffen hat. Und doch hat die Revolution selbst in Russland einen ganz eigenartigen Charakter, das Resultat der Eigentümlichkeiten unserer ganzen gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung.

Man braucht nicht bei der Frage stehen zu bleiben, ob wir es bei dem Vergleiche Russlands mit Westeuropa mit einem qualitativen oder quantitativen Unterschiede zu tun haben; es ist aber nicht zu bezweifeln, dass als Grundzug der russischen sozialen Entwicklung ihre Langsamkeit und ihre primitive Art erscheinen. Der russische Staat ist eigentlich um weniges jünger als die europäischen Staaten. Den Beginn des russischen Staatslebens verlegt die Chronik in das Jahr 862, aber das äußerst langsame Tempo der ökonomischen Entwicklung, bedingt durch das ungünstige physische Milieu und die wenig dichte Bevölkerung, hat den Prozess der sozialen Differenzierung aufgehalten, unserer ganzen Geschichte das Gepräge des Primitiven verliehen.

Es ist schwer, zu sagen, wie das Leben des russischen Staates geworden wäre, wenn es isoliert, nur unter dem Einflusse der inneren Tendenzen verlaufen wäre. Es genügt, dass es nicht so war. Das russische gesellschaftliche Leben stand und zwar je weiter je mehr – unter dem fortwährenden Drucke der mehr entwickelten gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse Westeuropas. Da bei dem wenig entwickelten Handel die staatlichen Beziehungen zu anderen Ländern eine hervorragende Rolle spielten, so machte sich auch der soziale Einfluss Europas in erster Reihe durch die Vermittlung der militärischen Technik geltend.

Der russische Staat, der auf einer primitiven ökonomischen Grundlage entstanden war, stieß mit staatlichen Organisationen zusammen, die sich auf einer höheren ökonomischen Basis entwickelt hatten. Hier gab es zwei Möglichkeiten: entweder musste der russische Staat im Kampfe gegen jene fallen, wie das „Goldene Lager"* im Kampfe gegen das Moskowiterreich fiel, oder aber er musste die Entwicklung seiner eigenen ökonomischen Verhältnisse überholen, indem er unter dem Drucke von außen einen unverhältnismäßig großen Teil der nationalen Kräfte verschlang, für den ersten Ausgang erwies sich die russische Volkswirtschaft als bereits zu wenig primitiv. Der Staat ging nicht in Trümmer, sondern begann unter der furchtbarsten Anspannung der wirtschaftlichen Kräfte der Nation zu wachsen.

Bis zu einem gewissen Grade bezieht sich das eben Gesagte freilich auch auf jeden anderen europäischen Staat. Aber: diese letzteren stützten sich im gegenseitigen Kampfe auf eine ungefähr gleichartige ökonomische Grundlage, daher hatte ihre Entwicklung keinen so mächtigen äußeren Druck auszuhalten. Der Kampf des Moskowiterreiches gegen die Krim- und Nogaitataren rief eine große Kräfteanspannung hervor; aber selbstverständlich keine größere, als der jahrhundertlange Kampf Englands gegen Frankreich. Es waren nicht Tataren, die das Land Russj zwangen, das Feuergewehr einzuführen und ständige Schützenregimenter zu schaffen; es waren nicht die Tataren, die dann später die Einführung der fremdländischen Reiterei und der Soldatenregimenter veranlassten. Hier war es der Druck von Litauen, Polen und Schweden. Um neben besser gerüsteten Feinden bestehen zu können, war der russische Staat gezwungen, spezielle Gewerbe und Künste zu schaffen, militärische Spezialisten anzustellen, Falschmünzer von Staats wegen und Pulvererzeuger, Lehrbücher über Fortifikation anzuschaffen, Navigationsschulen, Fabriken und Geheimräte einzurichten. Wenn man sich die militärischen Lehrmeister und die Geheimräte vom Auslande kommen lassen konnte, so musste man doch die materiellen Mittel um jeden Preis im Innern des Landes zusammenbringen.

Die Geschichte der russischen Staatswirtschaft ist eine ununterbrochene Kette von in ihrer Art heroischen Anstrengungen, die darauf gerichtet waren, die militärischen Organisationen mit Mitteln zu versorgen. Der ganze Regierungsapparat wurde aufgebaut und immer wieder umgebaut für fiskalische Zwecke. Seine Ausgabe war, jedes kleinste Teilchen akkumulierter Arbeit zu packen und für sich in Anspruch zu nehmen.

Auf ihrer Suche nach Mitteln schreckte die Regierung vor nichts zurück: sie wälzte willkürliche und stets unverhältnismäßig große Steuern auf die Bauern, Steuern, an die sich die Bevölkerung nicht anpassen konnte; sie führte die gegenseitige Bürgschaft und Verantwortlichkeit der Gemeinde ein; durch Bitten und Drohungen, mit Ermahnungen und Gewalt nahm Sie den Kaufleuten und Klöstern das Geld ab. Die Bauern liefen fort, die Kaufleute wanderten aus, und die Volkszählungen des siebzehnten Jahrhunderts zeigen eine fortschreitende Abnahme der Bevölkerung. Aus dem Anderthalbmillionenbudget wurden in jenem Jahrhundert etwa 85 Prozent für das Heer ausgegeben. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts war Peter unter den grausamen Schlägen, die ihm zuteil wurden, gezwungen, das Fußheer nach neuem Muster zu reorganisieren und eine Flotte zu schaffen. Zu der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts erreichte das Budget bereits 16-20 Millionen, wobei für das Heer und die Flotte 60-70 Prozent aufgingen. Unter 50 Prozent sank diese Ausgabe auch unter Nikolaus I. nicht, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts brachte die Krimkampagne den Absolutismus in Kollision mit den ökonomisch mächtigsten Staaten Europas, mit England und Frankreich – das Resultat war die Notwendigkeit einer vollständigen Reorganisation der Armee auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht. Bei der Halbbefreiung des Bauernstandes im Jahre 1861 spielten die fiskalischen und militärischen Bedürfnisse des Staates die entscheidende Rolle.

Aber die inneren Mittel reichten nicht aus. Schon unter Katharina II. wurde es der Regierung möglich, äußere Anleihen zu vollziehen. Die europäische Börse wird von nun an immer mehr eine Hauptquelle für die Finanzoperationen des Zarismus. Die Akkumulation von ungeheuren Kapitalien auf den westeuropäischen Märkten, die den Zinsfuß herabdrückten und nach einer profitablen Anlage suchten, hatte nunmehr einen schicksalschweren Einfluss auf die politische Entwicklung Russlands. Das forcierte Wachstum der staatlichen Organisation findet jetzt nicht nur in der unverhältnismäßigen Erhöhung der indirekten Steuern seinen Ausdruck, sondern auch in dem fieberhaften Anstieg der Staatsschuld. Während des Jahrzehnts 1898-1908 stieg sie um 19 Prozent an und am Ende dieser Zeitperiode erreichte sie bereits 9 Milliarden Rubel. zu welcher Abhängigkeit sich die Staatsmaschine des Absolutismus von Rothschild und Mendelsohn befindet, zeigt die Tatsache, dass die Zinsen allein jetzt etwa ein Drittel des Reineinkommens der Staatskasse verschlingen. Im Budgetprovisorium für das Jahr 1908 betragen die Ausgaben für Armee und Flotte zusammen mit den Zinsen für Staatsschulden und den Kosten nach Beendigung des Krieges 1.018.000.000 Rubel, das heißt extra 40,5 Prozent des Gesamtbudgets des Staates. Indem der Staat einen unverhältnismäßig großen Teil des Nationalproduktes verzehrte, beschränkte er dadurch die Nährquellen der privilegierten Klassen und verlangsamte ihre Formierung. Aber das ist nicht alles. Er stürzte sich auf die spärlichen Existenzmittel des Landmannes, vertrieb ihn dadurch von seiner Scholle auf der er kaum warm geworden war, und musste auf diese Weise das Wachstum der Bevölkerung und die Entwicklung der Volkswirtschaft hintan halten. So hat nun der Staat, indem er einen unverhältnismäßig großen Teil des Mehrproduktes verschlang, die ohnehin langsame Differenzierung der Stände verzögert, und indem er einen großen Teil des unentbehrlichen Produktes wegnahm, zerstörte er sogar diejenigen produktiven Kräfte auf die er sich selbst stützte. Gleichzeitig brauchte aber der Staat, um funktionieren zu können, die ständisch-hierarchische Organisation. Daher strebt er wahrend er die ökonomischen Grundlagen ihres Wachstums untergräbt, zugleich danach, ihre Entwicklung durch staatliche Maßnahmen zu beschleunigen und durch Ausnutzung seiner Macht diesen Prozess in eine für ihn günstige Bahn zu lenken.

Nichtsdestoweniger wird es eine derbe Übertreibung, eine völlige Zerstörung jeder Perspektive sein, zu behaupten – wie dies Miljukow in seiner Geschichte der russischen Kultur tut – dass, während im Westen die Stände den Staat schufen, bei uns umgekehrt die staatliche Gewalt es war, die in ihrem Interesse die Stände hervorbrachte. Stände können nicht aus legislativem oder administrativem Wege erzeugt werden. Man kann sie nicht nach einer eigens zusammengestellten Rangklassenordnung oder nach einem Statut der Légion d'honneur fabrizieren. Bevor eine soziale Gruppe sich mit Hilfe der Staatsmacht als Stand herauskristallisieren kann, muss sie sich in ihren ökonomischen Grundlagen schon gebildet haben. Unzweifelhaft ist nur die Tatsache, dass der Zarismus in seinem Verhältnis zu den russischen privilegierten Ständen sich die ganze Zeit über einer ungleich größeren Unabhängigkeit erfreute, als der europäische Absolutismus, der aus einer Ständemonarchie herausgewachsen war.

Die höchste Macht erlangte der letztere erst da, als die Bourgeoisie, die sich auf den Schultern des dritten Standes erhoben hatte, den Kräften des Feudaladels das Gleichgewicht halten konnte. Eine solche Situation, in der die herrschenden Klassen sich politisch die Wage hielten, sicherte der Staatsorganisation, die größte Unabhängigkeit. Ludwig XIV. pflegte zu sagen: L'ètat c'est moi. Die preußische absolute Monarchie erschien Hegel als der Selbstzweck, als die Verwirklichung der Idee eines Staates überhaupt.

Der Zarismus hatte in seinem Bestreben, ein zentralisierter Machtapparat zu werden, nicht so sehr die Ansprüche der privilegierten Stände niederzuhalten, die ohnehin ganz machtlos waren, als gegen den Widerstand der Wildheit, der Armut und der Zerrissenheit des Landes zu kämpfen, eines Landes, dessen einzelne Teile und Teilchen ein ganz selbständiges wirtschaftliches Leben führten. Es war nicht das Gleichgewicht der ökonomisch herrschenden Klassen wie im Westen, sondern ihre soziale Schwäche und politische Wertlosigkeit, die das bürokratische Selbstherrschertum zu einer Organisation machte, die sich Selbstzweck war. In dieser Hinsicht erschien der Zarismus als die Zwischenform, zwischen dem europäischen Absolutismus und der asiatischen Despotie, – vielleicht mit größerer Annäherung an diese letztere. Während aber die halb asiatischen sozialen Bedingungen den Zarismus zu einer selbstherrlichen Organisation machten, versorgten die europäische Technik und das europäische Kapital diese Organisation mit allen Mitteln einer europäischen Großmacht. Dies gab nun dem Zarismus die Möglichkeit seine Faust als entscheidenden Faktor in alle politischen Verhältnisse Europas mit Wucht hineinzulegen. Im Jahre 1815 kommt Alexander I. nach Paris, setzt die Bourbons wieder ein und wird selbst zum Träger der heiligen Allianz. 1848 macht Nikolaus I. eine glänzende Anleihe zur Unterdrückung der europäischen Revolution und schickt russische Soldaten gegen die revoltierenden Ungarn. Die europäische Bourgeoisie hoffte, dass die russischen Heere ihr auch noch gegen das sozialistische Proletariat dienen würden, wie sie früher dem europäischen Despotismus gegen die Bourgeoisie gedient hatten.

Aber die historische Entwicklung war eine andere. Der Absolutismus zerschlug sich den Kopf an dem Kapitalismus, den er selbst so eifrig gepflanzt hatte.

Die Volkswirtschaft Westeuropas beeinflusste die russische. In der vorkapitalistischen Epoche war dieser Einfluss naturgemäß beschränkt. Der naturalwirtschaftliche Charakter der russischen Volkswirtschaft schützte diese von selbst vor dem Einflusse der höheren Produktionsformen. Daher blieb auch unsere Ständestruktur eine unvollständige. Als aber in Europa selbst kapitalistische Verhältnisse vorherrschten, als das mobile Kapital zum Missionar der neuen Wirtschaft wurde, als der Absolutismus aus Selbsterhaltungstrieb zum Helfershelfer des europäischen Kapitalismus wurde, da änderte sich die Situation vollständig.

Jene „kritischen" Sozialisten, die das Verständnis für die Bedeutung der Staatsmacht für die sozialistische Umwälzung verloren haben, könnten sogar an dem Beispiel der systemlosen und barbarischen Tätigkeit der russischen Selbstherrschaft ersehen, welche ungeheure Rolle die Staatsgewalt auf dem rein wirtschaftlichen Gebiete spielen kann, wenn sie im Großen und Ganzen in der Richtung der historischen Entwicklung arbeitet.

Indem der Zarismus das geschichtliche Werkzeug zur Kapitalisierung der ökonomischen Verhältnisse Russlands wurde, stärkte er vor allen Dingen sich selbst. Zur Zeit, als die durch die bürgerliche Entwicklung in den Vordergrund gerückten neuen Klassen das Bedürfnis nach den rechtlichen und politischen Institutionen des Westens zu empfinden begannen, wurde der Zarismus mit Hilfe der europäischen Technik und des europäischen Kapitals zum größten kapitalistischen Unternehmer, zum Bankier, Monopol-Eisenbahn- und Schnapsbuden-Besitzer. Er stützte sich auf einen zentralisierten, bürokratischen Apparat, der für die Regelung der neuen Beziehungen völlig untauglich, doch imstande war, eine kolossale Energie in schonungslosester Unterdrückung zu entwickeln. Die ungeheure Ausdehnung des Landes wurde durch den Telegrafen besiegt, der der Tätigkeit der Verwaltung eine gewisse Sicherheit, Gleichförmigkeit und Schnelligkeit verleiht, während die Eisenbahnen es erlauben, die militärische Macht innerhalb kurzer Zeit von einem Punkte des Landes auf den anderen zu werfen. Die Regierungen des Westens kannten vor der Revolution weder Eisenbahnen, noch Telegraf. Und nun die Armee! Ehe sie sich während der Prüfungen im russisch-japanischen Kriege als völlig untauglich erwies, flößte sie den Diplomaten und Bankiers der ganzen Welt einen abergläubischen Respekt ein.

Die militärischen und finanziellen Kräfte des russischen Absolutismus blendeten nicht nur die europäische Börse, sondern erdrückten auch die russische liberale Bourgeoisie, indem sie ihr jeglichen Glauben an eine Möglichkeit benahmen, ihre Kräfte mit denen der Regierung in offenem Kampfe zu messen.

Die Macht des alten Regimes musste, wie es schien, jede Möglichkeit einer russischen Revolution ausschließen.

In Wirklichkeit aber geschah gerade das Umgekehrte: Je zentralisierter ein Staat ist und je unabhängiger von den herrschenden Klassen, um so eher verwandelt er sich in eine Organisation, die sich Selbstzweck ist, die über der Gesellschaft steht. Je bedeutender die militärisch-finanziellen Kräfte einer solchen Organisation sind, um so länger und erfolgreicher kann ihr Kampf ums Dasein sein. Ein zentralisierter Staat mit einem Budget von 5 Milliarden Mark, mit einer Schuld von 20 Milliarden, mit einer Million stehenden Heeres konnte sich noch sehr lange halten, nachdem er aufgehört hatte, den elementarsten Anforderungen der sozialen Entwicklung zu genügen – nicht nur den vielseitigen Bedürfnissen der inneren Verwaltung, sondern auch dem Bedürfnisse nach äußerem Schutze, für welchen Zweck ja der Staat von vornherein entstanden ist.

Je länger eine solche Situation anhält, um so größer wurde der Widerspruch zwischen den Anforderungen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Politik der Regierung, die sich in ein mächtiges „Milliarden“-Trägheitsmoment ausgebildet hatte.

Die administrativ-militärische und finanzielle Macht des Absolutismus, die ihm die Möglichkeit gab, trotz der gesellschaftlichen Entwicklung weiter zu existieren, schloss nicht nur nicht die Möglichkeit einer Revolution aus, wie der Liberalismus glaubte, sondern machte – umgekehrt – die Revolution zum einzig möglichen Ausweg. Dabei war dieser Revolution von vornherein ein um so radikalerer Charakter gesichert, je tiefer der Absolutismus den Abgrund zwischen sich selbst und den Volksmassen gemacht hatte, die von der neuen ökonomischen Entwicklung erfasst waren.

Der russische Marxismus kann wahrhaft darauf stolz sein, als einziger die Richtung des geschichtlichen Prozesses schon zu einer Zeit klargelegt zu haben, wo der Liberalismus sich von Einflüsterungen des aller utopischsten „Praktizismus" nährte und die revolutionären „Narodniki" von Phantasmagorien und Wunderglauben lebten.

* Tatarenresidenz und asiatischer Machttitel zur Zeit der Überflutung Russlands mit Tataren.

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