II. Der russische Kapitalismus

II. Der russische Kapitalismus

Der niedrige Stand der Entwicklung der Produktivkräfte ließ es bei der alles verzehrenden Habgier des staatlichen Fiskus weder zur raschen Anspeicherung von Überschüssen, noch zu einer breiten Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, noch zu einem Anwachsen der Städte kommen. Das Handwerk trennte sich nicht von dem Ackerbau, konzentrierte sich nicht in den Städten, sondern blieb zusammen mit der bäuerlichen Bevölkerung – in der Gestalt der Heimindustrie – über das ganze Land zerstreut. Grade kraft des zerstreuen Charakters der Gewerbe mussten die „Kustari" (Heimarbeiter) nicht für den Besteller, sondern für den Verkauf arbeiten. Den Vermittler zwischen den verstreuten Produzenten und den zerstreuten Konsumenten spielte der Kaufmann oder der Gast. Daher die gewaltige Bedeutung des Handelskapitals in der wirtschaftlichen Organisation des alten moskowitischen Russland. Aber auch das Handelskapital blieb zerstreut und schuf keine großen Handelszentren.

Nicht der Dorfheimarbeiter und auch nicht der Großhändler waren es, die zuerst auf die Schaffung der Notwendigkeit der Schaffung großer Industriewerke stießen, sondern der Staat selbst. Die Schweden zwangen Peter dem Großen eine Flotte und einen neuen Heerestypus auf. Indem er aber seine militärische Organisation ausbaute und komplizierter machte, geriet der Staat Peters I. in direkte Abhängigkeit von der Industrie der Hansastädte, Hollands und Englands. Die Schaffung vaterländischer Manufakturen, die Armee und Flotte bedienen könnten, wird so zur Lebensfrage der Landesverteidigung. Von Fabrikproduktion war bis zu Peter dem Großen keine Rede. Nach ihm aber zählte man bereits 233 fiskalische und private Unternehmungen großen Maßstabs: Hüttenwerke, Gewehr-, Tuch-, Leinwand-, Segeltuch- und ähnliche Fabriken. Die ökonomische Grundlage für alle diese Neuanschaffungen bildeten einerseits die Staatseinkünfte, andererseits das Handelskapital. Endlich wurde nicht selten zusammen mit dem neuen Industriezweig ausländisches Kapital importiert, das sich in dergleichen Fällen auf eine Reihe von Jahren mit entsprechenden Privilegien versah.

Das kaufmännische Kapital spielte auch in Westeuropa eine hervorragende Rolle bei der Schaffung der Großproduktion. Dort aber entspross die Manufaktur auf dem Boden des in Zersetzung übergegangenen Handwerks, wobei sie den ehemaligen selbständigen Handwerker in ihren Teilarbeiter verwandelte. Hier, im Moskowiterreich, traf die aus dem Westen gebrachte Manufaktur überhaupt keinen freien Handwerkerstand an und war darauf angewiesen, sich der Arbeitskraft des leibeigenen Bauern zu bedienen. So besaß unsere Fabrik des 18. Jahrhunderts von Anbeginn an keinen Konkurrenten in der Person des städtischen Handwerkers. Aber auch der Heimarbeiter war für sie kein Rivale: er arbeitete für den Massenkonsumenten, während die vom Scheitel bis zur Sohle reglementierte Fabrik hauptsächlich den Staat und auch teilweise die oberen Klassen bediente.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchbricht die Textilindustrie den Ring der Leibeigenarbeit und der staatlichen Reglementation. Die aus freier Lohnarbeit begründete Fabrik stand aber ihrem Urwesen nach im schroffsten Gegensatz zu dem Russland Nikolaus' I. Der Feudaladel erwies sich daher durchweg freihändlerisch. Nikolaus I. stand mit seinen ganzen Sympathien auf Seiten des Adels. Und doch zwangen ihn die Bedürfnisse des Staats – darunter die fiskalischen Interessen – zur Politik des Schutztarifs und der Geldsubsidien an die Fabrikanten. Nachdem in England das Verbot der Maschinenausfuhr aufgehoben war, formierte sich die russische Textilindustrie gänzlich nach fertigen englischen Mustern. Der Deutsche Knop importierte nach Russland in den 40er und 50er Jahren aus England 122 Spinnereien bis auf den letzten Nagel. Im Textilrayon bildete sich sogar das Sprichwort: „Wo eine Kirche, da ein Pop' – wo ein Fabrik, da ein Knop." Dank dem Umstand, dass die Textilindustrie für den Bauernmarkt arbeitete, stellte sie trotz dem ständigen Mangel an geschickten und freien Arbeitshänden Russland in Bezug auf die Anzahl der Spindeln an die fünfte Stelle. Die übrigen Industriezweige, und vor allem die Eisenhütten, entwickelten sich seit Peter I. fast gar nicht. Das ist ganz klar. Wenn der Kattun für den leibeigenen Bauern fabriziert wurde, so setzt das Eisen schon eine entwickelte Industrie, Städte, Eisenbahnen, Dampfschiffe voraus. Dies alles aber war unmöglich auf der Grundlage der Leibeigenschaft. Andererseits hemmte diese letztere auch die landwirtschaftliche Entwicklung, inwiefern die Landwirtschaft, je weiter je mehr, nicht für den eigenen Bedarf, sondern für den ausländischen Markt produzierte. Die Aufhebung der Leibeigenschaft wurde somit ein unaufschiebbares Gebot der ökonomischen Entwicklung. Wer aber hätte sie durchführen können? Der Adel im großen Ganzen wollte davon selbstverständlich kein Wort hören. Die kapitalistische Klasse war noch zu nichtig, um eine solche Reform durch eigenen Druck zu bewirken. Die häufigen Revolten unter den Bauern, die sich ihrem Umfange nach mit den Bauernkriegen in Deutschland oder der Jacquerie in Frankreich keineswegs vergleichen ließen, blieben vereinzelte Ausbrüche und waren an sich selbst zu schwach, um die Macht der Gutsbesitzer zu brechen. Das entscheidende Wort blieb dem Staate vorbehalten, und der Zarismus musste erst die furchtbare militärische Niederlage in der Krimkampagne erleiden, um im eigenen Interesse durch die halbe Befreiungsreform vom Jahre 1861 der kapitalistischen Entwicklung freie Bahn zu schaffen.

Und nun beginnt für Russland eine neue Periode in der ökonomischen Entwicklung, gekennzeichnet durch die rasche Anreicherung von „freier" Arbeit, den fieberhaften Ausbau des Eisenbahnnetzes, die Anlegung von Häfen, den unaufhörlichen Zufluss ausländischen Kapitals, die Europäisierung der industriellen Technik, die Verbilligung und Erleichterung des Kredits, das Anwachsen der Zahl der Aktiengesellschaften, die Einführung der Goldwährung den tollsten Protektionismus und die lawinenartige Vermehrung der Staatsschuld. Die Regierungszeit Alexander III. (1881-1894), wo die Ideologie der nationalen Urständigkeit das ganze gesellschaftliche Bewusstsein beherrschte – von dem konspirativen Schlupfwinkel des Revolutionärs an bis hinauf zum Geheimkabinett Seiner Majestät war zugleich die Epoche der unnachsichtigsten Umwälzung auf dem Gebiet der Produktionsverhältnisse; indem es die Großproduktion pflanzte und den Bauer proletarisierte, untergrub das europäische Kapital automatisch die Grundpfeiler der asiatisch-moskowitischen Urständigkeit.

Einen mächtigen Hebel in der Industrialisierung des Landes bildeten die Eisenbahnen. Die Initiative ihrer Durchführung gebührt natürlich dem Staate. Die erste Linie – zwischen Petersburg und Moskau – wurde 1851 dem Verkehr übergeben. Nach dem Krimdebakel tritt im Eisenbahnbau die Regierung ihren Platz an die private Unternehmerlust ab. Doch bleibt sie selbst gleich einem unermüdlichen Schutzengel hinter dem Unternehmer stehen; sie fordert die Bildung von Aktien- und Obligationskapitalien, übernimmt die Garantie für die Dividende und ebnet den Aktionären auf jede Weise den Weg durch freigebigst gewährte Privilegien und Konzessionen. Im Laufe des ersten Jahrzehnts nach der Bauernreform wurden bei uns 7000 Werst Schienen durchgelegt, im zweiten – 12000 Werst, im dritten – 6000 Werst im vierten: im europäischen Russland – über 20000 und im ganzen Reiche – etwa 30000 Werst. In den 80er und insbesondere in den 90er Jahren wo Witte als Herold der Idee des polizeistaatlichen Kapitalismus auftrat, beginnt von Neuem die Konzentrierung der Eisenbahnen in den Händen des Fiskus. Wie Witte in der Entwicklung des Kreditwesens ein Machtmittel erblickte, mit dessen Hilfe der Finanzminister „die Volksindustrie bald hierhin, bald dorthin lenken“ könnte, so malten sich in seinem Kanzleihirn die Eisenbahnen „als mächtiges Werkzeug der Leitung der ökonomischen Entwicklung Russlands“. Ein geriebener Börsianer, aber in politischer Beziehung durch und durch ignorant, ahnte er nicht, dass er der Revolution in die Hand arbeitete und ihr die Waffe schliff. Gegen 1894 besaß das Eisenbahnnetz eine Ausdehnung von 31800 Werst, von denen 17000 fiskalisch waren. Im Jahre der Revolution – 1905 – zählt das Eisenbahnbedienstetenpersonal, dem eine so hervorragende politische Rolle zufiel, 667000 Mann in seinen Reihen.

Die Zollpolitik der russischen Regierung, in der fiskalische Habgier mit blindem Protektionismus innig verschmolzen waren, schnitt der ausländischen Ware fast gänzlich den Zutritt ab. Außerstande, seine Produkte bei uns absetzen, zog das europäische Kapital über die östliche Grenze in der unverwundbarsten und verlockendsten Form: nämlich in der des Geldes. Die Belebung des russischen Geldmarkts war jedes Mal die Folge einer neuen im Auslande abgeschlossenen Anleihe. Parallel damit bemächtigten sich die westeuropäischen Unternehmer unmittelbar der wichtigsten Industriezweige Russlands. Das Finanzkapital Europas, das den Löwenanteil des russischen Staatsbudgets in sich aufsog, kehrte mit einem seiner Teile in der Gestalt des Industriekapitals auf das russische Territorium zurück. Dies lieferte ihm die Möglichkeit, nicht nur mit Unterstützung des zarischen Fiskus die Produktivkräfte des russischen Bauern zu erschöpfen, sondern auch die Arbeitsenergie des russischen Proletariers auszubeuten. Allein im Laufe der letzten 10 Jahre des vorigen Jahrhunderts – und besonders seit der Einführung der Goldwährung (1897) flossen nach Russland nicht weniger als 1½ Milliarden Rubel an Industriekapitalien. Während im Laufe von 40 Jahren bis 1892 das Grundkapital der Aktienunternehmungen im Ganzen auf 919 Millionen Rubel angewachsen war, stieg es allein in den nächsten 10 Jahren mit einem Schlage auf 2,1 Milliarden Rubel.

Welche Bedeutung dieser vom Westen kommende Goldstrom für die russische Industrie hatte, lässt sich daraus ersehen, dass, während im Jahre 1890 die Produktionssumme aller unserer Fabriken und Industriebetriebe 1½ Milliarden Rubel betrug, sie sich 1900 bereits auf 2½, bis 3 Milliarden belief. Und gleichzeitig war die Zahl der Industriearbeiter von 1,4 aus 2,4 Millionen Mann gestiegen.

Wenn die russische Ökonomie, ebenso wie die russische Politik, sich von jeher unter dem unmittelbaren Einflusse – richtiger: Drucke – des Westens entwickelte, so unterlagen, wie wir gesehen haben, die Formen und die Tiefe dieses Einflusses einer steten Wandlung. In der Epoche der Handwerks- und Manufakturproduktion Westeuropas entlehnte Russland von dort die Techniker, die Architekten, die Werkmeister – überhaupt sämtliche Kunstarbeitskräfte. Als die Manufaktur der Fabrik weichen musste, wurde der Hauptgegenstand der Entlehnung und der Einfuhr die Maschine. Und endlich, als unter dem unmittelbaren Einflusse der Staatsbedürfnisse die Leibeigenschaft fiel, indem sie der „freien" Arbeit den Platz räumte, erschloss sich Russland der unmittelbaren Einwirkung des Industriekapitals, dem die Auslandsanleihen die Bahn geebnet hatten.

Die Chronik berichtet, dass wir im 9. Jahrhundert die Waräger über das Meer zu uns gerufen haben, um mit ihrer Hilfe unser Staatswesen zu begründen. Dann kamen die Schweden, um uns die europäische Kriegskunst beizubringen. Thomas und Knop lehrten uns das Webereifach. Der Engländer Hughes pflanzte in unserem Süden die Metallindustrie. Röbel und Rothschild verwandelten den Kaukasus in einen Springbrunnen von Naphtaprofiten. Zu gleicher Zeit machte der Wiking der Wikinge, der große internationale Mendelssohn, Russland zu einer Domäne der Börse.

Solange das ökonomische Band mit Europa nur in der Einfuhr von Werkmeistern und Maschinen oder sogar in der Aktivierung von Anleihen zu Produktionszwecken bestand, handelte es sich schließlich im Grunde nur darum, dem nationalen Wirtschaftsorganismus Russlands das eine oder das andere Element der europäischen Produktion aufzupfropfen. Als aber die freien ausländischen Kapitalien auf ihrer Jagd nach einem hohen Profitniveau das durch die chinesische Wand der Grenzzone eingefriedete russische Territorium überfluteten, da kam damit an die historische Tagesordnung die Einverleibung der ganzen russischen Wirtschaft in den kapitalistischen Wirtschaftsorganismus Europas. Dieses Programm ist es eben, dass die letzten Jahrzehnte unserer ökonomischen Geschichte ausfüllt.

Bis zum Jahre 1861 entstanden im ganzen 15 Prozent der Gesamtzahl der russischen Industrieunternehmungen; von 1861 bis 1880 – 23,5 Prozent und in den Jahren 1881 bis 1900 über 61 Prozent, wobei allein aus die letzten 10 Jahre des verflossenen Jahrhunderts die Entstehung von 40 Prozent sämtlicher Unternehmungen kommt.

Im Jahre 1767 stellt Russland 10 Millionen Pud Gusseisen her. Im Jahre 1860 (100 Jahre später!) beträgt die Ziffer nicht ganz 19 Millionen. Im Jahre 1896 steigt sie aus 98 Millionen und 1904 – auf 180 Millionen an; wobei der Süden Russlands, der 1890 nur ein Fünftel des ganzen Gusseisens liefert, 10 Jahre später bereits die Hälfte liefert.

In demselben Tempo schreitet die Entwicklung der Naphtaindustrie im Kaukasus fort. In den 60er Jahren wird weniger als 1 Million Pud Naphta gewonnen. Im Jahre 1880 21,5 Millionen Pud. In der Mitte des 80er Jahre greift das ausländische Kapital ein, okkupiert den Kaukasus von Baku bis Batum und eröffnet die Produktion für den Weltmarkt. Im Jahre 1890 beträgt die Naphtaausbeute 242,9 und im Jahre 1896 – 429,9 Millionen Pud.

Somit hat die Eisen-, die Kohlen- und die Naphtaproduktion unseres Südens, wohin der ökonomische Schwerpunkt des Landes immer mehr verschoben wird, eine Vergangenheit von nicht mehr als 20 bis 30 Jahren. Hier nahm die Entwicklung sofort einen rein amerikanischen Charakter an, und in wenigen Jahren änderte das französisch-belgische Kapital von Grund aus die Physiognomie der Steppengouvernements, indem es sie mit ungeheuren Unternehmungen bepflanzte, wie sie Europa fast gar nicht kennt. Hierzu waren zwei Bedingungen nötig: die europäisch-amerikanische Technik und das russische Staatsbudget. Alle Metallfabriken des Südens – viele wurden bis auf das letzte Schräubchen in Amerika fix und fertig gemacht und dann über den Ozean importiert! – wurden schon bei ihrer Gründung durch Staatsaufträge für einige Jahre im Voraus sichergestellt. Der Ural mit seinen „patriarchalischen“ Zuständen und seinem „nationalen“ Kapital blieb weit zurück und nur in der allerletzten Zeit schickt sich das englische Kapital auch dort an, die barbarische Urständigkeit mit der Wurzel auszurotten.

Die historischen Bedingungen der Entwicklung der russischen Industrie erklären zur Genüge, warum trotz ihres verhältnismäßig jungen Alters weder die kleine noch die mittlere Produktion in ihr irgend eine nennenswerte Rolle spielen. Die Großfabrikation ist bei uns nicht auf „natürlichem" Wege oder „immanent" aus dem Handwerk und der Manufaktur herausgewachsen, denn das Handwerk selbst hatte keine Zeit gehabt, sich von der Heimarbeit abzusondern und war von dem fremdländischen Kapital und der fremdländischen Technik noch vor seiner Geburt zum ökonomischen Untergange verurteilt. Die Baumwollfabrik brauchte mit dem Handwerk nicht zu kämpfen, – im Gegenteil: sie schuf selbst die Baumwollheimindustrie auf dem Lande. Die Eisenproduktion des Südens oder die Naphtaproduktion des Kaukasus kam ebenso wenig dazu, den Kleinunternehmungen den Garaus zu machen, – im Gegenteil: man musste die letzteren in einer ganzen Reihe von untergeordneten und Dienstzweigen der Wirtschaft ins Leben rufen.

Das Verhältnis der Klein- zu der Großproduktion in Russland in genauen Ziffern anzugeben, wäre bei dem jeder Beschreibung spottenden Zustande unserer Gewerbestatistik ein Ding der Unmöglichkeit. Die unten folgende Tabelle gibt nur eine ungefähre Vorstellung von dem wahren Sachverhalte, denn die Angaben über die ersten beiden Kategorien von Unternehmungen (bis zu 50 Arbeitern) beruhen aus höchst unvollkommenem, richtiger gesagt: zufälligem Material.

Gruppen von Bergbau- und Fabrikunternehmungen

Anzahl der Unternehmungen

Anzahl der Arbeiter

in Tausenden

in Prozenten

unter 10 Arbeitern

17.436

65,0

2,5

Mit 10–49 Arbeitern

10.586

236,5

9,2

Mit 50–99 Arbeitern

2.551

175,2

6,8

Mit 100–499 Arbeitern

2.779

608,0

23,8

Mit 500–999 Arbeitern

556

381,1

14,9

Mit 1000 und mehr Arbeitern

453

1097,0

42,8

Summa

34.361

2 562,8

100,0

Auf dieselbe Frage wirft auch ein grelles Schlaglicht der Vergleich der Gewinne, die die verschiedenen Kategorien der Handels- und Industrieunternehmungen Russlands abwerfen:


Anzahl der Unternehmungen

Gewinnsumme in Millionen

Mit einem Gewinn von 1000–2000 Rubel

37 000 = 44,5 Proz.

56 = 8,6 Proz

Mit einem Gewinn über 50000 Rubel

1400= 1,7 Proz.

291 = 45,0 Proz.

Mit anderen Worten: etwa die Hälfte aller Unternehmungen erlangt weniger als ein Zehntel des Gesamtprofits, während auf ein Sechzigstel der Unternehmungen fast die Hälfte des gesamten Mehrwerts entfällt. Außerdem steht es unzweifelhaft fest, dass die Einnahmen der Großbetriebe hier weit unter dem wirklichen Betrage angegeben sind.

Zur Charakteristik des Konzentrationsgrades der russischen Industrie bringen wir an dieser Stelle die parallelen Ziffern bezüglich Deutschlands und Belgiens (außer der Bergbauindustrie).

I.

Gruppen von Fabrik- und Industriebetrieben

Deutschland (Zählung 1895)

Russland (Statistische Untersuchung von 1902)

Anzahl

der Betriebe

Anzahl der Arbeiter

Anzahl

der Betriebe

Anzahl d. Arbeiter

in Taus.

in %

auf je 1 Betr.

in Taus.

in %

auf je 1 Betr.

Mit 6-50 Arbeitern

Mit 51–1000 Arbeitern

1000 und mehr Arbeiter .…

191.101

18.698

296

2454,3

2595,5

562,16

44

46

10

13

139

1900

14.189

4.722

302

234,5

918,5

710,2

12,5

49,0

38,5

16,5

195

2351

Summa

210.095

5611,96

100

49.213

1863,2

100


II.

Gruppen von Betrieben

Belgien (Zählung 1895)

Russland (Statistische Untersuchung von 1902)

Anzahl

der Betriebe

Anzahl der Arbeiter

Anzahl

der Betriebe

Anzahl d. Arbeiter

in Taus.

in %

auf je 1 Betr.

in Taus.

in %

auf je 1 Betr.

Mit 5-49 Arbeitern

Mit 50–499 Arbeitern

Mit 500 und mehr Arbeitern

13.000


1.466

184

162.0


250,0

160,0

28,3


43,7

28,0

13


139

1900

14.189


4.298

726

234,5


628,9

999,8

12,6


33,8

53,6

16,5


146,3

1377

Summa

14.650

572,0

100

19.213

1863,2

100


Die erste Tabelle berechtigt trotz der von uns hervorgehobenen Unvollständigkeit zu folgenden Schlüssen: erstens innerhalb der gleichartigen Gruppen kommt auf jeden der russischen Betriebe eine größere Anzahl von Arbeitern als es in Deutschland der Fall ist; zweitens: die Gruppen von Groß- (50-1000 Arbeiter) und Riesenunternehmungen (über 1000 Arbeiter) konzentrieren einen größeren Prozentsatz von Arbeitern um sich, als entsprechenden in Deutschland. In der letzten Gruppe besitzt dieses Übergewicht nicht nur einen relativen, sondern auch einen absoluten Charakter. Aus der Tabelle II sieht man wie dieselben Schlüsse - nur in noch markanterer Form – sich bei dem Vergleich zwischen Russland und Belgien ergeben.

Wir werden unten sehen, welchen gewaltigen Einfluss auf den Gang der Revolution wie auch auf die ganze politische Entwicklung des Landes dieser konzentrierte Charakter der russischen Industrie ausübt.

Gleichzeitig müssen wir noch einen zweiten, nicht minder wichtigen Faktor in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen: diese moderne Industrie so hohem kapitalistischem Typus umfasst nur die Minderheit der Bevölkerung während die bäuerliche Mehrheit derselben in den Fesseln der Armut und der Ständesklaverei schmachtet. Dies setzt seinerseits der Entwicklung der kapitalistischen Industrie eine Schranke.

Die untenstehende Tabelle veranschaulicht die Gruppierung der erwerbstätigen Bevölkerung in Russland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika nach den landwirtschaftlichen und nicht landwirtschaftlichen Berufsarten:


Russland (Zählung 1897)

Vereinigte Staaten (Zählung 1900)


in Tausenden

in Prozenten

in Tausenden

in Prozenten

Ackerbau, Forstwirtschaft und ähnliche Betriebe

18653

60,8

10450

35,9

Bergbau, bearbeitende Industrie, Handel, Transportgeschäft, „liberale" Berufe, Dienstboten.

12040

39,2

18623

64,1

Summa

30693

100

29073

100

Auf 128 Millionen Einwohner in Russland kommen nicht mehr erwerbstätige Elemente (30,6 Millionen), als in Nordamerika (29 Millionen) mit einer nur 76 Millionen starken Bevölkerung. Dies ist eine Folge der allgemeinen wirtschaftlichen Unentwickeltheit des Landes und des hierdurch bedingten enormen Übergewichts der ackerbautreibenden Bevölkerung über die nicht ackerbautreibende (60,8 Prozent gegen 39,2 Prozent!) - eine Tatsache, die sich aus allen Gebieten der nationalen Wirtschaft geltend macht.

Im Jahre 1900 produzierten die Fabriken, Industriewerke und Großhandwerkbetriebe in den Vereinigten Staaten für 25 Milliarden Rubel Waren – in Russland im Ganzen für 2½ Milliarden, das heißt um zehnmal weniger. In denselben Jahre wurden an Steinkohlen gewonnen: in Russland 1 Milliarde Pud; in Frankreich: 1½ Milliarden; in Deutschland 5½ Milliarden; in England: 13 Milliarden. Eisen wurde pro Kopf gewonnen: in Russland 1,4 in Frankreich 4,3, in Deutschland 9 und 13,5 Pud. „Und doch", sagt Mendelejew, „können wir die ganze Welt mit unserem überaus billigen Gusseisen, Eisen und Stahl versorgen. Unsere Naphtaquellen, unsere Reichtümer an Steinkohle und anderen Bodenschätzen sind noch kaum berührt." Aber die diesem Reichtum entsprechende Entwicklung der Industrie ist undenkbar ohne die Erweiterung des inneren Marktes, ohne die Steigerung der Kaufkraft der Bevölkerung – das heißt, ohne den wirtschaftlichen Aufschwung der bäuerlichen Mehrheit.

Darin liegt die Bedeutung der Agrarfrage für die kapitalistischen Geschicke Russlands.

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