IV. Die Triebkräfte der russischen Revolution

IV. Die Triebkräfte der russischen Revolution.

In Europa 5,4, in Asien – 17,5 Millionen .Quadratkilometer. 150 Millionen Einwohner. Auf diesem gewaltigen Raum – alle Epochen der menschlichen Kultur: von der primitiven Wildheit der nördlichen Urwälder an, wo der Mensch sich von rohen Fischen nährt und einen Holzklotz anbetet, bis zu den allermodernsten sozialen Verhältnissen der kapitalistischen Großstadt, wo der sozialistische Arbeiter sich als aktiver Teilnehmer der Weltpolitik weiß und gespannt die Ereignisse auf dem Balkan oder die Debatten im Deutschen Reichstag verfolgt. Die konzentrierteste Industrie Europas auf der Grundlage der rückständigsten Landwirtschaft Europas. Der kolossalste Staatsmechanismus der Welt, der sich sämtlicher Errungenschaften des technischen Fortschritts bedient, um den historischen Fortschritt in dem eigenen Lande hintan zu halten. In den voran geschickten Kapiteln haben wir uns unter Verzicht auf alle Einzelheiten bemüht, ein allgemeines Bild von den ökonomischen Verhältnissen und sozialen Gegensätzen Russlands zu entwerfen. Das ist der Boden, aus dem die gesellschaftlichen Klassen hervorwachsen, auf dem sie leben und kämpfen. Die Revolution wird uns diese Klassen in der Epoche des angestrengtesten Ringens aufzeigen. In dem politischen Leben aber wirken unmittelbar die zielbewusst gebildeten Körperschaften: die Parteien, die Verbände, die Armee, die Bürokratie, die Presse – und über ihnen die Minister, die „Führer", die Demagogen, die Henker. Die Klassen selbst lassen sich auf den ersten Blick nicht fixieren, sie pflegen gewöhnlich hinter den Kulissen zu bleiben. Was indessen die Parteien und ihre Führer, die Minister und ihre Henker nicht hindert, nichts weiter als Klassenorgane zu sein. Ob diese Organe gut oder schlecht sind, das ist für den Gang und den Ausgang der Ereignisse keineswegs gleichgültig. Wenn die Minister auch nichts anderes sind, als bloße Handlanger der „objektiven Staatsvernunft", so enthebt dies sie nicht im Geringsten der Notwendigkeit, auch unter der eigenen Schädeldecke ein Stückchen Hirn zu besitzen, – ein Umstand, dessen sie nur allzu oft vergehen. Wie auch andererseits die Logik des Klassenkampfes uns nicht der Pflicht enthebt, von unserer eigenen subjektiven Logik Gebrauch zu machen. Wer es nicht versteht, im Rahmen der ökonomischen Notwendigkeit für Initiative und Energie, Talent und Heroismus den erforderlichen Spielraum zu finden, dem ist das philosophische Mysterium des Marxismus nicht aufgegangen. Andererseits aber, wenn wir den politischen Prozess, respektive die Revolution in deren Gesamtheit ersehen wollen, müssen wir die Fähigkeit besitzen, aus all dem buntem Flitterkram der Parteien und Programme, den Ränken und dem Blutdurst der einen, der Opferwilligkeit und dem Idealismus der anderen die wahren Umrisse der Klassen zu entwirren, deren Wurzeln aus dem Grunde der Produktionsverhältnisse ruhen und deren Blüten in den obersten Regionen der Ideologie zur Entfaltung kommen.

Die moderne Stadt

Der Charakter der kapitalistischen Klasse steht in innigem Zusammenhange mit der Geschichte der Entwicklung der Industrie und der Städte. Zwar ist die industrielle Bevölkerung Russlands weniger als anderswo mit der städtischen Bevölkerung identisch. Außer den Fabrikvorstädten, die nur formell den Stadtgrenzen nicht einverleibt sind, haben wir noch eine ganze Reihe von Industriezentren zu verzeichnen, die auf dem platten Lande liegen. Im allgemeinen sind 57 Prozent der Gesamtzahl der Unternehmungen mit 58 Prozent der Gesamtzahl der Arbeiter außerhalb von Städten gelegen. Nichtsdestoweniger bleibt die kapitalistische Stadt die vollkommenste Formträgerin der neuen Gesellschaft.

Das heutige städtische Russland ist das Produkt der letzten Jahrzehnte. In dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts betrug die Bevölkerung der russischen Städte 328.000, was etwa 3 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes ausmachte. Im Jahre 1812 wohnten in Städten 1.600.000 Personen, was immer noch nicht mehr als 4,4 Prozent waren. In der Mitte des 19. Jahrhunderts zählten die Städte 3,5 Millionen Einwohner oder 7,8 Prozent. Endlich – laut Volkszählung vom Jahre 1897 bildet die Bevölkerung der Städte bereits 16,3 Millionen oder etwa 13 Prozent. Von 1885 bis 1897 war die städtische Bevölkerung um 33,8 Prozent, die Dorfbevölkerung aber nur um 12,7 Prozent gewachsen. Noch rascher vollzog sich der Bevölkerungszuwachs in den einzelnen Städten. So zum Beispiel in Moskau, dessen Einwohnerschaft in den letzten 35 Jahren von 604.000 auf 1.359.000; das heißt um 123 Prozent, gestiegen ist. Ein noch rascheres Tempo schlugen die südlichen Städte ein: Odessa, Rostow, Jekaterinoslaw, Baku. …

Parallel mit der Vergrößerung des Umfangs und der Zahl der Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging eine vollkommene Umwälzung in ihrer wirtschaftlichen Rolle und inneren Klassenstruktur vor sich.

Im Gegensatz zu den handwerk-zünftlerischen Städten Westeuropas, die mit aller Kraftanspannung und oft siegreich um die Konzentrierung der bearbeitenden Industrie in ihren eigenen Mauern rangen, übten die alten russischen Städte, gleich den Städten der asiatischen Despotien, fast gar keine Produktionsfunktionen aus. Das waren nichts anderes als nur militärisch-administrative Punkte, Festungen und, in einzelnen Fällen, Handelszentren, die von der Mühe des Dorfes lebten. Ihre Einwohnerschaft bestand aus Heeresangehörigen und Beamten, die von der Krone ihren Unterhalt bekamen, aus Händlern und endlich aus Landleuten, die in den Stadtmauern Schutz, suchten. Selbst Moskau, die größte Stadt des alten Russland, stellte ein umfangreiches, mit dem Zarenpalast verbundenes Dorf vor. Das Handwerk in den Städten nahm einen ganz untergeordneten Platz ein, denn die bearbeitende Industrie von damals war, wie wir gesehen haben, in der Gestalt der Heimarbeit über die Dörfer verstreut. Die Vorfahren jener 4 Millionen Dorfheimarbeiter, die die Zählung von 1897 anführt, waren es, die die Produktionsfunktionen des westeuropäischen Handwerks innehatten, jedoch im Gegensatz zu diesem blieben sie an dem Prozess der Schaffung von Manufaktur und Fabrik gänzlich unbeteiligt. Als die letztere erschien, proletarisierte sie die gute Hälfte der Heimarbeiter, den Rest machte sie sich direkt und indirekt Untertan.

In derselben Weise wie die russische Industrie die Epoche des mittelalterlichen Handwerks nicht durchmachte, so kannten auch die russischen Städte nicht das allmähliche Großwerden des dritten Standes in den Zünften, Gilden, Kommunen und Munizipien. Das europäische Kapital schuf im Laufe weniger Jahrzehnte die russische Industrie, und die russische Industrie ihrerseits schuf die heutigen Städte, in denen die grundbildenden Produktionsfunktionen von dem modernen Proletariat ausgeübt werden.

Die kapitalistische Großbourgeoisie

Die ökonomische Herrschaft fiel so dem Großkapital ohne Kampf in den Schoß. Aber die gewaltige Rolle, die das ausländische Kapital hierbei gespielt hatte, war von vernichtender Rückwirkung aus den politischen Einfluss der russischen Bourgeoisie. Zufolge der tiefen Verschuldung des Staates floß ein beträchtlicher Teil der Nationaleinkünste nach dem Auslande, um die Finanzbourgeoisie Westeuropas zu bereichern und zu stärken. Doch die Börsenaristokratie, die in den europäischen Ländern die Hegemonie in Händen hat und die die zarische Regierung ohne jede Anstrengung zu ihrem Finanzvasallen machte, wollte und konnte nicht ein Bestandteil der bürgerlichen Opposition in Russland selbst werden, – schon deshalb, weil keine andere nationale Regierung ihr so enorme Wucherzinsen zubilligen würde, wie gerade der Zarismus. Aber nicht nur das Finanzkapital, – auch das ausländische Industriekapital, das die russischen Naturschätze und die russische Arbeitskraft ausbeutete, realisierte seine politische Macht außerhalb der Grenzen Russlands – in dem französischen, belgischen oder englischen Parlament.

Indes auch das einheimische Kapital vermochte sich nicht zu der Führerschaft in dem nationalem Kampfe gegen den Zarismus aufschwingen, weil es von vornherein in einen feindlichen Gegensatz zu den Volksmassen geriet – zu dem Proletariat, das es unmittelbar, und zu der Bauernschaft, die es mittelbar durch den Staat ausbeutet. Insbesondere gilt das Gesagte in Bezug auf die schwere Industrie. Diese letztere befindet sich heute allenthalben in Abhängigkeit von den staatlichen Unternehmungen, vorzüglich dem Militarismus. Wohl ist der Industrie viel an dem Bestande einer „firmen bürgerlichen Rechtsordnung" gelegen; noch mehr aber an einer konzentrierten Staatsmacht, der großen Spenderin der Wohltaten. Denn in ihren eigenen Fabriken stehen die Metallunternehmer von Angesicht zu Angesicht mit dem fortschrittlichsten und aktivsten Teile der Arbeiterschaft der jede Schwächung des Zarismus benutzt, um gegen das Kapital Sturm zu laufen.

Die Textilindustrie ist in geringerem Maße als irgend ein anderer Industriezweig vom Staate abhängig; überdies liegt es in ihrem eigenen Interesse, dass die Kaufkraft der Massen, die ohne eine radikale Agrarreform undenkbar in, möglichst gesteigert werde. Daher entwickelt auch das textile Moskau im Jahre 1905 eine weit schroffere, wenn nicht energischere Opposition gegenüber der autokraten Bürokratie, als das metallurgische Petersburg. Die Moskauer Stadtduma sah mit unzweifelhaftem Wohlwollen der wachsenden Brandung zu. Aber um so entschiedener und „prinzipieller" schlugen sich die Stadtväter auf Seite der festen Staatsgewalt, sobald die Revolution ihren ganzen sozialen Gehalt vor ihnen aufdeckte und zugleich damit die Textilarbeiter auf denselben Weg stieß, den die Metallarbeiter bereits beschritten hatten. Seinen Führer fand das konterrevolutionäre Kapital, das mit dem konterrevolutionären Grundbesitz einen Pakt schloss, in der Person des Moskauer Kaufmanns Gutschkow, des späteren Leaders der Majorität in der dritten Reichsduma.

Die bürgerliche Demokratie

Indem das westeuropäische Kapital das russische Handwerk im Keime erstickte, zog es eben dadurch der bürgerlichen Demokratie den sozialen Boden unter den Füßen fort. Kann man denn das heutige Petersburg oder Moskau mit dem Berlin oder Wien von 1848 und um so mehr mit dem Paris von 1789 vergleichen, das sich weder von der Eisenbahn, noch von dem Telegraphen träumen ließ und eine Manufaktur mit 300 Arbeitern für ein Riesenunternehmen hielt? Bei uns in auch nicht die geringste Spur vorhanden von jenem kernigen Bürgertum, das die jahrhundertlange Schule der Selbstverwaltung und des politischen Kampfes durchmachte und dann Hand in Hand mit dem jungen, noch nicht zu einer Klasse formierten Proletariat die Bastillen der Feudalherrschaft stürmte. Was kam nach ihm? Der „neue dritte Stand", die professionelle Intelligenz: Advokaten, Journalisten, Ärzte, Ingenieure, Professoren, Lehrer, ohne selbständige Bedeutung in der gesellschaftlichen Produktion, an Zahl gering, ökonomisch abhängig, sucht diese Schicht in richtigem Gefühl der eigenen Ohnmacht unentwegt nach einer massiven gesellschaftlichen Klasse, an die sie sich anlehnen könnte. Und, o Wunder! Eine solche Stütze fand sich anfänglich nicht in der Person der Kapitalisten, sondern in der der Grundbesitzer.

Die Partei, die im Laufe der letzten zwei Jahre in den liberalen Sphären den Ton angab – die Kadetten –, bildete sich aus der im Jahre 1905 erfolgten Verschmelzung des Verbandes der Semstwo-Konstitutionalisten mit dem „Verband der Befreiung". In der liberalen Fronde der Semstwos fanden ihren Ausdruck einerseits der neidische Unwille der Agrarier über den ungeheuerlichen industriellen Protektionismus der Regierung, andererseits die Opposition der fortschrittlicher gesinnten Grundbesitzer, die durch die Barbarei der russischen Agrarverhältnisse gehindert wurden, ihren Wirtschaftsbetrieb auf kapitalistischem Fuße einzurichten. Der „Verband der Befreiung" vereinte unter seiner Fahne jene Elemente der Intelligenz, die wegen ihrer „anständigen", gesellschaftlichen Position und der damit verbundenen Sattheit den revolutionären Weg nicht gut beschreiten konnten. Die Semstwoopposition trug von jeher den Stempel der feigen Impotenz an der Stirn und die gekrönte Weisheit sprach nur die bittere Wahrheit aus, als sie im Jahre 1894 die politischen Forderungen der Semtzi als „sinnlose Schwärmereien" bezeichnete. Aus der anderen Seite war auch die privilegierte Intelligenz. die direkt oder indirekt von dem Staate, den von ihm protegierten Großkapital oder dem zensusliberalen Grundbesitz abhing, durchaus dazu unfähig, eine auch nur einigermaßen gewichtige Opposition zu entwickeln. Die Kadettenpartei bildete demnach eine Vereinigung aus der oppositionellen Impotenz der Semtzi mit der allgemeinen Impotenz der diplomierten Intelligenz. Wie sehr der Sernstwoliberalismus nur an der Oberfläche haftete, zeigte mit voller Anschaulichkeit schon das Jahr 1905, als die Gutsbesitzer unter dem Einfluss der Agrarrevolten ganz entschieden nach rechts – zu dem alten Regime – abschwenkten. Tränenden Auges musste die liberale Intelligenz den Gutshof verlassen, wo sie eigentlich nur ein Adoptivkind gewesen war, um auf ihrem historischen Heimatboden, in den Städten, Unterkunft zu suchen. Was fand sie aber hier außer sich selbst? Das konservative Großkapital, das revolutionäre Proletariat und den unversöhnlichen Klassenantagonismus zwischen beiden.

Derselbe Antagonismus spaltete bis auf den Grund auch die Kleinproduktion auf allen jenen Gebieten, wo sie noch eine Bedeutung besaß. Das handwerkerliche Proletariat entwickelte sich in der Atmosphäre der Großindustrie und unterscheidet sich nur wenig von dem Proletariat der Fabriken. Von der Großindustrie und der Arbeiterbewegung in die Enge getrieben, bilden die russischen Handwerker eine rückständige, halb hungrige, verbitterte Klasse, die neben dem städtischen Lumpenproletariat das Hauptkontingent der schwarzhundertlerischen Demonstranten und Pogromisten stellt. … Alles in allem: hoffnungslos verspätet, unter dem Schall der sozialistischen Flüche geboren, schwebt die bürgerlich-demokratische Intelligenz über dem Abgrund der Klassengegensatze – mit gutsherrlichen Traditionen belastet, in Professorenvorurteilen verstrickt, ohne Initiative, ohne Einfluss auf die Massen und ohne Zutrauen zu dem kommenden Tag.

Das Proletariat

Dieselben Ursachen der weltgeschichtlichen Entwicklung, die die bürgerliche Demokratie in Russland in einen Kopf (die Intelligenz!) ohne Rumpf verwandelten, bereiteten die Bedingungen für die hervorragende Rolle des jungen russischen Proletariats vor. Vor allem aber: wie groß ist die Jahr des letzteren?

Die überaus unvollständigen Ziffern der Zählung von 1897 geben uns hieraus folgende Antwort:

Anzahl der Arbeiter:

A. Berg- und verarbeitende Industrie, Verkehrswege, Baugewerbe und Handelsunternehmungen

3.322.000

B. Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischfang und Jagd

2.723.000

C. Tagelöhner und Hilfsarbeiter

1.095.000

D. Dienstboten, Portiers, Hausbesorger usw.

2.132.000

Gesamtanzahl (Männer und Frauen)

9.272.000

Zusammen mit den abhängigen Familienmitgliedern bildete das Proletariat im Jahre 1897 27,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, das heißt, etwas über ein Viertel derselben. Die politische Aktivität der einzelnen Schichten dieser Masse weist einen großen Unterschied auf und die leitende Rolle in der Revolution fällt fast ausschließlich den Arbeitern der ersten Kategorie (stehe Tabelle) zu. Es wäre indes grundfalsch, wenn man für die wirkliche und mögliche Bedeutung des russischen Proletariats in der Revolution als Maßstab seine relative Anzahl wählen wollte. Das hieße, über der nackten Ziffer ganz und gar die sozialen Verhältnisse übersehen.

Der Einfluss des Proletariats wird durch seine Stellung in dem modernen Wirtschaftsleben bestimmt. Die mächtigsten Mittel der nationalen Produktion stehen in direkter und unmittelbarer Abhängigkeit von dem Proletariat. 3,3 Millionen Arbeitskräfte (Gruppe A) bringen nicht weniger als die Hälfte des jährlichen Nationaleinkommens hervor! Die wichtigsten Kommunikationsmittel – die Eisenbahnen –, die eben das gewaltige Land zu einem ökonomischen Ganzen machen, bedeuten, wie es die Ereignisse gelehrt haben, in den Händen des Proletariats eine ökonomische und politische Position von unermesslicher Tragweite. Hierzu gesellen sich noch Post und Telegraph, die sich zwar in nicht so unmittelbarer, dennoch aber sehr realer Abhängigkeit von dem Proletariat befinden. Während die Bauernschaft über das ganze Land zerstreut ist, sehen wir das Proletariat in großen Maßen in den Fabriken und Industriezentren mobilisiert. Es bildet den Kern der Bevölkerung in jeder Stadt, die wirtschaftlich oder politisch von Bedeutung ist – und all die Vorzüge, die der Stadt in dem kapitalistischen Lande eigen sind: Konzentration der Produktionskräfte, Ansammlung der aktivsten Elemente der Bevölkerung und der hauptsächlichsten Kulturgüter –, alle diese Vorzüge verwandeln sich naturgemäß in Klassenvorzüge des Proletariats. Seine Klassenselbstbestimmung vollzog sich mit einer in der Geschichte beispiellos dastehenden Schnelligkeit. Kaum der Wiege entwachsen, sah sich das russische Proletariat der konzentriertesten Staatsgewalt und einer nicht minder konzentrierten Kapitalmacht gegenübergestellt. Zünftlerische Traditionen und handwerkerliche Vorurteile hatten keine Gewalt über sein Bewusstsein gehabt. Gleich nach den ersten Schritten stand es mitten in der Bahn des unversöhnlichen Klassenkampfes.

Auf diese Weise führten in der Politik die Bedeutungslosigkeit des Handwerks, überhaupt der Kleinproduktion, und der überaus entwickelte Charakter der russischen Großindustrie zu der Verdrängung der bürgerlichen Demokratie durch die proletarische. Zugleich mit den Produktionsfunktionen des Kleinbürgertums übernahm die Arbeiterklasse deren einstige politische Rolle und deren historische Ansprüche auf die Führerschaft über die Bauernmassen in der Epoche ihrer Standesemanzipierung von dem feudal-fiskalischen Joche.

Der politische Probierstein, an dem die Geschichte die städtischen Parteien einer Prüfung unterwarf, war die Agrarfrage.

Der Adel und der Grundbesitz

Das kadettische, richtiger gesagt: das einstige kadettische Programm der Zwangsenteignung des mittleren und des Großgrundbesitzes auf der Grundlage einer „gerechten" Abschätzung gibt nach der Ansicht der Kadetten das Maximum dessen, was im Wege der gesetzgeberischen Schaffensarbeit" erreicht werden kann. In Wirklichkeit aber sicherte der liberale Versuch, die Grundbesitzerländereien auf gesetzgeberischem Wege zu enteignen, nur zu der Enteignung der Wahlrechte durch die Regierung und zu dem Staatsstreich vom 16. Juni. Die Kadetten erblickten in der Liquidierung des Landadels eine rein finanzielle Operation und waren von der redlichen Absicht erfüllt, ihrer „gerechten Abschätzung" einen für die Gutsbesitzer möglichst annehmbaren Inhalt zu verleihen. Der Adel aber sieht die Sache mit ganz anderen Augen an. Mit seinem unfehlbaren Instinkte begriff er sofort, dass es sich hierbei nicht um den einfachen Verkauf von 50 Millionen Desjatinen – wenn auch zu hohen Preisen – handle, sondern um die Liquidierung seiner ganzen sozialen Rolle als herrschender Stand und schlug es rundweg ab, sich selbst zu versteigern. „So möge denn", rief zur Zeit der ersten Duma Graf Saltykow den Grundbesitzern zu, „Ihre Parole und Ihre Losung lauten: nicht einen Fußbreit unseres Landes, nicht ein Sandkörnchen unserer Felder, nicht einen Halm unserer Wiesen, nicht eine Reisigrute unserer Wälder!" Und das war nicht die Stimme eines Rufenden in der Wüste: o nein – gerade die Jahre der Revolution bilden die Periode der Standeskonzentrierung und der politischen Festigung des russischen Adels. In den Zeiten der finstersten Reaktion unter Alexander III. war der Adel einer der Stände, wenn auch der erste. Denn der Absolutismus, der streng über der eigenen Unabhängigkeit wachte, ließ den Adel auch keinen Augenblick lang der Polizeiaufsicht entschlüpfen und legte selbst der Sprache seiner Standeshabsucht den Maulkorb der Kontrolle auf. Heute aber ist der Adel in vollstem Sinne des Worts der kommandierende Stand: er lässt die Gouverneure nach seiner Pfeife tanzen, droht den Ministern und setzt sie offen ab, stellt der Regierung Ultimata und erzwingt deren Ausführung. Seine Losung ist: nicht einen Fuß breit unseres Landes, nicht ein Jota unserer Privilegien!

In den Händen von 60.000 Privatgrundbesitzern mit einem Jahreseinkommen von mehr als 1000 Rubel sind etwa 75 Millionen Desjatinen Land vereinigt: bei einem Marktpreis von 56 Milliarden Rubel bringt es seinen Eigentümern jährlich mehr als 450 Millionen Rubel Reinertrag. Nicht weniger als zwei Drittel dieser Summe entfallen auf den Adel. – Mit dem Landbesitz eng liiert ist die Bürokratie. Auf 30.000 Beamte, die über 1000 Rubel Revenuen beziehen, kommen jährlich fast 200 Millionen Rubel an Gehaltsgeldern. Und gerade in diesen mittleren und oberen Kategorien der Beamtenschaft dominiert der Adel ganz erheblich. Endlich genießt derselbe Adel noch das ungeteilte Verfügungsrecht über die Organe der Semstwoselbstverwaltung und die aus derselben fließenden Profite.

Wenn bis zur Revolution an der Spitze der guten Hälfte der Semstwos die liberalen Gutsbesitzer standen, die sich durch ihre „kulturelle" Beteiligung in den Semstwoverwaltungen einen Namen gemacht hatten, so brachten die Jahre der Revolution, wie wir schon erwähnt haben, eine völlige Umwälzung auf diesem Gebiete hervor, deren Ergebnis war, dass der Vorsitz in den Semstwos an die unversöhnlichsten Vertreter der gutsbesitzerlichen Reaktion überging. Der allmächtige Rat des geeinigten Adels unterdrückt im Keime die von der Regierung im Interesse des industriellen Kapitals unternommenen Versuche, die Semstwos zu „demokratisieren" oder die der Bauernschaft auferlegten Standesfesseln zu lockern.

Angesichts dieser Tatsachen erweist sich das kadettische Agrarprogramm in seiner Eigenschaft als Grundlage der gesetzgeberischen Vereinbarung als hoffnungslos utopistisch, und es kann daher niemand verwundern, wenn die Kadetten stillschweigend von demselben Abstand nahmen.

Die Sozialdemokratie hielt sich bei ihrer Kritik des kadettischen Programms hauptsächlich an die „gerechte Abschätzung" – und hatte vollkommen recht mit dieser Methode. Denn schon vom finanziellen Standpunkt betrachtet, hätte die Loskaufung der Güter, die ihren Besitzern jährlich über 1000 Rubel bringen, unsere 9 Milliarden betragende Staatsschuld um die hübsche Summe von 5 bis 6 Milliarden erhöht, – dies heißt so viel, dass die Zinsen allein im Ganzen jährlich ¾ Milliarde verschlungen hinten. Die ausschlaggebende Bedeutung aber hat nicht die finanzielle, sondern die politische Seite der Frage.

Die Bedingungen der sogenannten Befreiungsreform von 1861 mit ihrer übertrieben hohen Loskaufsumme für die Bauerngrundstücke bedeuteten de facto eine Entschädigung der Gutsbesitzer für die ihnen weggenommenen Bauernseelen (im Umfange von ¼ Milliarde, das heißt 20 Prozent der gesamten Loskaufsumme). Damals wurden tatsächlich große politische Rechte und Vorrechte des Adels mit Hilfe der „gerechten Abschätzung" liquidiert, und dieser letztere verstand es, sich der partiellen Befreiungsreform anzupassen und sich mit ihr auszusöhnen. Er legte damals einen ebenso richtigen Instinkt an den Tag, wie heute, wo er sich ganz entschieden sträubt, Standesselbstmord zu begehen, – sei es auch unter „gerechter Abschätzung". Nicht einen Fuß breit unseres Landes und nicht ein Jota von unseren Privilegien! Unter dieser Fahne bemächtigte sich der Adel endgültig des von der Revolution erschütterten Regierungsapparates und zeigte, dass er mit der ganzen Zähigkeit und Erbitterung zu kämpfen bereit sei, deren eine herrschende Klasse fähig ist, wenn es sich um Sein oder Nichtsein handelt. Nicht auf dem Wege parlamentarischer Vereinbarungen mit diesem Stande, sondern nur durch den revolutionären Vorstoß der Massen kann die Agrarfrage ihrer Lösung entgegen geführt werden.

Das Bauerntum und die Stadt

Der Knoten der politischen Barbarei Russlands wurde im Dorfe geschnürt; das bedeutet aber sicher noch nicht, dass das Dorf auch die Klasse hervorgebracht habe, fähig, diesen Knoten aus eigenen Machtmitteln zu durchhauen. Über 5 Millionen Quadratwerst des europäischen Russland und 500.000 Dörfer zerstreut, erbte die Bauernschaft aus ihrer Vergangenheit nicht die geringste Tradition eines koordinierten politischen Kampfes. In der Periode der Agrarrevolten der Jahre 1905 bis 1906 erblickten die aufständischen Bauern ihre Aufgabe nur in der Vertreibung der Gutsbesitzer aus dem Bereiche ihres Dorfes, ihrer Wolost oder auch ihres Kreises. Gegen die bäuerliche Revolution hatte der Landadel den fertigen zentralisierten Staatsapparat zu seiner Verfügung. Dieser Widerstand hätte von der Bauernschaft nur durch eine allgemeine und gleichzeitige Erhebung gebrochen werden können. Zu einer solchen erwies sie sich jedoch unfähig, den ganzen Bedingungen ihrer Existenz nach. Der lokale Kretinismus – das ist der historische Fluch sämtlicher Bauernaufstände, von dem sie sich nur insofern befreien, inwiefern sie über rein bäuerlichen Charakter hinauswachsen und an die revolutionären Bewegungen der neuen gesellschaftlichen Klassen sich anschließen.

Schon zu den Zeiten des deutschen Bauernkriegs in dem ersten Vierteljahrhunderts stellte sich die Bauernschaft trotz der ökonomischen und politischen Schwäche der Städte in dem damaligen Deutschland unter die unmittelbare Leitung der städtischen Parteien. Sozialrevolutionär ihren Interessen nach, jedoch politisch zersplittert und hilflos, war die Bauernschaft außerstande, sich eine eigene Partei zu schaffen und verhalf je nach den lokalen Verhältnissen – bald der bürgerlich-oppositionellen, bald der plebejisch-revolutionären Partei der Stadt zum Übergewicht. Diese letztere, die einzige Macht, die der Bauernschaft den Sieg hätte sichern können, stützte sich zwar auf die radikalste Klasse der damaligen Gesellschaft, das Vorproletariat, entbehrte aber selbst jedes allgemein-nationalen Bandes und einer klaren Erkenntnis über die revolutionären Ziele. Das eine wie das andere war undenkbar bei der ökonomischen Unentwickeltheit des Landes, den primitiven Verkehrswegen und dem Partikularismus unter den Staaten. Auf diese Weise wurde damals die Aufgabe des revolutionären Zusammengehens zwischen dem rebellischen Dorfe und dem städtischen Plebs nicht gelost und konnte es auch nicht werden. Die Bauernbewegung wurde niedergestampft …

Etwa drei Jahrhunderte später wiederholten sich dieselben Verhältnisse in der Revolution des Jahres 1848. Nicht nur wollte und konnte nicht die liberale Bourgeoisie die Bauernschaft zur Erhebung bringen und um sich vereinen, sondern sie fürchtete mehr als alles andere ein Anwachsen der Bauernbewegung – eben deshalb, weil diese vor allem die Position der plebejisch-radikalen Elemente in der Stadt gestärkt und gefestigt hätte. Andererseits hatten diese letzteren ihre sozialpolitische Formlosigkeit und Zersplitterung noch nicht überwunden und waren daher unfähig, unter Beiseiteschiebung der liberalen Bourgeoisie sich selbst an die Spitze der Bauernmassen zu stellen. Die Revolution des Jahres 1848 erleidet eine Niederlage … Indes sechs Jahrzehnte früher sehen wir in Frankreich die siegreiche Verwirklichung der Aufgaben der Revolution dank der Kooperation zwischen der Bauernschaft und dem städtischen Plebs, das heißt den Proletariern, Halbproletariern und Lumpenproletariern jener Epoche. Diese „Kooperation" nahm die Form der Diktatur des Konvents an, das heißt, der Diktatur der Stadt über das Dorf, der Diktatur von Paris über die Provinz und die der Sansculotten über Paris.

Bei den Bedingungen des heutigen Russland Ist das soziale Übergewicht der industriellen Bevölkerung über die ackerbautreibende unvergleichlich beträchtlicher, als in der Epoche der alten europäischen Revolutionen, – und zu gleicher Zeit hat in den heutigen russischen Städten den Platz des chaotischen Plebs das schroff ausgeprägte industrielle Proletariat eingenommen. Eins aber hat sich nicht verändert: auf die Bauernschaft kann sich nach wie vor nur diejenige Partei stützen, die die meist revolutionären Massen der Städte hinter sich hat und die sich durch die fromme Scheu vor dem bürgerlichen Eigentum nicht abhalten lassen wird, an dem feudalen Eigentum kräftiglich zu rütteln. Eine solche Partei ist im gegenwärtigen Augenblicke nur die Sozialdemokratie.

Der Charakter der russischen Revolution

Ihren direkten und unmittelbaren Aufgaben nach ist die russische Revolution eine „bürgerliche", denn sie strebt danach, die bürgerliche Gesellschaft aus den Fesseln und Schlingen des Absolutismus und des feudalen Eigentums zu befreien. Aber die Haupttriebkraft dieser Revolution bildet das Proletariat – und daher ist sie ihrer Methode nach eine proletarische. Dieser Widerspruch erwies sich als eine gar harte Nuss für viele Pedanten, die die historische Rolle des Proletariats vermittels arithmetisch-statistischer Kalkulationen oder sozialer geschichtlicher Analogien bestimmen. Für Sie gilt als die von der Vorsehung auserkorene Führerin der russischen Revolution die bürgerliche Demokratie, das Proletariat aber, das tatsächlich in allen Perioden der revolutionären Hochflut an der Spitze der Ereignisse schritt, suchen diese Pedanten in die Windeln der eigenen theoretischen Unzulänglichkeit zu schlagen. In ihren Augen wiederholt die Geschichte der einen kapitalistischen Nation – mit größeren oder kleineren Abweichungen – die Geschichte der anderen. Sie bleiben taub und blind für den in der Jetztzeit allein geltenden Prozess der kapitalistischen Weltentwicklung, der alle ihm auf dem Wege begegnenden Länder verschlingt und aus der Vereinigung der einheimischen Bedingungen mit den allgemeinen kapitalistischen ein Amalgam bildet, dessen Natur nicht durch die historische Schablonisierung, sondern nur mit Hilfe der materialistischen Analyse destilliert werden kann.

Zwischen England, dem Pionier der kapitalistischen Entwicklung, das im Laufe von Jahrhunderten neue soziale Formen und als deren Trägerin die mächtige Bourgeoisie schuf, und den heutigen Kolonien, wohin das europäische Kapital aus fertigen Panzerschiffen fertige Schienen, Schwellen, Nägel, ebenso wie Pulmansche Wagen für die Kolonialadministration bringt und dann mit Hilfe des Mannlichergewehrs und des Bajonetts die Eingeborenen aus ihrem primitiven Milieu hinaus jagt, um sie in die kapitalistische Zivilisation hineinzuzwängen, besteht keine Analogie der historischen Entwicklung, wohl aber ein tiefer innerer Zusammenhang.

Das neue Russland erhielt einen ganz eigenartigen Charakter dank dem Umstande, dass seine kapitalistische Taufe – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – von dem europäischen Kapital in seiner konzentriertesten und sublimiertesten Form, dem Finanzkapital, vollzogen wurde. Die historische Vergangenheit des letzteren weist nicht das geringste verwandtschaftliche Band mit der historischen Vergangenheit Russlands auf. Um in der eigenen Heimat zu der Höhe der modernen Börse emporzusteigen, musste es sich vorerst aus den engen Gassen und Gässchen der handwerkerlichen Stadt herausarbeiten, wo es seine ersten Gehversuche machte; es musste in unaufhörlichem Kampfe mit der Kirche die Technik und der Wissenschaft der Entwicklung zuführen, die Nation um sich scharen, auf dem Wege der Erhebung gegen die feudalen und dynastischen Vorrechte die Macht an sich reißen, sich freie Bahn schaffen, die selbständige Kleinproduktion, aus der es selbst herausgewachsen war, endgültig zu Boden drücken – um dann, nachdem es sich von der nationalen Nabelschnur, von den Gräbern der Väter, den politischen Vorurteilen, den Rassensympathien, der geographischen Länge und Breite losgetrennt hatte, sich voller Gier über den Erdball zu erheben, – heute den von ihm selbst ruinierten Chinesen durch die Opiumpfeife zu vergiften, morgen die russischen Gewässer mit neuen schwimmenden Festungen zu bereichern, übermorgen die Diamantfelder Südafrikas in seinen Besitz zu bringen.

Wenn aber das englische oder französische Kapital, das historische Verdichtungsprodukt einer Reihe von Jahrhunderten, die Steppen des Donezbassins betrat, zeigte es sich von Grund auf unfähig, dieselben sozialen Kräfte, Verhältnisse und Leidenschaften aus sich auszuscheiden, die es selbst nacheinander in sich aufgesogen hat. Es wiederholt nicht etwa auf dem neuen Territorium die von ihm selbst durchgemachte Metamorphose, sondern pflegt dort einzusetzen, wo es in der eigenen Heimat stehen geblieben ist. Um die Maschinen, die es über Ozeane und Zollämter hinüber geschleudert hat, konzentriert es ohne Zwischenetappen die proletarischen Massen, und die ganze in ihm selbst erstarrte revolutionäre Energie der alten bürgerlichen Generationen gießt es in diese Klasse um.

In der heroischen Periode der französischen Geschichte sehen wir eine Bourgeoisie die die Gegensätze ihrer eigenen Interessen sich noch nicht zum Bewusstsein gebracht hat, die durch das Gebot der Geschichte zur Führerschaft in dem Kampfe die neue Ordnung der Dinge auserkoren ist – nicht nur gegen die absterbenden Institutionen Frankreichs, sondern auch gegen die reaktionären Mächte des gesamten Europas. Die Bourgeoisie gelangt erst allmählich, in der Person aller ihrer Fraktionen, zu der Erkenntnis Aufgabe, sie wird zur Führerin der Nation, reißt die Massen mit sich in den Kampf, gibt ihnen die Losung, diktiert ihnen die Kampftaktik. Die Demokratie schweißt das Volk durch die politische Ideologie zusammen. Das Volk – die Kleinbürger, die Bauern, die Arbeiter – wählt zu seinen Deputierten Bürger, und die Aufträge, die diesen mit auf den Weg gegeben werden, sind in der Sprache der Bourgeoisie abgefasst, die sich zu dem Bewusstsein ihrer Messiasrolle durchringt. Während der Revolution selbst kommen zwar die Klassengegensatze an die Oberfläche, aber das unwiderstehliche Beharrungsvermögen des revolutionären Kampfes räumt die rückständigsten Elemente des Bürgertums der Reihe nach aus dem politischen Wege. Jede einzelne Schicht löst sich nicht eher los, als bis sie ihre Energie den nächstfolgenden übergeben hat. Die Nation als Ganzes fährt dabei fort, mit immer schrofferen und entschiedeneren Mitteln für ihre Ziele zu kämpfen. In dem Augenblicke, wo von dem nationalen Kern, der in Bewegung gekommen ist, die Spitzen der besitzenden Bourgeoisie sich abtrennen und eine Koalition mit Ludwig XVI. eingehen, führen die demokratischen Forderungen, die bereits gegen gegen diese Bourgeoisie gerichtet sind, zu dem allgemeinen Wahlrecht und der Republik, als den logisch unausbleiblichen Formen der Demokratie.

Die große französische Revolution ist tatsächlich eine nationale Revolution. Noch mehr Hier finden im nationalen Rahmen seinen klassischen Ausdruck der Weltkampf der bürgerlichen Ordnung um die Hegemonie, die Macht, den ungeteilten Triumph. Im Jahre 1848 ging der Bourgeoisie bereits die Fähigkeit ab eine solche Rolle zu übernehmen. Sie hatte keine Lust und auch keinen Mut, die Verantwortung für die revolutionäre Liquidierung der gesellschaftlichen Ordnung, die ihr den Weg zur Herrschaft verlegte, auf sich zu laden. Ihre Aufgabe, wie sie sich dessen auch durchaus bewusst war, bestand darin, in die alte Ordnung die nötigen Garantien zu tragen – nicht für ihre politische Alleinherrschaft, sondern für das Mitregieren mit den Mächten der Vergangenheit.

Nicht nur führte sie nicht die Massen in den Sturm auf die alte Ordnung, sondern stemmte sich sogar mit dem Rücken gegen dieselbe alte Ordnung, um die nachdrängenden Massen zurück zu dämmen. Ihr Bewusstsein lehnte sich gegen die objektiven Voraussetzungen ihrer eigenen Herrschaft auf. Die demokratischen Institutionen malten sich in ihrem Kopfe nicht als das Endziel ihres Kampfes, sondern als die Bedrohung ihrer Wohlfahrt. Die Revolution konnte nicht durch sie, sondern nur gegen sie zu Ende geführt werden. Daher war im Jahre 1848 für den Erfolg der Revolution eine Klasse nötig, die das Zeug besessen hätte, unabhängig von der Bourgeoisie und entgegen ihrem Willen sich an die Spitze der Ereignisse zu stellen; die bereit gewesen wäre, die Bourgeoisie nicht nur durch die Macht ihres Druckes vorwärts zu schieben, sondern auch im entscheidenden Momente deren politischen Leichnam aus der eigenen Bahn zu räumen.

Weder das Kleinbürgertum, noch die Bauernschaft waren hierzu fähig.

Das Kleinbürgertum stand nicht nur dem vergangenen, sondern auch dem kommenden Tage feindlich gegenüber. Noch ganz und gar in den mittelalterlichen Verhältnissen steckend, wenn auch nicht mehr imstande, sich des Ansturms der „freien" Industrie zu erwehren; noch für die Physiognomie der Städte maßgebend, jedoch bereits im Begriffe, seinen Einfluss an die mittlere und die Großbourgeoisie abzutreten; in seinen Vorurteilen versunken durch den Donner der Ereignisse betäubt, ausbeutend und ausgebeutet, habgierig und in seiner Habgier hilflos, war das Krähwinkel-Kleinbürgertum wohl kaum imstande, Weltereignisse zu lenken.

Die Bauernschaft war in noch höherem Maße jeder selbständigen politischen Initiative bar. Zerstreut, abgeschnitten von den Städten, diesen Nervenzentren der Politik und der Kultur, stumpfsinnig, mit einem geistigen Gesichtskreis, der über den Gemeindebezirk nicht hinausreicht, gleichgültig gegenüber allem, was die Stadt ersonnen hatte, konnte die Bauernschaft keine führende Bedeutung haben. Sie beruhigte sich, sobald man ihr nur die Last der Feudalfronen von den Schultern nahm, und zahlte der Stadt die für ihre Rechte gekämpft hatte, mit schwarzem Undank heim, denn die emanzipierten Bauern wurden die Fanatiker der „Ordnung".

Die Intellektuellendemokratie, einer selbständigen Klassenkraft beraubt, humpelte bald hinter ihrer älteren Schwester, der liberalen Bourgeoisie als deren politischer Schweif her, bald trennte sie sich von ihr in kritischen Momenten, um alsdann die ganze eigene Ohnmacht bloßzulegen. Sie wusste inmitten all der noch nicht reif gewordenen Gegensätze weder ein noch aus und in ihren gesamten Handlungen brachte sie diese Verwirrung hinein. Das Proletariat war zu schwach, besaß keine Organisationen, keine Erfahrung keine Kenntnisse. Die kapitalistische Entwicklung war weit genug vorgeschritten, um die Abschaffung der alten Feudalverhältnisse als ein zwingendes Gebot erscheinen zu lassen, jedoch nicht weit genug, um die Arbeiterklasse, das Produkt der neuen Produktionsverhältnisse, als entscheidende politische Macht in den Vordergrund zu rücken. Der Antagonismus zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie war zu weit gediehen, als dass die Bourgeoisie noch die Möglichkeit besessen hätte, ohne Bedenken in der Rolle der Nationalführerin auszutreten, jedoch nicht weit genug, um dem Proletariat die Übernahme dieser Rolle zu gestatten.

Österreich hat uns ein besonders markantes und tragisches Muster dieser Unfertigkeit der politischen Verhältnisse in einer revolutionären Periode geliefert.

Das Wiener Proletariat bekundete im Jahre 1848 den selbstlosesten Heroismus und eine große revolutionäre Energie. Immer wieder warf es sich ins Feuer, nur von dem dunklen Klasseninstinkt allem getrieben. Sich von Losung zu Losung fort tastend, jeder umfassenden Vorstellung über die Ziele ihres Kampfes bar. Die Führerschaft über das Proletariat ging sonderbarerweise auf die Studentenschaft über, die einzige demokratische Gruppe, die dank ihrer Aktivität großen Einfluss auf die Massen – und folglich auf die Ereignisse – ausübte. Aber wenn auch die Studenten fähig waren, tapfer auf den Barrikaden zu kämpfen und mit den Arbeitern ehrliche Brüderschaft zu halten verstanden, den allgemeinen Gang der Ereignisse, der ihnen die Diktatur über die Straße verliehen hatte, zu leiten, waren sie jedoch nicht reif genug. Als am 26. Mai das ganze arbeitende Wien sich auf den Ruf der Studenten wie ein Mann erhob, um gegen die Entwaffnung der „akademischen Legion" in die Schranke zu treten; als die Einwohnerschaft die Macht über die Stadt tatsächlich in ihre Hände bekam; als die auf der Flucht befindliche Monarchie jede Bedeutung verlor; als unter dem Drucke des Volkes die letzten Truppen aus der Stadt zurückgezogen wurden; als die Staatsgewalt Österreichs sich so als erbloses Gut erwies, – da war keine einzige politische Macht da, die das Staatssteuer hätte an sich bringen.können.

Die liberale Bourgeoisie weigerte sich mit vollem Bewusstsein, sich einer Gewalt zu bedienen, die auf so räuberische Weise errungen worden war. Ihr einziger Traum war, dass der Kaiser, der sich nach Tirol gewandt hatte, in die verwaiste Residenz zurückkehren möge. Die Arbeiter hatten genug Mannhaftigkeit besessen, um die Reaktion zu zerschmettern; sie waren jedoch nicht organisiert und klassenbewusst genug um deren Platz einzunehmen. Unfähig, selbst das Staatssteuer zu erfassen, war das Proletariat auch außerstande, zu dieser historischen Tat die bürgerliche Demokratie zu bewegen, die, wie das so oft mit ihr der Fall ist, sich im entscheidenden Moment gedrückt hatte. Im Ganzen ergab sich eine Situation, die ein Zeitgenosse sehr treffend mit folgenden Worten charakterisierte: „Zu Wien hatte sich tatsächlich die Republik etabliert, – leider aber wurde niemand dessen gewahr.“ …

In der Revolution, deren Anfang die Geschichte in das Jahr 1905 setzen wird, trat das Proletariat zum ersten Male unter eigenem Banner und im Namen eigener Ziele auf. Und zu gleicher Zeit steht es außer jedem Zweifel, dass keine einzige von den alten Revolutionen eine so große Menge von Volksenergie verschlungen und so geringe positive Ergebnisse gezeitigt hat, wie die russische Revolution bis auf den heutigen Tag. Wir haben hier durchaus nicht die Absicht, zu prophezeien, wie sich die Dinge im Laufe der nächsten Wochen oder Monate gestalten werden. Eins aber ist für uns klar, auch in Russland kann der Sieg jetzt nur auf dem Wege des proletarischen Klassenkampfes erreicht werden. Von diesem Klassenkampf gibt es kein Zurück zu der revolutionären Einheit der bürgerlichen Nation. Die „Resultatlosigkeit" der russischen Revolution ist nichts anderes, als der vorübergehende Ausfluss ihres tiefen sozialen Gehalts. In dieser „bürgerlichen" Revolution ohne revolutionäres Bürgertum wird das Proletariat durch den inneren Gang der Dinge zu der Führerschaft über die Bauernschaft und zu dem Kampfe um die Staatsgewalt getrieben. Aus dem politischen Stumpfsinn des Muschik, der bei sich auf dem Dorfe dem Baron den roten Hahn aufs Dach setzt, um sich seines Landes zu bemächtigen, daneben aber, wenn er im Waffenrock steckt, die Arbeiter füsiliert, zerschellte die erste Welle der russischen Revolution. Sämtliche Begebenheiten dieser letzteren lassen sich als eine Reihe der schonungslosesten Lehren betrachten, durch die die Geschichte dem Bauer das Bewusstsein einbläut von dem Bande, das zwischen seinen lokalen Landbedürfnissen und dem Problem der Staatsgewalt besteht. In der langwierigen und harten Schule der rauen Zusammenstöße und schweren Niederlagen werden die Voraussetzungen für den Sieg der Revolution ausgearbeitet.

Bürgerliche Revolutionen", schrieb Marx im Jahre 1852, „stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefasst, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht und ein langer Katzenjammer erfasst die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück um es wieder von Neuem anzufangen, verhöhnen grausam gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke bis eine Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht und die Verhältnisse rufen:

Hic Rhodus, hic salta!

Hier ist Rhodus, hier springe!

(„Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte.)

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