Vorwort

Vorwort

Die Zeit zu einer erschöpfenden geschichtlichen Wertung der russischen Revolution ist noch nicht gekommen, dazu haben sich die Verhältnisse noch nicht genügend geklärt; die Revolution wirkt fort und zieht ihre Konsequenzen, und ihre Tragweite ist unübersehbar. Dieses Buch soll auch kein Geschichtswerk sein, es will aufgefasst werden als die Schilderung eines Augenzeugen und Mitbeteiligten, aus den Ereignissen heraus empfunden und geschrieben, beleuchtet vom Parteistandpunkt des Verfassers, der sich in der Politik zur Sozialdemokratie, in der Wissenschaft zum Marxismus bekennt. Vor allem war es ihm darum zu tun, das revolutionäre Auftreten des russischen Proletariats, das in der Tätigkeit des Petersburger Arbeiter-Delegiertenrates seinen Kulminationspunkt und tragischen Abschluss fand, dem Verständnis der Leser näher zu bringen. Sollte ihm das gelungen sein, wird er seine Aufgabe in der Hauptsache für erfüllt erachten.

Die „Einleitung" analysiert die ökonomische Grundlage der russischen Revolution – ihren sozialen Tummelplatz und zugleich ihren Nährboden.

Der Zarismus, der russische Kapitalismus, die agrarische Struktur Russlands, seine Produktionsformen und -verhältnisse, seine Gesellschaftsklassen, der agrarische Adel, das Bauerntum, das Großkapital, das Kleinbürgertum, die Intellektuellen, das Proletariat – in ihrem Verhältnis zu einander und zum Staate –, das ist der Inhalt der „Einleitung", die die Aufgabe hat, dem Leser diejenigen gesellschaftlichen Kräfte in der Statik zu zeigen, die ihm die folgende Schilderung in ihrer Dynamik zeigt.

Unser Buch macht keinesfalls Ansprüche aus Vollständigkeit der Tatsachen.

Wir haben mit Absicht darauf verzichtet, eine detaillierte Schilderung der Revolution im ganzen Reiche zu liefern; im beschränkten Rahmen dieser Arbeit konnte man doch nur ein Verzeichnis der Ereignisse aufstellen, das vielleicht zum Nachschlagen gut wäre, jedoch weder eine Vorstellung von der inneren Logik der Vorgänge, noch von ihren konkreten Erscheinungsformen geben würde. Wir haben einen anderen Weg gewählt: indem wir diejenigen Ereignisse und Einrichtungen herausgriffen, in denen sich der Sinn der Revolution gleichsam resümierte, stellten wir in den Mittelpunkt der Schilderung den Mittelpunkt der Bewegung – Petersburg. Wir verlassen den Boden der nordischen Residenz nur soweit, als die Revolution selbst ihren Haupttummelplatz an die Küste des Schwarzen Meeres verlegte (Die rote Flotte), aufs flache Land (Der Bauer rebelliert) oder nach Moskau (Der Dezember).

Indem wir uns im Raume beschränkten, mussten wir uns auch in der Zeit zusammendrängen.

Den letzten drei Monaten des Jahres 1905 haben wir den ersten Platz eingeräumt – dem Oktober, November und Dezember –, der Kulminationszeit der revolutionären Ereignisse, die mit dem großen allrussischen Oktoberstreik beginnt und mit der Zertrümmerung des Dezember-Aufstandes in Moskau endet.

Was die vorhergehende, vorbereitende Periode anlangt, so haben wir aus derselben zwei Momente herausgegriffen, die für das Verständnis des allgemeinen Verlaufs der Bewegung notwendig waren. Erstens, die kurze „Ära" des Fürsten Swjatopolk-Mirsky, die Flitterwochen der Annäherung zwischen Regierung und Gesellschaft, wo alles lauter Vertrauen atmete, wo die Mitteilungen der Regierung und die liberalen Leitartikel mit einem ekelhaften Gemisch von Anilin und Honigseim geschrieben wurden. Zweitens, den 9. Januar, den unvergleichlichen, dramatischen Roten Sonntag, wo durch die mit Vertrauen gesättigte Luft Gardistenkugeln sausten und die Flüche der Proletariermassen sie erzittern machten. Die Komödie des liberalen Frühlings war zu Ende, – die Tragödie der Revolution begann. …

Die acht Monate zwischen Januar und Oktober ließen wir fast ganz unbeachtet. So interessant diese Zeit auch an sich ist, so bringt sie doch nichts prinzipiell Neues, ohne das die Geschichte der entscheidenden drei Monate des Jahres 1905 unverständlich bleiben würde. Der Oktoberstreik folgt ebenso unmittelbar aus dem Gang zum Winterpalais im Januar, wie der Dezemberaufstand aus dem Oktoberstreik.

Das Schlusskapitel des historischen Teiles (Rückblick und Ausschau) zieht das Resumé des Revolutionsjahres, analysiert die Methoden des revolutionären Kampfes und gibt eine kurze Schilderung der politischen Entwicklung der folgenden drei Jahre. Die letzte Schlussfolgerung dieses Kapitels können wir hier in die Worte zusammenfassen:

La revolution est morte, vive la révolution!

Unter dem Kapitel, das von dem Oktoberstreik handelt, steht das Datum: November 1905. Dieser Aufsatz ist in den letzten Stunden des großen Streiks geschrieben, des Streiks, der die machthabende Bande in die Enge trieb und Nikolaus II. zwang, mit zitternder Hand das Manifest vom 17. Oktober zu unterschreiben.

Dieser Artikel wurde seinerzeit in den zwei ersten Nummern der Petersburger Sozialdemokratischen Zeitung „Natschalo“ veröffentlicht worden; er ist hier ohne Änderung angeführt, nicht nur deswegen. Weil er mit einer für anderen Zweck genügenden Vollständigkeit die Mechanik des gesamten Streiks zeichnet, sondern auch darum, weil er schon durch seinen Ton die Publizistik jener Epoche einigermaßen charakterisiert.

Der zweite Teil des Buches stellt ein selbständiges Ganze dar. Es ist die Geschichte der Gerichtsverhandlung in Sachen des Arbeiterdelegiertenrates und ferner – der Verbannung nach Sibirien und der Flucht des Verfassers dieses Werkes. Und doch besteht ein innerer Zusammenhang zwischen beiden Teilen des Buches. Nicht nur aus dem Grunde, weil der Petersburger Delegiertenrat im Mittelpunkt der revolutionären Ereignisse gegen Ende des Jahres 1905 stand, Sondern mehr noch deswegen, weil die Gefangennahme des Delegiertenrates die Epoche der Konterrevolution mit diesem ihrem ersten Anprall eröffnete. Als ihre Opfer fallen, eine nach der anderen, alle revolutionären Organisationen des Reiches. Systematisch, Schritt für Schritt, mit tollwütigem Starrsinn und blutiger Rachsucht rotten die Sieger die Spuren der großen Flut aus. Und je weniger sie eine unmittelbare Gefahr verspüren, um so grausamer wird ihre niedrige Rachsucht. Der Petersburger Delegiertenrat wurde schon im Jahre 1906 zur Verantwortung gezogen, die Maximalstrafe lautete: Entziehung aller Rechte und lebenslängliche Verbannung nach Sibirien. Dem Delegiertenrat von Jekaterinoslaw wurde im Jahre 1909 der Prozess gemacht, – das Resultat: einige Dutzend Verurteilungen zur Zwangsarbeit, 32 Todesurteile, von denen 8 vollstreckt sind.

Nach dem Titanenkampfe und dem zeitweiligen Siege der Revolution kommen die Liquidierungsprozesse, Verhaftungen, Fluchtversuche und die Verbannung über die ganze Welt. … Dies ist der Zusammenhang zwischen beiden Teilen dieses Buches.

Diese Schrift wurde zum größten Teil russisch verfasst und vom Manuskript ins Deutsche übertragen.

Wir sagen Frau Dr. Jenny Herzmark, Herrn J Sokolowsky und Herrn D. Rubinstein, die die Übersetzung gemacht haben, unseren aufrichtigsten Dank.

Wir schließen das Vorwort mit dem Ausdrucke heißen Dankes für die bekannte Petersburger Künstlerin, Frau Sarudnaja-Kawoß, die uns die Bleistiftskizzen und Federzeichnungen zur Verfügung gestellt hat, die sie während der Gerichtssitzungen in Sachen des Arbeiter-Delegiertenrates entworfen hatte.

Wien, Oktober 1909.

N. Trotzky.

Kommentare