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In der ersten Zeit unserer Wagenfahrt fasste ich bei jeder „Haltestelle" die zurückgelegte Strecke ins Auge und sah, zu meinem Schrecken, dass die Entfernung von der Eisenbahn immer größer und größer wurde, für niemand unter uns – auch für mich nicht – bildete Obdorsk das Endziel der Reise. Der Gedanke an eine Flucht verließ uns keinen Augenblick. Den Pass und das nötige Reisegeld hatte ich mit großer Kunstfertigkeit in den Stiefelsohlen verborgen. Es muss übrigens gesagt werden, dass eine Flucht, natürlich nicht Massen-, sondern Einzelflucht, trotz turmhoher Schwierigkeiten wohl möglich war. Wir hatten ein paar Pläne in Bereitschaft, die keineswegs unausführbar waren, aber die Folgen einer Flucht für die Zurückbleibenden hielten uns vor diesem Schritte zurück. Die Verantwortung für die Ablieferung der Verschickten tragen die Konvoisoldaten und in erster Linie der Unteroffizier. Im vergangenen Jahre musste ein Unteroffizier aus Tobolsk, der einen administrativ verschickten Studenten entwischen ließ, seine Unachtsamkeit mit dem Disziplinarbataillon büßen. Die Folge war, dass die Begleitmannschaften im ganzen Gouvernement Tobolsk ihre Wachsamkeit erhöhten und die Verschickten unterwegs schlechter zu behandeln begannen. Daraufhin hatte sich zwischen den Verschickten und den Konvoimannschaften eine Art stillschweigender Übereinkunft gebildet, während des Marsches nicht zu entfliehen. Niemand von uns legte natürlich diesem Übereinkommen absolute Bedeutung bei, aber immerhin lähmte es unsere Entschlussfähigkeit, und so sahen wir eine Haltestelle nach der anderen hinter uns verschwinden. Gegen Ende der Reise, als mehrere hundert Werst zurückgelegt waren, hatte sich eine gewisse Gleichgültigkeit entwickelt und ich blickte nicht mehr rückwärts, sondern vorwärts, sehnte mich danach, an Ort und Stelle zu gelangen, sorgte für das rechtzeitige Eintreffen der Bücher und Zeitungen und traf überhaupt alle Anstalten, die für einen dauernden Aufenthalt nötig waren. … Als wir aber in Beresow angelangt waren, verflüchtigte sich diese Stimmung im Nu.

Ist es möglich, von hier zu entfliehen?“

Im Frühling sehr leicht."

Und jetzt?"

Schwer, ober doch nicht unmöglich. Allerdings ist bis jetzt ein solcher Fall nicht zu verzeichnen gewesen. Aber alle ohne Ausnahme bestätigten uns, dass im Frühling eine Flucht sich leicht und einfach ausführen lässt.

Diese Einfachheit wird hervorgerufen durch die physische Unmöglichkeit der nur spärlich vorhandenen Polizei, die große Menge der Verschickten zu kontrollieren. Dennoch ist die Überwachung von fünfzehn Personen, die an einem Orte untergebracht sind und sich einer besonderen Aufmerksamkeit seitens der Behörden erfreuen, wohl möglich. Um zu fliehen, muss man aber in Beresow bleiben, denn weiter nach Obdorsk reisen, hieße. sich um weitere 480 Werst vom Ziele entfernen.

Infolge meiner Erklärung, dass ich wegen Krankheit und Übermüdung außerstande sei, die Weiterfahrt unverzüglich anzutreten, ließ mich der Isprawnik, nachdem er sich mit dem Arzte beraten hatte, auf einige Tage in Beresow zur Erholung zurück und ich wurde im Lazarett untergebracht. Irgend einen bestimmten Fluchtplan hatte ich damals noch nicht.

Im Lazarett genoss ich eine verhältnismäßige Bewegungsfreiheit. Der Arzt empfahl mir, recht viel spazieren zu gehen, und ich benutzte diese Spaziergänge, um mich über meine jetzige Lage zu orientieren. Am einfachsten erschien es auf den ersten Blick, denselben Weg, aus dem man uns nach Beresow gebracht hatte, das heißt die „große Tobolsker Trasse", zu wählen, aber bei näherem Zusehen erwies sich dieser Weg als zu gewagt. Zwar fehlt es längs dieser Trasse nicht an zuverlässigen Bauern, die den heimlichen Transport von Dorf zu Dorf übernehmen würden. Aber wie leicht wäre man auf diesem Wege unliebsamen Begegnungen ausgesetzt, denn die ganze Administration hat an der Trasse ihren Wohnsitz und benutzt sie bei ihren Reisen. In 48 Stunden – und im Notfalle noch eher – kann man von Beresow die nächste Telegraphenstation erreichen und von hier aus die Polizei bis Tobolsk von der Flucht in Kenntnis setzen. Somit musste ich auf diesen Weg verzichten.

Die zweite Möglichkeit war, auf Rentieren das Uralgebirge zu passieren, über Ischma nach Archangelsk zu gelangen und hier den ersten nach Finnland gehenden Dampfer abzuwarten. Der Weg bis Archangelsk ist sicher, weil er durch weit entlegene öde Strecken führt. Doch war es sicher, in Archangelsk zu bleiben? Darüber wusste ich nichts und bei der Kürze der Zeit war es auch unmöglich, Näheres in Erfahrung zu bringen.

Am verlockendsten erschien mir der dritte Plan. Dieser bestand darin,, auf Rentieren die Uralbergwerke zu erreichen, bei den Werken von Bogoslowsk die Kleinbahn zu besteigen und bis Kuschwa zu fahren, wo sie an die Bahn nach Perm Anschluss hat. Und dann – Perm, Wjatka, Wologda, Petersburg, Helsingfors

Der Weg zu den Bergwerken führt direkt von Beresow aus auf Rentieren längs der Soswa oder der Wogulka. Hier beginnt sofort die undurchdringlichste sibirische Einöde. Viele tausende Werst keine Spur von Polizei, keine einzige russische Ansiedlung, nur hin und wieder Ostjaken-Jurten; von einem Telegraphen natürlich keine Rede; Pferde gibt es auf der ganzen Strecke überhaupt nicht, und die Fortbewegung geschieht ausschließlich auf Rentieren Es kam nun vor allem darauf an, bei der Administration von Beresow ein paar Tage zu gewinnen; dann würde man mich nicht mehr einholen, selbst wenn die Jagd hinter mir auf demselben Wege erfolgen sollte

Man wies mich warnend darauf hin, dass dieser Weg mit „Entbehrungen und physischen Gefahren" verknüpft sei. Wie die Leute erzählten, begegnet man in jenen Gegenden manchmal auf viele hundert Werst keiner einzigen menschlichen Wohnung. Unter den Ostjaken, den einzigen Bewohnern jener weiten Landstriche, wüten ansteckende Krankheiten; Syphilis ist dort eine alltägliche Erscheinung, und oft stellt sich ein fürchterlicher Gast – der Fleckentyphus – ein. Hilfe hat man von nirgends her zu gewärtigen. In diesem Winter starb unterwegs in den Ourviner Jurten ein junger Kaufmann aus Beresow, namens Dobrowolsky, nachdem er ganze zwei Wochen hilflos im heftigsten Fieber dagelegen hatte … Was würde geschehen, wenn eins von den Rentieren fiele? Und dann der Schneesturm, der manchmal tagelang anhält? Wer von ihm überrascht wird, ist verloren, und gerade der Februar ist der Monat der Schneestürme? War der Weg zu den Bergwerken jetzt auch wirklich fahrbar? Er wird nicht viel benutzt, und wenn in den letzten Tagen keine Ostjaken jene Gegend passiert haben, so müssen die Wegspuren an vielen Stellen ganz und gar verweht sein, so dass es also gar nicht schwer war, vom Wege abzukommen. So lauteten die Warnungen.

Es war unmöglich, sich die Augen vor den bevorstehenden Gefahren zu verschließen, trotzdem entschloss ich mich, den Weg über die Bergwerke zu wählen – und ich hatte keinen Grund, diesen meinen Entschluss zu bedauern.

Nun blieb noch eins zu tun – jemand zu finden, der sich bereit erklären wollte, mich nach den Bergwerken zu bringen –, das heißt, es blieb das Allerschwierigste.

Halt, das will ich Ihnen besorgen", sagte nach langem Nachdenken Nikita Serapionowitsch, ein junger „liberaler" Kaufmann, den ich deshalb zu Rate gezogen hatte. „Es wohnt hier, 40 Werst von der Stadt in den Jurten ein Syrjane, namens Nikifor … das ist ein geriebener Bursche… der hat zwei Köpfe und wird zu allem bereit sein."

Trinkt er nicht?" erkundigte ich mich vorsorglich

Aber natürlich trinkt er – wer trinkt denn hier nicht? Der Schnaps hat ihn auch ruiniert … er ist ein guter Jäger, hat früher viel Zobeltiere geschossen und schönes Geld dabei verdient … Na, das tut aber nichts, wenn er die Sache übernimmt, wird er sich mit Gottes Hilfe schon zurückhalten! Ich werde ihn aufsuchen. Tut der's nicht, dann tut's auch kein anderer". .

Wir arbeiteten gemeinsam mit Nikita Serapionowitsch die Vertragsbedingungen aus. Ich kaufe eine Troika der besten Rentieren und den Schlitten dazu. Wenn Nikifor mich wohlbehalten nach den Bergwerken bringt, sind Rentieren und Schlitten sein Eigentum; außerdem erhält er von mir fünfzig Rubel in bar.

Abends hatte ich bereits seine Antwort; Nikifor ist einverstanden, er wird sich nach dem „Tschum" begeben, der fünfzig Werst von seiner Behausung entfernt ist, und morgen Mittag mit einer Troika der besten Rentiere zur Stelle sein. Vielleicht werden wir schon morgen Nacht die Fahrt antreten können. Bis dahin muss ich mich mit den nötigen Gegenständen versehen haben: ich brauche zur Reise ein paar gute „Kissy" nebst „Tschishen", eine „Malitza" oder „Gussj"A und Nahrungsmittel für 10 Tage. Alle diese Besorgungen und Anschaffungen hatte Nikita Serapionowitsch übernommen. „Ich sage Ihnen", versicherte er, „Nikifor wird Sie schon herausreißen.“

Wenn er nur nicht unterwegs zu saufen anfängt", erwiderte ich zweifelnd.

Na, wenn's Gott gibt, lässt er's bleiben. Er fürchtet nur, dass er sich in den Bergen nicht zurechtfinden wird, seit acht Jahren ist er diesen Weg nicht mehr gefahren. Dann werden Sie wohl unter Umständen bis zu den Schominer Jurten auf dem Flusse fahren müssen und das ist ein großer Umweg“ …

Es gibt nämlich von Beresow zu den Schominer Jurten zwei Wege: der eine, „durch die Berge", durchschneidet an mehreren Stellen den Woginkafluss und führt an den Wyschpurtymer Jurten vorbei; der andere führt längs des Soswaflusses durch die Schaitaner und Malejewer Jurten usw. Der Weg „durch die Berge" ist nur die Hälfte so lang, aber die Gegend ist öde, sie wird selten passiert und die Wegspuren werden oft vom Schnee gänzlich verweht.

Ich fahre also … O wenn es doch wirklich wahr würde! … Ich schnitt die Stiefelsohlen auf und nahm den Pass und das Geld heraus. Am nächsten Tage stellte sich aber heraus, dass wir nicht fahren konnten. Nikifor, der mit den Rentieren kommen sollte, kam nicht und niemand wusste, wo er steckt und was mit ihm geschehen ist. Nikita Serapionowitsch fühlte sich sehr verlegen.

Haben Sie ihm vielleicht das Geld gegeben, das für den Rentiereinkauf bestimmt war?" fragte ich.

Aber ich bitte Sie … bin doch auch kein kleiner Junge mehr … Ich habe ihm nur fünf Rubel Handgeld gegeben, und auch die im Beisein seiner Frau. Warten Sie einmal, ich will nochmals zu ihm hinausfahren" …

Die Abreise verzögert sich um mindestens 24 Stunden. Und der Isprawnik kann jeden Tag verlangen, dass ich die Fahrt nach Obdorsk antreten soll. Ein böser Anfang!

Erst den dritten Tag, am 18. Februar, konnte ich abreisen

Morgens kam Nikita Serapionowitsch zu mir ins Lazarett und in einem günstigen Augenblick, als niemand im Zimmer war, sagte er entschieden:

Kommen Sie heute Abend um 11 Uhr unbemerkt zu mir. Die Abreise ist auf 12 Uhr festgesetzt. Meine ganze Familie geht heute ins Theater und ich bleibe ganz allein zu Hause. Sie werden sich bei mir umkleiden, Abendbrot essen, und dann bringe ich Sie auf meinen Pferden in den Wald, wo Nikifor Sie erwartet. Er bringt Sie durch die Steppen; gestern, sagt er, haben zwei Ostjakenschlitten den Weg gebahnt."

Ist das nun endgültig?" fragte ich zweifelnd.

Endgültig und unwiderruflich!"

Bis zum Abend irrte ich ziel- und planlos umher. Um 8 Uhr begab ich mich in die Kaserne, wo die Theateraufführung stattfand. Ich hatte entschieden, dass es so besser sein werde. Der Raum war drückend voll. Von der Decke hingen drei große Lampen herab, an den Wänden brannten auf Bajonette gesteckte Lichte. Dicht vor der Bühne saßen die Musikanten. Die erste Sitzreihe war von der Administration besetzt; Weiter saßen bunt durcheinander Kaufleute und Politische; die hintersten Reihen waren von „geringerem" Publikum, Handlungsgehilfen, Kleinbürgern und jungen Leuten besetzt. An beiden Seitenwänden standen Soldaten. Als ich in den Saal trat, war die Handlung auf der Bühne in vollem Gange. Man gab Tschechows Komödie Der Bär. Der dicke, gemütliche Lazarettgehilfe Anton Iwanowitsch spielte den „Bären". Die Frau des Arztes hatte die Rolle der schönen Nachbarin übernommen und der Arzt selbst zischte aus der Tiefe des Souffleurkastens. Dann sank der kunstvoll bemalte Vorhang herab und alles applaudierte.

In der Pause bildeten die politischen ein Häuflein für sich und tauschten die letzten Neuigkeiten aus. „Der Isprawnik soll es sehr bedauern, dass er die verheirateten Deputierten nicht in Beresow zurückgelassen hat." – „Der Isprawnik meinte übrigens, eine Flucht von hier sei ein Ding der Unmöglichkeit." „Da übertreibt er aber", erwiderte jemand, „gibt es einen Weg hierher. So gibt es auch einen zurück".

Die drei Musikanten schwiegen, und der Vorhang ging von neuem in die Höhe. Diesmal spielte man den Tragiker wider Willen, das Drama eines Ehemannes in der Sommerfrische. In leichtem Sommerröckchen und Strohhut veranschaulichte der Lazarettaufseher die Leiden eines Sommerfrischlers im Monat Februar am Polarkreis. Als sich der Vorhang über dem Drama des Ehemannes in der Sommerfrische senkte, nahm ich von den Genossen raschen Abschied, indem ich heftige Neuralgie vorschützte.

Nikita Serapionowitsch erwartete mich.

Sie haben noch gerade Zeit genug, um Abendbrot zu essen und sich umzukleiden. Nikifor hat den Auftrag, sobald es zwölf schlägt, sich an die verabredete Stelle zu begeben."

Gegen Mitternacht traten wir auf den Hof hinaus. Der Wechsel von Licht und Dunkelheit ließ die Nacht pechschwarz erscheinen. Dann aber konnte man im Dunkel einen Schlitten unterscheiden, der mit einem einzigen Pferde bespannt war. Ich breitete schnell meine „Gussj" aus und kauerte mich auf dem Schlittenboden zusammen. Nikita Serapionowitsch bedeckte mich vom Kopf bis zu den Füßen mit einer Schicht Stroh und überband das Ganze mit Stricken, So sah es aus, als ob der Schlitten irgend eine Ladung enthielte. Das Stroh war angefroren und mit Schnee vermengt, der unter meinem warmen Atem schmolz und in nassen Flocken auf mein Gesicht herabfiel. Ich fror an den Händen, denn ich hatte vergessen, meine Handschuhe herauszunehmen, die Stricke aber hinderten mich an jeder freien Bewegung. Die Uhr auf dem Feuerturm schlug zwölf. Der Schlitten setzte sich in Bewegung, wir fuhren zum Tore hinaus und das Pferd zog uns rasch die Straße hinab. „Endlich", dachte ich, „jetzt hat's begonnen." Und die Empfindung der Kälte im Gesicht und an den Händen war mir angenehm, als reales Anzeichen dafür, dass es jetzt wirklich „begonnen" hatte. Wir mochten zwanzig Minuten gefahren sein, als der Schlitten plötzlich anhielt. Ein schriller Pfiff ertönte, scheinbar das Signal, das Nikita Serapionowitsch mit Nikifor verabredet hatte. Aus einiger Entfernung kam ein Antwortpfiff und verworrene Stimmen drangen an unser Ohr. „Wer spricht denn da?" dachte ich beunruhigt, und auch Nikita Serapionowitsch schien meine Besorgnis zu teilen, da er mich nicht losband, sondern undeutlich etwas vor sich hin brummte.

Wer ist das?" fragte ich halblaut durch das Stroh hindurch.

Weiß der Teufel, mit wem er da angebandelt hat", antwortete Nikita Serapionowitsch.

Er ist wohl betrunken?"

Das ist's ja eben, dass er nicht nüchtern ist." …

Unterdessen waren die Sprechenden aus dem Walde auf den Weg hinausgefahren. „Macht nichts, Nikita Serapionowitsch, macht nichts", hörte ich jemandes Stimme, „mag dieses Subjekt sich nicht beunruhigen … das hier ist mein Freund … und dieser Alte ist mein Vater … es sind gute Leute …* Nikita Serapionowitsch befreite mich brummend von den Stricken. Vor mir stand ein hochgewachsener Bauer in einer „Malitza", mit bloßem Kopfe, grell-roten Haaren, betrunkenem und dennoch pfiffigem Gesichte, das dem eines Kleinrussen sehe ähnlich sieht Etwas abseits stand ein junger Bursche und mitten auf dem Wege erblickte ich einen alten Mann, der sich wankend an dem Schlitten festhielt und scheinbar vom Schnapse gänzlich überwältigt war.

Macht nichts, Herr, macht nichts", sagte der Rote, in dem ich Nikifor erriet. „Das sind meine Leute, für die stehe ich gut. Nikifor säuft, aber seinen Verstand versäuft er nicht… Seid ohne Sorge .., Mit diesen Rentieren sollte ich Sie nicht hinschaffen ? Lächerlich! Gevatter Michael Jegorowitsch sagt: fahr' durch die Steppen, neulich sind da zwei Ostjakenschlitten durchgefahren … Und für mich ist es auch besser, durch die Steppen zu fahren … denn hier längs des Flusses kennt mich jedermann … Und als ich Michael Jegorowitsch zur Suppe einlud … ein guter Bauer …"

Genug, genug, Nikifor Iwanowitsch, packe lieber die Sachen in den Schlitten", unterbrach ihn Nikita Serapionowitsch grob. Das half.

Nikifor rührte sich behende, in fünf Minuten war alles fertig, und ich konnte in dem neuen Schlitten Platz nehmen.

Ach, Nikifor Iwanowitsch", sagte vorwurfsvoll Nikita, „wozu hast Du bloß diese Leute mitgebracht? Ich hatte Dir doch ausdrücklich gesagt … Ach Ihr da", wandte er sich zu ihnen, „passt auf, dass Ihr mir ja nicht …"

Aber … um Gottes willen …" antwortete der junge Bauer. Der Alte vermochte nur beteuernd die Hand zu erheben. Ich verabschiedete mich in herzlicher Weise von Nikita Serapionowitsch.

Vorwärts!"

Nikita stieß einen schneidigen Juchzen aus, die Rentiere zogen an und wir setzten uns in Bewegung.

Die Rentiere liefen munter dahin; sie ließen ihre Zungen weit aus dem Maule hängen und man hörte ihr schnelles Atmen: tschu … tschu … tschu … Der Weg war schmal, die Tiere mussten sich dicht aneinander drängen, und es war nur zu verwundern, dass sie einander nicht am Laufen hinderten.

Das muss man aber sagen", wandte sich Nikifor nach mir um, „bessere Tiere gibt es nicht. Da ist eins wie das andere: siebenhundert Rentiere in der Herde, und dies hier sind die besten. Erst wollte der alte Michel überhaupt von nichts hören: diese Tiere gebe ich nicht her. Erst als er ein Gläschen herunter hatte, da sagte er: Rintm sie hen. Und als ich sie fortführte, da weinte er. Sieh', sagte er, dieses Leittier (Nikifor zeigte auf das vorderste Tier) ist einfach unbezahlbar. Wenn Du glücklich zurückkehrst, kaufe ich sie Dir um denselben Preis wieder ab. Ein schönes Stück Geld habe ich für sie bezahlt, aber das muss man sagen, sie sind es wert. Das eine Leittier allein kostet 25 Rubel."

Kaum hatten wir etwa zehn Werst zurückgelegt, als Nikifor plötzlich die Rentiere entschlossen zum Stehen brachte.

Hier müssen wir seitwärts abbiegen, ich muss noch in einem Tschum, fünf Werst von hier, meine „Gussj" abholen. Ich kann doch nicht in der bloßen Malitza fahren, ich erfriere ja sonst. Ich habe auch einen Zettel von Nikita Serapionowitsch wegen der „Gussj" mitbekommen …"

Ich war ganz starr ob dieses unstetigen Beginnens, nach einem Tschum zu fahren, der von Beresow nur zehn Werst entfernt lag. Aus den ausweichenden Antworten Nikifors verstand ich, dass er noch gestern die „Gussj" hätte abholen müssen, aber die beiden letzten Tage ununterbrochen gezecht hatte.

Wie Sie wollen", sagte ich, „aber nach der „Gussj" fahre ich nicht. Weiß der Teufel, was das sein soll! Sie hätten früher dafür sorgen müssen. Wenn Ihnen kalt wird, können sie unter die Malitza meinen Pelz anziehen – er liegt hier unter mir. Und wenn wir am Ziel angelangt sind, schenke ich Ihnen sogar den Halbpelz, den ich jetzt anhabe; der ist besser als jede „Gussj"."

,Na schön", erklärte sich Nikifor mit einem Male einverstanden, „wozu brauchen wir eine Gussj? Wir werden nicht tot frieren Ho, ho!" schrie er auf die Tiere ein. „Die hier werden bei uns auch ohne Peitsche gehen. Ho, ho!“

Aber die Courage hielt bei Nikifor nicht lange an. Der Schnaps überwältigte ihn vollends. Er wurde ganz schlapp, schwankte auf seinem Sitze hin und her und schlief schließlich ganz ein. Ein paarmal suchte ich ihn zu ermuntern. Er ermannte sich auch, trieb die Rentiere mit der langen Stange an und murmelte: „Macht nichts, diese Tiere laufen schon von selbst" und schlief wieder ein. Die Rentiere gingen fast im Schritt und nur meine Anrufe vermochten noch, sie munter zu halten. In dieser Weise vergingen etwa zwei Stunden. Da nickte auch ich ein und wachte erst nach einigen Minuten auf, als ich fühlte, dass die Rentiere vollends stehen geblieben waren. Schlaftrunken, wie ich war, schien mir, dass nun alles verloren war.

Nikifor", schrie ich laut und begann ihn aus vollster Kraft an der Schulter zu rütteln. Zur Antwort bekam ich nur einzelne zusammenhanglose Worte: „Was kann ich tun? … Ich kann nichts tun … Ich will schlafen!"

Meine Lage war wirklich verzweifelt unangenehm. Wir hatten kaum mehr als dreißig bis vierzig Werst zurückgelegt, und eine Unterbrechung in so kurzer Entfernung von Beresow hatte ich bei meinen Plänen durchaus nicht vorgesehen. Ich sah, die Sache stand schlecht und beschloss, „Maßnahmen" zu treffen.

Nikifor", schrie ich, indem ich ihm die Kapuze herunterriss und seinen benebelten Schädel dem Froste preisgab, „wenn Sie sich nicht zurechtsetzen, wie es sich gehört, und die Tiere antreiben, so werfe ich Sie aus dem Schlitten und fahre allein weiter."

Nikifor kam ein wenig zu sich – ob infolge der Kälte oder meiner Worte,, weiß ich nicht. Nun stellte es sich heraus, dass er während des Schlafs die Treibstange verloren hatte. Schwankend und sich die Seiten kratzend, holte er aus dem Reisesack eine Axt, fällte eine junge, am Wege stehende Fichte und säuberte sie von den Zweigen. Die Treibstange war fertig, und wir setzten uns wieder in Bewegung. Ich war fest entschlossen, von nun an Nikifor die Zügel fühlen zu lassen,

Verstehen Sie denn, was Sie tun?" fragte ich möglichst eindringlich, „Meinen Sie denn, dass wir hier Scherz treiben? Wenn man uns einholt, denken Sie etwa, dass man uns loben wird?"

Ob ich nicht verstehe!" antwortete Nikifor, der immer mehr zu sich kam. ,Wo denken Sie denn hin? Bloß unser drittes Rentier, das ist ein bisschen schwächlich … Das vorderste ist gut, aber das dritte, dass muss man sagen, taugt wirklich gar nichts."

Je mehr der Morgen nahte, desto fühlbarer wurde die Kälte. Ich zog über meinen Halbpelz die „Gussj" und fühlte mich darin außerordentlich wohl.

Dafür aber wurde Nikifors Lage immer schlimmer. Er ernüchterte sich allmählich, der Frost war ihm schon längst unter die „Malitza" gedrungen und der Unglückliche zitterte am ganzen Leibe.

Ziehen Sie doch meinen Pelz an", schlug ich ihm vor.

Nein, jetzt ist es schon zu spät; erst muss man sich selbst und dann den Pelz aufwärmen"

Eine Stunde später erblickten wir am Wege die ersten Jurten: drei, vier elende Blockhäuschen

Ich will mal auf fünf Minuten hinein, nach dem Weg fragen und mich erwärmen."

Es vergingen fünf – zehn – fünfzehn Minuten. Ein ganz in Pelzwerk gehülltes Etwas näherte sich unserem Schlitten, Stand eine Weile und entfernte sich wieder. Es begann zu dämmern und der Wald samt den elenden Jurten nahmen in meinen Augen einen unheilverkündenden Schein an.

Wie wird diese Geschichte enden?" fragte ich mich. „Wie weit komme ich mit diesem Säufer? Bei einer solchen Fahrt ist es nicht schwer, uns einzuholen … Und in seinem Schnapsdusel kann Nikifor dem ersten Besten Gott weiß was vorschwatzen, dann braucht es bloß nach Beresow zu gelangen und alles ist verloren. Und wenn man uns auch nicht einholt. So wird man den Telegraphen auf allen Stationen der Kleinbahn spielen lassen … Hat es denn noch einen Zweck, weiter zu fahren?"

Es verging etwa eine halbe Stunde. Nikifor blieb verschollen. Nun musste ich mich auf die Suche nach ihm aufmachen, und dabei hatte ich mir nicht einmal die Jurte gemerkt, in die er hineingegangen war. Ich schritt auf die erste Jurte, die am Wege stand, zu und warf durch das Fenster einen Blick in das Innere derselben. Im Winkel loderte hell das Herdfeuer. Auf der Erde stand ein dampfendes Kesselchen, auf der Bank aber saß Nikifor im Zentrum einer Gruppe von Ostjaken und hielt eine Flasche in der Hand. Ich trommelte aus Leibeskräften auf das Fenster und die Wand los, worauf eine Minute später Nikifor zu mir hinaustrat. Er hatte meinen Pelz an, der ganze zwei Wersschock unter seiner "Malitza" hervorlugte.

Steigen Sie auf!" herrschte ich ihn um

Sofort, Sofort", antwortete er sehr kleinlaut. „Ich habe mich nur ein wenig aufgewärmt, jetzt können wir weiterfahren … Bis zum Abend sind wir so weit, das uns keiner mehr sehen kann … Bloß mit dem dritten Rentier ist es so eine Sache …"

Die Fahrt ging weiter.

Es war bereits gegen fünf Uhr. Der Mond war längst aufgegangen und schien hell am Himmel; der Frost war stärker geworden und in der Luft fühlte man den nahenden Morgen. Ich hatte über meinen Schafspelz den Rentierpelz gezogen und fühlte mich sehr behaglich; Nikifors Haltung war zuversichtlich und selbstbewusst; unsere Rentiere liefen herrlich, und ich schlummerte sanft. Von Zeit zu Zeit wachte ich auf und dann sah ich immer ein und dasselbe Bild um mich. Wir fuhren durch eine völlig waldlose Sumpfgegend; niedrige, verkümmerte Tannen und Birken blickten unter dem Schnee hervor, der Weg schlängelte sich in einem schmalen, kaum sichtbaren Band dahin. Nikifor hatte seine Kapuze zurückgeschlagen und saß mit bloßem Kopfe da. Die weißen Rentierhaare der Kapuze vermischten sich mit seinem roten, wirren Haar und es schien, als ob sein Kopf von Reif bedeckt wäre.

Wir fahren, wir fahren!" dachte ich und eine Welle freudigen Gefühls stieg in meiner Brust auf. „Ehe man mein Verschwinden bemerkt, können ein, zwei Tage darüber vergehen … wir fahren … wir fahren", und ich schlief wieder ein.

Etwa gegen neun Uhr hielt Nikifor die Rentiere an. Ganz dicht am Wege stand ein „Tschum", eine Hütte aus Rentierfellen, die die Form eines abgestumpften Kegels hatte. Vor dem „Tschum" stand ein mit Rentieren bespannter Schlitten; ein Haufen klein gehauenen Holzes lag auf der Erde; an einem Stricke hingen frisch abgezogenes Rentierfell, im Schnee lag ein abgehäuteter Rentierkopf mit mächtigem Geweih; zwei Kinder in „Malitzen" und „Kissy" spielten mit den Hunden.

Wie kommt dieser Tschum hierher?" wunderte sich Nikifor. „Ich dachte, wir würden bis zu den Wyschpurtymer Jurten nichts finden."

Es stellte sich heraus, dass dies Ostjaken aus Charumpalow waren, deren Wohnsitz zweihundert Werst von hier entfernt liegt und die hier auf Eichhörnchen jagten. Ich nahm Teegeschirr und Proviant und durch eine kleine, mit einem Fell verhängte Öffnung krochen wir in den Tschum, um zu frühstücken und Tee zu trinken.

Paissi, paissi …" begrüßte Nikifor die Herren des Tschums.

Paissi … paissi … paissi …" erscholl es von allen Seiten.

Ringsherum lagen aus der Erde Haufen Felle, an denen sich menschliche Figuren zu schaffen machten. Gestern hatte man hier ein Zechgelage abgehalten und heute waren noch alle von den Schnapsgeistern benommen. Mitten auf der Erde brannte ein Feuer, und der Rauch entwich frei durch eine an der Spitze des Tschums angebrachte Öffnung. Wir hingen unseren Teekessel über dem Feuer auf und legten ein paar Holzscheite darunter. Nikifor unterhielt sich mit den Besitzern des Tschums vollkommen geläufig in ostjakischer Sprache. Eine Frau mit einem Säugling, den sie eben gestillt hatte, auf dem Arm, erhob sich von ihrem Platze und näherte sich, ohne die Brust zu verhüllen, dem Feuer Sie war hässlich wie der Tod selbst. Ich gab ihr einen Bonbon. Sofort erhoben sich noch zwei Gestalten und traten vor uns hin. »Sie möchten Schnaps haben", verdolmetschte Nikifor. Ich gab ihnen Spiritus, höllisch starken Spiritus von 95 Prozent. Sie tranken mit verzogenem Gesicht und spuckten auf den Boden aus. Auch die Frau mit der unverhüllten Brust leerte die auf sie entfallende Portion. „Der Alte möchte noch Schnaps haben", erklärte Nikifor und reichte ein zweites Gläschen einem alten, kahlköpfigen Ostjaken mit glänzenden, roten Nacken „Ich habe", erklärte er weiter, „diesen Alten für vier Rubel bis zu den Schominer Jurten gedungen. Er wird vorausfahren, um uns den Weg zu bahnen, und unseren Rentieren wird es lustiger sein, hinter seinem Schlitten drein zu laufen."

Wir tranken Tee, aßen, und zum Abschied beschenkte ich unsere Wirte mit Zigaretten. Dann legten wir unser ganzes Reisegepäck auf den Schlitten des Alten, stiegen auf und fuhren weiter. Die Sonne stand hoch am Himmel, der Weg führte durch den Wald, die Luft war klar und heiter. Vor uns fuhr der mit drei weißen, tragenden Rentierkühen bespannte Schlitten des alten Ostjaken.

In der Hand hielt er eine riesig lange Stange, die oben in ein kleines Hütchen aus Horn auslief und unten eine scharfe metallische Spitze hatte. Nikifor hatte auch eine Stange ergriffen. Die Rentierkühe zogen rasch den leichten Schlitten des Alten, unsere Rentiermännchen nahmen sich auch zusammen und blieben nicht zurück.

Warum bedeckt er denn nicht den Kopf?" fragte ich Nikifor, denn ich hatte mit Erstaunen bemerkt, dass der Alte unbekümmert seinen kahlen Kopf dem Froste preisgab.

So wird man rascher nüchtern", erklärte Nikifor.

Und wirklich hielt der Alte nach einer halben Stunde sein Gefährt an und trat zu unseren Schlitten, um sich Spiritus zu holen.

Wir müssen den Alten traktieren", beschloss Nikifor, wobei er gleichzeitig auch sich selbst traktierte. „Er hatte ja seine Kühe schon lange angespannt gehabt."

Wozu denn?"

Er wollte nach Beresow fahren, Schnaps zu kaufen. Da dachte ich mir, der kann dort noch 'was ausplaudern, und daher dang ich ihn. So wird's sicherer sein. Und jetzt kommt er vor zwei Tagen nicht nach der Stadt zurück. Ich habe gar keine Angst, was soll ich fürchten? Wenn man mich fragt: Hast Du ihn gefahren? Weiß ich denn, wen ich gefahren habe? Du bist die Polizei – ich ein Jamschtschik (Fuhrmann). Du bekommst Gehalt. Deine Sache ist also: aufzupassen – meine Sache: zu fahren. Sprech' ich richtig?"

Richtig!"

Heute ist der 19. Februar Morgen wird die Reichsduma eröffnet. „Die erste Tat der Reichsduma wird die Amnestie sein" … Möglich … Aber es ist besser, diese Amnestie um ein paar Grad südlicher abzuwarten. „So wird es sicherer sein", wie Nikifor sagt.

Als wir die Wyschpurtymer Jurten passiert hatten, fanden wir unterwegs einen Sack, der scheinbar Backbrot enthielt. Er war über ein Pud schwer.

Trotz meines energischen Protestes nahm Nikifor den Sack zu sich in den Schlitten. Ich benutzte seine trunkene Verschlafenheit, den Hund, der die Rentiere ganz unnötigerweise beschwerte, leise wieder in den Schnee hinunter sinken zu lassen. Bei seinem Wiederaufwachen fand Nikifor weder den Sack, noch die Stange vor, die er bei dem Alten genommen hatte, und seine Klagen nahmen kein Ende.

Wunderbare Geschöpfe sind diese Rentiere – unermüdlich. Schon 24 Stunden vor unserer Abfahrt hatten sie nichts gefressen, und nun sind es schon wieder fast 24 Standen, dass wir, ohne sie zu füttern, fahren. Nach Nikifors Erklärung sind sie jetzt erst „recht in den Zug gekommen". Sie legen gleichmäßig und unermüdlich 8 bis 10 Werst in der Stunde zurück. Alle 10 bis 15 Werst wird für 2 bis 3 Minuten Halt gemacht, damit sie sich verschnaufen können; dann geht es weiter. Eine solche Tour wird hierzulande ein „Rentierlauf" genannt, und da die Wersten hier nicht gezählt sind, so wird die Entfernung durch die Anzahl solcher Rentierläufe gentessen. fünf Rentierläufe sind etwa 60 bis 70 Werst. Wenn wir die Schominer Jurten erreichen, wo der Alte mit seinen Rentierkühen uns verlässt, werden wir mindestens zehn solcher Rentierläufe hinter uns haben … Das ist schon eine anständige Entfernung.

Gegen 9 Uhr abends, als es schon stark dämmerte, trafen wir zum ersten Mal während unserer ganzen Fahrt ein paar Schlitten. Nikifor versuchte auszuweichen, ohne anzuhalten. Aber das erwies sich als unmöglich: der Weg war sehr schmal, eine einzige Abweichung zur Seite genügte, um die Rentiere bis an den Bauch in den Schnee zu treiben. Einer der Jamschtschiks näherte sich uns, sieht Nikifor scharf ins Gesicht und sagte, ihn beim Namen nennend: „Wen fährst Du da? Weit?"

Nicht weit", sagte Nikifor, „einen Kaufmann aus Obdorsk."

Diese Begegnung regte ihn auf. „Dass ihn der Teufel uns gerade in den Weg führen musste! Fünf Jahre hab ich den Kerl nicht gesehen und er hat mich doch erkannt. Es sind Syrjanen aus Ljapinsk, hundert Werst von hier, fahren nach Beresow, um Waren und Schnaps zu holen. Morgen nachts werden sie in der Stadt sein."

Mir macht es nichts", meinte ich, „uns wird man ja nicht mehr einholen. Dass Ihnen nur nichts passiert, wenn Sie zurückkehren."

Und was kann mir passieren? Ich bin Jamschtschik meine Sache ist es, zu fahren. Weiß ich denn, wer's ist, ob Kaufmann oder Politischer? Steht ihm ja auf der Stirn nicht geschrieben. Du bist die Polizei Du musst auch aufpassen. Ich die Jamschtschik ich fahre. Stimmt's

Stimmt."

Die Nacht brach an, tief und warm. Der Mond geht jetzt erst gegen Morgen auf. Trotz der Dunkelheit irrten die Rentiere kein einziges Mal vom Wege ab. Niemand begegnete uns. Nur gegen 1 Uhr nachts führen wir mitten in einen hellen Lichtfleck und hielten an. Dicht am Feuer, das hell am Rande des Weges loderte, saßen zwei Gestalten, eine große und eine kleinere. Im Kessel siedete das Wasser und ein Ostjakenjunge schabte Stückchen harten Würfeltees auf seinen Handschuh und warf sie ins Wasser. Wir waren vom Feuerschein hell beleuchtet, während unser Schlitten mit den Rentieren in der Dunkelheit versank. Im Feuer erschollen die Laute einer fremden und unverständlichen Sprache. Nikifor nahm bei dem Jungen eine Tasse, schöpfte sie voll Schnee und versenkte sie für einen Augenblick in das siedende Wasser; dann schöpfte er sie wieder voll, diesmal aus dem Schnee dicht am Feuer, und versenkte sie wiederum in den Kessel. Es schien, als ob er irgend einen geheimnisvollen Trank bereitete über diesem Feuer, das sich in der Tiefe der Nacht und der Schneewüste verloren hatte. Dann trank er lange und gierig.

Unsere Rentiere wurden zusehends müde. Jedes Mal, wenn wir Halt machen, legen sie sich dicht nebeneinander hin und schlucken Schnee.

Gegen 2 Uhr nachts langten wir bei den Schominer Jurten an. Hier beschlossen wir, den Rentieren Erholung zu gönnen und sie zu füttern. Die Jurten sind keine Nomadenzelte mehr, sondern ständige Blockhäuser, doch besteht ein großer Unterschied zwischen ihnen und den Jurten, in denen wir auf der Tobolsker Trasse gerastet hatten. Dort sind es eigentlich Bauernhütten mit zwei Wohnhälften, einem russischen Ofen, einem Samowar und Stühlen, allerdings ärmlicher und schmutziger, als das gewöhnliche Wohnhaus des sibirischen Bauern, Hier aber ist es ein „Zimmer" mit einem primitiven Herd anstatt des Ofens, ohne Möbel, mit einer niedrigen Eingangstür und einem Eisklumpen anstatt des Fensters Dennoch ergriff mich ein Gefühl des Wohlbehagens, als ich den „Gussj", die „Kissy" und meinen Halbpelz ablegen konnte, die von einer alten Ostjakin über dem Herde zum Trocknen aufgehängt wurden. Seit 24 Stunden hatte ich nichts gegessen. Wie angenehm war es, auf der mit Rentierfellen bedeckten Bank zu sitzen und in Erwartung des Tees kaltes Kalbfleisch zu verspeisen. Ich hatte ein Gläschen Kognak getrunken, im Kopfe verspürte ich ein leises Rauschen und es däuchte mich, als ob die ganze Reise schon beendet wäre … Ein junger Ostjake mit langen Zöpfen, in die rote Tuchbändchen mit Metallringen geflochten waren, erhob sich von der Bank und schritt hinaus, um unsere Rentiere zu futtern.

Womit wird er sie denn eigentlich füttern?" fragte ich Nikifor.

Mit Moos. Er lässt sie an einer Stelle, wo Moos wächst, laufen, und dann holen sie es schon selber unter dem Schnee hervor. Sie graben ein Loch, legen sich hinein und fressen sich satt."

Und Brot fressen sie nicht?"

Außer Moos fressen sie nichts – höchstens, wenn man sie gleich in den ersten Tagen an Brot gewöhnt hat; aber das kommt selten vor."

Die Alte warf frisches Holz auf den Herd und weckte die junge Ostjakin, die sich vor mir das Gesicht verhüllte und auf den Hof hinausging, wahrscheinlich, um ihrem Mann, dem jungen Ostjaken, zu helfen, den Nikifor für zwei Rubel gedungen hatte, uns bis Ourvi zu begleiten. Die Ostjaken sind entsetzlich faul, und alle Arbeit wird bei ihnen von den Frauen verrichtet.

Und das nicht nur im Haushalt – nicht selten trifft man Ostjakenfrauen, die mit der Flinte auf die Eichhörnchen- und Zobeljagd ausziehen. Ein Förster aus Tobolsk erzählte mir einmal erstaunliche Dinge über die Faulheit der Ostjaken und die Art, wie sie ihre Frauen behandeln. Er hatte öfters weite, öde Strecken im Tobolsker Kreise, die sogenannten „Nebel", abzugehen. Als Führer nahm er Ostjaken, denen er drei Rubel täglich zahlte. Jedem dieser Ostjaken folgte in die „Nebel" seine Frau, oder wenn er ledig oder Witwer war, seine Schwester oder Mutter. Die Frauen schleppten alle Reiseutensilien: die Axt, den Kessel und den Proviantsack. Die Männer trugen nichts außer einem Messer in ihrem Gürtel. Wenn Halt gemacht wurde, befreite die Frau die Raststätte vom Schnee, nahm dem Manne den Gürtel ab, zündete das Feuer an und bereitete den Tee, während der Mann sich niederließ und in Erwartung des Abendessens ruhig seine Pfeife rauchte.

Der Tee war fertig und ich führte die Tasse gierig an den Mund. Aber das Wasser hatte einen unerträglichen Fischgeruch. Ich goss in die Tasse zwei Löffelchen Moosbeerenessenz, und da erst wurde der Tee genießbar.

Und Sie spüren nichts?" fragte ich Nikifor.

Uns stört der Fisch nicht; wir essen ihn roh, wie er aus dem Netz kommt und unter den Händen zappelt – da schmeckt er am besten."

Die junge Ostjakin trat wieder ins Zimmer, sich wie vorher das Gesicht verhüllend, näherte sie sich dem Herd und brachte mit göttlicher Ungeniertheit ihr Kostüm in Ordnung. Ihr auf dem Fuße folgte der Mann und machte mir durch Nikifor den Vorschlag, ihm seinen Vorrat an Pelzwerk – etwa fünfzig Eichhörnchen – abzukaufen.

Ich habe Sie für einen Kaufmann aus Obdorsk ausgegeben und nun möchte er Sie gern zum Käufer haben", berichtete Nikifor.

Sagen Sie ihm, dass ich ihn auf dem Rückwege wieder aufsuchen will Jetzt hätte es aber keinen Zweck für mich, die Felle mitzuschleppen."

Wir beendeten unseren Tee, rauchten eine Zigarette und Nikifor streckte sich auf der Bank aus, um ein kleines Schläfchen zu machen, bis die Rentiere ihr Mahl beendet hätten. Auch ich wollte für mein Leben gern ein wenig schlafen, aber da ich fürchtete, dass ich dann bis zum Morgen schlafen würde, ließ ich mich mit Notizbuch und Bleistift am Herde nieder, um die Eindrücke der bisherigen Reise festzuhalten. Wie einfach und glücklich alles bis jetzt abgelaufen ist. Fast schon zu einfach … Um 4 Uhr morgens weckte ich meine Jamschtschiks, und wir verließen die Schominer Jurten.

Also bei den Ostjaken tragen wie Frauen so auch Männer Zöpfe mit Bändchen und Ringen? Wahrscheinlich werden die Zöpfe nicht häufiger als einmal im Jahre geflochten?"

Die Zöpfe?" antwortete Nikifor, „die flechten sie ziemlich oft. Wenn sie betrunken sind, ziehen sie einander an den Zöpfen. Sobald sie ordentlich voll sind, fahren sie einander in die Haare, bis der Schwächere schließlich sagt: lass los! Da lässt ihn der andere los und sie trinken wieder zusammen.

Lange könne" sie nicht böse miteinander sein, da haben sie gar kein Herz dazu …

Nachdem wir die Schominer Jurten hinter uns hatten, gelangten wir an den Soswa-Fluss. Der Weg führte bald längs des Flusses, bald durch den Wald. Es wehte ein scharfer durchdringender Wind, und ich konnte nur mit Mühe meine Aufzeichnungen machen. Eben fahren wir über einen offenen Platz, auf der einen Seite liegt ein Birkenwäldchen, auf der anderen das Flussbett. Der Weg ist entsetzlich. Vor unseren Augen verweht der Wind die schmale Spur, die unsere Schlitten hinter sich gelösten haben. Das dritte Rentier gleitet jeden Augenblick von der Schlittenspur ab. Es versinkt bis an den Bauch im Schnee, macht ein paar verzweifelte Sprünge, und wenn es sich wieder auf den Weg emporgearbeitet hat, drängt es das in der Mitte laufende Tier zur Seite, wodurch wieder das Leittier aus seinem Laufe herausgebracht wird. Wenn es über den Fluss oder einen festgefrorenen Sumpf geht, müssen wir im Schritt fahren. Um das Unglück voll zu machen, erlahmte auch noch das Leittier, dasselbe Leittier, von dem Nikifor behauptet hatte, dass es nicht seinesgleichen habe. Den linken Fuß nach sich schleppend, läuft es wacker auf dem entsetzlichen Wege fort, und nur der tief gesenkte Kopf und die bis zur Erde herausgestreckte Zunge lassen seine übermäßigen Anstrengungen erraten. Der Weg senkte sich plötzlich, und wir sahen uns zwischen zwei Schneewänden, die etwa 1½ Arschin hoch sein mochten. Die Rentiere drängten sich zu einem Haufen zusammen und es machte den Anschein, als ob die beiden Flankentiere das mittlere aufrechterhielten. Ich bemerkte, dass aus dem Hinterfuß des Leittieres Blut floss

,,Ich bin ja ein wenig Rossarzt", erläuterte Nikifor, „und da hab ich ihm, während Sie schliefen, ein bisschen zur Ader gelassen."

Er hielt die Tiere an, holte aus seinem Gürtel das Messer hervor, näherte sich dem kranken Tiere und begann, das Messer mit den Zähnen festhalten, den verletzten Fuß zu untersuchen.

Kann es nicht begreifen, was das sein mag, brummte er kopfschüttelnd, indem er mit seinem Messer oberhalb des Hufes herumzustochern begann. Das Tier lag während der Operation mit fest angezogenen Beinen da, ohne den geringsten Laut von sich zu geben und leckte traurig das hinab triefende Blut ab. Die roten Blutstropfen hoben sich scharf von der weißen Schneedecke ab und bezeichneten die Stelle unseres Aufenthalts. Ich bestand darauf, dass die Gespanne gewechselt würden: die Rentiere des Schominer Ostjaken kamen vor unsern Schlitten, die unsrigen aber vor seinen, der bei weitem leichter war. Das arme lahme Leittier wurde hinten angebunden Von Schoma bis hierher hatten wir etwa fünf Stunden gebraucht; ebenso viel blieben noch bis Ourvi, wo wir erst bei dem reichen Rentierpächter Semjon Pantjuj neue Rentiere bekommen konnten. Ob er sich aber bereit erklären wird, seine Tiere zu einem so weiten Wege herzugeben, war sehr die Frage. Ich sprach darüber mit Nikifor.

.Vielleicht werden wir bei Semjon zwei Troikas kaufen müssen?"

Na, dann kaufen wir sie", entschied Nikifor.

Meine Reise macht auf ihn denselben Eindruck, wie auf mich seinerzeit die Reise des Jules Verneschen Helden Folnas Fogh. Wie erinnerlich, kaufte dieser zuerst Elefanten, dann Dampfer, und als ihm die Feuerung ausging, warf er die hölzerne Takelage in den Schlund der Maschine.

Bei dem Gedanken an neue Schwierigkeiten und Ausgaben wird Nikifor, wenn er angeheitert ist – das heißt also immer – ganz Feuer und Flamme. Er identifiziert vollkommen seine Person mit der meinigen, blinzelt mir listig zu und meint: „Ja, das wird uns einen schönen Batzen Geld kosten … Aber wir können ja darauf pfeifen, uns kommt's aufs Geld nicht an. Was heißt Rentiere? Fällt eins, kaufen wir uns ein anderes… Ich soll die Tiere schonen? Niemals! So lange sie's aushalten – fahren wir. Ho, Ho! Die Hauptsache ist, dass wir ans Ziel kommen. Stimmt's?"

Stimmt!"

Wenn Nikifor Sie nicht hinbringt – dann bringt Sie auch sonst niemand hin. Mein Onkel Michael Ossipowitsch ein guter Bauer sagt mir: Nikifor, Du fährst dieses Subjekt? Fahr' zu! Nimm sechs Rentiere aus meiner Herde und fahr' zu! Nimm sie umsonst. Und der Gefreite Suslikow sagt: Fährst Du? Da hast Du fünf Rubel!"

Wofür denn?" frage ich erstaunt.

Dass ich Sie fortbringen soll."

Na, na, wirklich dafür? Was hat er denn davon?"

Bei Gott dafür! Er liebt die Brüder, er steht für sie, wie ein Fels. Denn, wollen wir einmal sagen, für wen leidet Ihr? Für die Gemeinde doch, für die Armen. Da, sagt er, da hast Du fünf Anbei, Nikifor, ich segne Dich. Auf meine Verantwortung, fahr' zu!"

Jetzt haben wir einen Wald erreicht und sofort wird der Weg erträglicher, denn die Bäume schützen ihn vor Schneestürmen. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, im Walde herrscht Stille und mir wird so warm, dass ich den „Gussj" ablege und im bloßen Halbpelz bleibe. Der Ostjake mit unseren Rentieren bleibt fortwährend zurück und wir müssen auf ihn warten. Von allen Seiten umgeben uns hohe Tannen. Die gewaltigen Bäume, bis an die Spitze zweiglos, stehen kerzengerade, und es scheint, als ob wir mitten durch einen herrlichen, alten Park führen. Weit und breit kein Laut. Nur hin und wieder flattert ein Schneehuhn, dessen Färbung von den uns umgebenden Schneehügeln nicht im Geringsten absticht, und fliegt tiefer in den Wald hinein. Mit einem Mal ist der Tannenwald zu finden, der Weg senkt sich steil zum Flusse hinab, wir kippen um, richten uns wieder in die Höhe, durchschneiden die Soswa und fahren wieder über eine offene Stelle. Nur ab und zu erhebt sich ein niedriges Birkenbäumchen über die Schneemassen. Wir fahren wahrscheinlich über einen Sumpf.

Nun, wie viel Werst haben wir wohl hinter uns?" erkundige ich mich bei Nikifor.

Ich denke, an die dreihundert … Aber wer kann's wissen, hier hat niemand die Wersten gemessen außer Erzengel Michael, sonst aber niemand … Na macht nichts: in drei Tagen sind wir bei den Bergwerken, wenn nur das Wetter anhält. Manchmal kommt's ganz toll… Einmal hat mich bei Ljapin der Schneesturm überrascht, in drei Tagen hab' ich da bloß fünf Werst gemacht. Dass Gott behüte!"

Da ist auch schon Klein-Ourvi: drei, vier elende Jurten, und nur eine von ihnen bewohnt. Vor zwanzig Jahren waren sie wahrscheinlich alle noch voll von Menschen, aber die Ostjaken sterben in schreckenerregender Progression aus … Noch zehn Werst und wir sind in Groß-Ourvi. Ob wir dort Semjon Pantjuj antreffen werden? Und wird er uns neue Rentiere zur Verfügung stellen? Mit den unsrigen weiter zu fahren, ist ganz unmöglich.

Ein Misserfolg! Wir haben in Ourvi keinen einzigen von den Bauern vorgefunden. Sie lagern alle mit den Rentieren in einem Tschum, zwei Rentierläufe von hier. Jetzt müssen wir ein paar Werst zurück und dann seitwärts abbiegen. Wenn wir in Klein-Ourvi Halt gemacht und uns erkundigt hatten, wären ein paar Stunden Zeit erspart gewesen. In einer der Verzweiflung nahen Stimmung wartete ich, bis die Frauen uns an Stelle des erkrankten Leittiers ein anderes Rentier beschafften. Wie überall, waren auch in Ourvi die Frauen angeheitert und baten mich, als ich meinen Proviant auspackte, um Schnaps. Die Konversation wird durch Vermittlung Nikifors geführt, der gleich geläufig russisch und syrjanisch spricht und außerdem noch zwei Ostjakendialekte beherrscht: den südlichen und den nördlichen, die fast gar keine Ähnlichkeit mit einander ausweisen. Die hiesigen Ostjaken sprechen kein Wort russisch. Übrigens sind die russischen Kraftworte gänzlich in den Bestand der Ostjakensprache ausgenommen und bilden nächst dem Monopolschnaps den einzigen unbestreitbaren Beitrag der staatlichen Russifizierungskultur. In Gegenden, wo man nicht einmal das russische sdrawstwuj (Guten Tag) kennt, blitzt von Zeit zu Zeit auf dem dunklen Hintergrunde der Ostjakenlaute gleich einem Meteor ein schneidiges, vaterländisches Wörtchen auf, das noch dazu akzentfrei und mit tadelloser Deutlichkeit herausgebracht wird.

Von Zeit zu Zeit bewirte ich die Ostjaken und Ostjakinnen mit meinen Zigaretten, die sie mit respektvoller Geringschätzung rauchen. Diese an stärksten Spiritus gewöhnten Gurgeln sind völlig unempfindlich für meine armseligen Zigaretten. Sogar Nikifor, der allen Erzeugnissen der Zivilisation Anerkennung zollt, bemerkt, dass meine Zigaretten nichts wert seien.

Wir fahren nach der Zeltstelle. Wie wild und öde alles ringsum! Die Rentiere eilen über Schneehaufen hinweg, irren zwischen den Räumen des Urwaldes umher, so dass ich absolut nicht begreife, wie der Jamschtschik den Weg bestimmt. Er besitzt ein ganz besonderes Gefühl dafür, genau so, wie diese Rentiere, die mit ihren Geweihen aus die merkwürdigste Weise zwischen dem unentwirrbaren Dickicht der Fichten- und Tannenzweige hindurch lavieren. Der neue „Führer", den man uns in Ourvi gegeben, hat ein ungeheures, weitästiges Geweih, das nicht weniger als einen Meter misst. Der Weg ist auf jeden Schritt von Zweigen versperrt, und jeden Augenblick scheint es, dass das Tier sich mit seinem Geweih unbedingt in ihnen verwickeln müsse. Noch im letzten Moment macht es eine kaum merkbare Kopfbewegung und keine einzige Nadel auf den Zweigen gerät in Bewegung.

Auch hier ein Misserfolg! Der alte Besitzer hat sich mit seinen Arbeitern nach der Sommerzeltstelle begeben, wo ein Teil der Rentiere zurückgeblieben ist. Von Stunde zu Stunde wird er zurückerwartet, doch um welche Zeit kann keiner angeben. Ohne ihn aber kann sich sein Sohn, ein junger Bursche mit gespaltener Oberlippe, nicht entschließen, endgültig mit uns zu verhandeln. Wir müssen notgedrungen warten. Nikifor lässt seine Rentiere frei laufen, damit sie sich am Moos gütlich tun. Um sie aber unter den fremden Tieren wiederzufinden, fährt er mit dem Messer mehrmals über den Rücken der beiden Männchen und lässt auf dem Fell seine Initialen zurück. Die freie Zeit ausnutzend, repariert er unseren Schlitten, der unterwegs ganz aus den Fugen geraten ist. In heller Verzweiflung streiche ich im Freien umher und trete ins Zelt. Eine junge Ostjakin hält einen ganz nackten, drei- bis vierjährigen Knaben auf den Knien. Die Mutter kleidet ihn an. „Wie können sie bei den vierzig- und fünfziggradigen Frösten mit den Kindern in solchen Zelten leben?" „Nachts geht es ganz gut", erklärt mir Nikifor, „man vergräbt sich dann im Pelzwerk und schläft. Ich selbst habe ja nicht bloß einen Winter in Zelten gelebt. Der Ostjak kleidet sich zur Nacht ganz nackt aus und kriecht so in die „Malitza" hinein. Schlafen kann man schon so, aber das Aufstehen ist bös. Vom Atmen wird die ganze Kleidung mit Reif bedeckt, so dass man sie beinahe mit dem Beil zerschlagen muss … Ja, das Aufstehen ist bös." Das junge Weib wickelt den Kleinen in das Ende ihrer Malitza und reicht ihm die Brust. Hier stillt man die Kinder bis zum fünften oder

sechsten Lebensjahr.

Ich siede mir am Herd ein wenig Wasser. Ehe ich mich versehe, hat Nikifor aus meiner Teebüchse Tee auf seine Handfläche geschüttet und ihn in die Teekanne getan. Ich habe nicht den Mut, ihm deswegen Vorwürfe zu machen, und muss nun einen Tee trinken, der von einer Handfläche kommt, die wohl vieles, aber leider lange keine Seife gesehen hat.

Das junge Weib hat unterdes den Kleinen gestillt und gewaschen; sie trocknet ihn darauf mit feinen Hobelspänen ab, kleidet ihn an, lässt ihn aus dem Zeit laufen, und ich bewundere die Zärtlichkeit, mit der sie das Kind behandelt. Jetzt sitzt sie da und arbeitet: sie näht mit Rentiersehnen eine „Malitza" aus Rentierfetten zusammen. Die Arbeit ist nicht nur dauerhaft, sondern unzweifelhaft auch geschmackvoll Der ganze Saum ist mit Mustern verziert, die aus hellen und dunklen Rentierfellstückchen zusammengesetzt sind. Jede Naht ist von einem schmalen Streifen roten Zeuges durchbrochen. Alle Familienmitglieder tragen Fellstiefel, Rentierhemden und Rentierpelze, die von den Weibern verfertigt worden sind. Welch eine höllische Arbeit steckt darin!

Der älteste Sohn liegt schon das dritte Jahr im Winkel des Zeltes schwer krank danieder. Er sucht, wo es nur angeht, Arzneien zu erlangen, nimmt sie in ungeheuren Dosen zu sich und lebt den ganzen Winter im Zelt unter freiem Himmel. Der Kranke hat ein selten durchgeistigtes Gesicht: die Leiden haben darauf Furchen gezogen, die ihm einen Abglanz des Gedankens verleihen … Ich erinnere mich, dass eben hier, bei den Ostjaken von Ourvi, vor einem Monat der junge Kaufmann Dobrowolsky aus Beresow, der nach Pelzwerk gekommen war, gestorben ist. Er lag hier einige Tage im Fieber ohne irgendwelche Hilfe.

Der alte Pantjuj, den wir erwarten, besitzt etwa fünfhundert Rentiere. Er ist im ganzen Bezirk durch seinen Reichtum bekannt. Das Rentier bedeutet hier alles: es ernährt, bekleidet und fährt seinen Besitzer. Vor einigen Jahren kostete ein Rentier 6 bis 8 Rubel, jetzt werden 10 bis 15 Rubel verlangt. Nikifor erklärt das durch die ununterbrochenen Epidemien, die Hunderte von Rentieren dahinraffen.

Die Dämmerung senkt sich immer tiefer herab. Ich bin mir klar darüber, dass bei Anbruch der Nacht niemand mehr Rentiere einfangen würde, ich will aber die letzte Hoffnung nicht aufgeben und erwarte den Alten mit solcher Ungeduld, wie ihn vielleicht noch niemand in seinem ganzen langen Leben erwartet hat. Es war schon ganz dunkel, als er endlich mit seinem Arbeiter zurückkehrte. Er trat ins Zeit, begrüßte uns sehr förmlich und setzte sich am Herd nieder. Sein kluges, gebieterisches Gesicht frappierte mich. Offenbar erlaubte ihm das Bewusstsein, der Besitzer von fünfhundert Rentieren zu sein, sich als König von Kopf bis zu den Zehen zu fühlen.

Sagen Sie ihm doch, was wir wollen", munterte ich Nikifor auf, – „wozu denn Zeit verlieren!"

Warten Sie, jetzt geht es nicht: sie essen gleich zu Abend."

Ins Zelt trat der Arbeiter, ein stämmiger, breitschulteriger Bauer, begrüßte sich näselnd mit den Anwesenden, wechselte in der Ecke sein feuchtes Schuhwerk und rückte dem Herdfeuer näher. Welch ein grauenerregendes Gesicht! Die Nase ist vollkommen eingefallen und die Oberlippe hoch in die Höhe gezogen; der Mund steht halboffen und zeigt die mächtigen weißen Zähne. Ich wandte mich voller Entsetzen zur Seite.

.Soll man sie vielleicht schon jetzt mit Spiritus bewirten?“ fragte ich Nikifor. seine Autorität achtungsvoll anerkennend. .Gerade die beste Zeit!" entgegnete Nikifor.

Ich holte die Flasche hervor. Das junge Weib, das nach der Ankunft des Alten ihr Angesicht verhüllte, entzündete am Herd ein Stück Birkenrinde und kramte aus dem Kasten einen metallenen Schnapsbecher hervor. Nikifor wischte den Becher mit dem Rand seines Hemdes aus und füllte ihn bis zum Rande. Die erste Portion wurde dem Alten dargebracht. Dieser nickte erhaben mit dem Kopfe und leerte wortlos den großen Becher, der mit 95prozentigem Spiritus gefüllt war. Keine Muskel zuckte in seinem Gesicht.

Darauf trank der jüngere Sohn mit der gespaltenen Oberlippe. Er leerte den Becher mit genauer Not, schnitt eine fürchterliche Grimasse und spuckte oft in das Herdfeuer. Darauf trank der Arbeiter und schüttelte lange den Kopf von einer Seite zur anderen. Endlich reichte man dem Kranken den Becher, dieser trank ihn jedoch nicht leer. Nikifor goss die Neige in das Herdfeuer, um zu zeigen, wie gut der Stoff war, mit dem er sie bewirte! hatte: der Spiritus flammte hell vor ihnen auf.

Taak",B bemerkte der Alte gelassen.

,,Taak", wiederholte der Sohn ausspuckend.

Saka taak",C bestätigte der Arbeiter.

Darauf trank Nikifor und fand auch, dass der Spiritus zu stark sei und verdünnte ihn mit Tee; Nikifor steckte den Daumen in den Hals der Fische und schwang sie durch die Luft. Alle tranken darauf noch einmal. Endlich begann Nikifor sein Anliegen vorzubringen.

Saka chosa", sagte der Alte.

Chosa, saka chosa", wiederholten alle anderen im Chor.

Was sagen sie?" fragte ich Nikifor voll Ungeduld.

Sie sagen, es ist sehr weit … Dreißig Rubel verlangen sie bis zu den Hüttenwerken bei direkter Fahrt, ohne zu wechseln" Und wie viel will er bis Njaksimwoli?"

Nikifor brummte mit offenkundiger Unzufriedenheit, deren Grund ich erst später erfuhr, etwas vor sich hin sprach aber dennoch mit dem Alten und antwortete: Bis Njaksimwoli dreizehn Rubel, bis zu den Hüttenwerken dreißig.“

Und wann fängt er die Rentiere ein?"

Bei Tagesanbruch."

Ist es denn jetzt ganz unmöglich?"

Nikifor übersetzte ihnen ironisch meine Frage. Alle brachen in ein Gelächter aus und schüttelten verneinend den Kopf. Ich sah nun ein, dass es nicht anders ging, als hier zu übernachten und trat aus dem Zelt ins Freie. Es war still und warm. Ich schlenderte etwa eine halbe Stunde auf der freien Fläche herum und legte mich darauf im Schlitten nieder. In den Halbpelz und die „Gussj" gehüllt, lag ich hier wie in einer Pelzhöhle Der Luftkreis über dem Zelt war vom Widerschein des ersterbenden Herdfeuers rötlich gefärbt. Ringsum lag alles in tiefster Ruhe. Hoch oben funkelten hell und klar die Sterne. Die dunklen Umrisse der Räume hoben sich grell in der Luft ab. Der durch meinen Atem aufgetaute Geruch der Rentierfelle bedruckte mich ein wenig, doch im Pelzwerk war es angenehm warm, die Süße der Nacht hypnotisierte mich, und ich schlief mit dem festen Vorsatz ein gleich bei Tagesanbruch die Bauern auf die Beine zu bringen und mich möglichst schnell auf den Weg zu machen. Wie viel Zeit ist schon verloren – furchtbar!

Mehrmals erwachte ich voller Unruhe, doch ringsum war alles in Dunkelheit gehüllt. Kurz nach vier Uhr, als der Himmel sich zum Teil aufhellte, kroch ich in den Tschum hinein, tastete mich zwischen den herumliegenden Leibern zu Nikifor hin und rüttelte ihn aus dem Schlaf. Er wiederum brachte den ganzen Tschum auf die Beine. Offenbar geht das Waldleben zu frostiger Winterzeit bei diesen Leuten nicht spurlos vorüber: nach dem Erwachen räusperten sie sich, husteten und spuckten sie so lange und oft, dass ich es nicht länger hier aushielt und ins Freie hinaustrat. Am Zelteingang ließ ein zehnjähriger Junge aus seinem Munde Wasser auf die schmutzigen Hände fließen und fuhr sich mit ihnen über das schmutzige Gesicht; nach Beendigung dieser Operation wischte er sich sorgfältig mit einem Bündel Hobelspäne trocken.

Bald darauf entfernten sich der nasenlose Arbeiter und der jüngere Sohn mit der gespaltenen Oberlippe auf Schneeschuhen und von Hunden begleitet, um die Rentiere am Zelt zusammenzutreiben. Doch es verging eine gute halbe Stunde, ehe die erste Rentiergruppe aus dem Walde erschien.

Sie haben sie wahrscheinlich schon aufgescheucht", erklärte mir Nikifor, „bald wird die ganze Herde hier sein."

Es war aber nicht der Fall. Erst nach etwa zwei Stunden hatte sich eine genügende Anzahl Rentiere angesammelt. Sie strichen lautlos in der Nähe des Tschum herum, schnupperten mit den Schnauzen im Schnee, sammelten sich in Gruppen, legten sich hier und da nieder. Die Sonne war schon über dem Walde aufgegangen und beleuchtete die Schneefläche, in deren Mittelpunkt sich der Tschum erhob. Die Umrisse der großen und kleinen, dunklen und hellen, gehörnten und ungehörnten Rentiere zeichneten sich vom grellen Hintergrund der Schneefläche scharf ab. Ein wunderbares Bild, dass mir märchenhaft schien und gewiss nie aus meinem Gedächtnis schwinden wird!

Doch sogar dieser Anblick war nicht imstande, die Erinnerung an die verlorene Zeit zu verscheuchen. Der Tag der Eröffnung der Reichsduma – der 20. Februar –war ein unglücklicher Tag für mich… Mit fieberhafter Ungeduld warte ich, bis alle Rentiere sich versammeln. Es geht schon auf zehn und die Herde ist noch immer nicht vollzählig. Einen Tag und eine Nacht haben wir hier verloren: ich sehe, dass wir vor 11 oder 12 nicht von hier fortkommen, und dann müssen wir von hier nach Ourvi 20 bis 30 Werst auf schlechten Wegen machen. Werde ich noch weiter vom Pech verfolgt, kann ich noch heute eingeholt werben. Wenn die Polizei gleich am folgenden Tage meine Abwesenheit bemerkt und von einem der zahlreichen Zechgenossen Nikifors erfährt, welchen Weg er eingeschlagen, so konnte sie noch in der Nacht zum 20. die Verfolgung aufgenommen haben. Wir waren kaum 300 Werst vorwärts gekommen; eine solche Entfernung kann man in etwa anderthalb Tagen zurücklegen Wir hatten folglich dem Feinde soviel Zeit gelassen, als nötig war, uns einzuholen.

Ich begann Nikifor Vorwürfe zu machen, hätte ihm ja schon gestern gesagt, dass man den Alten, ohne Zeit zu verlieren abholen musste, anstatt ihn zu erwarten. Man hätte ihm ja noch einige Rubel zulegen könnten, nur um noch am Abend aufzubrechen. Natürlich, wenn ich selbst ostjakisch verstünde, würde ich das alles allein geordnet haben.

Nikifor blickte traurig an mir vorbei.

Was soll man denn mit ihnen anfangen, wenn sie nicht wollen? … Und die Rentiere sind bei ihnen gut gefüttert und verwöhnt – wie soll man sie denn Nachts fangen? Na, macht aber nichts", sagte er, sich wieder zu mir wendend, „Wir kommen doch hin!"

Kommen wir wirklich hin?"

Jawohl, wir kommen bestimmt hin!"

Ich fange plötzlich auch an, zu glauben, dass es nichts macht, dass wir bestimmt hinkommen. Um so mehr, als schon die ganze Schneefläche ringsum von Rentieren dicht bedeckt ist und die Ostjaken mit ihren Schneeschuhen am Waldesrande auftauchen.

Gleich geht die Rentierjagd ins!" verkündet Nikifor.

Ich sehr, wie jeder der Ostjaken einen Fangriemen zur Hand nimmt. Bedächtig wickelt der alte Rentierzüchter die einzelnen Schlingen auf den linken Arm auf. Dann beginnt zwischen ihnen ein lautes Hinüber- und Herüberrufen von Worten. Scheinbar wird der Kriegsplan entworfen und das erste Opfer bestimmt. Nikifor ist gleichfalls in die Verschwörung eingeweiht. Er hat ein Rudel Rentiere aufgescheucht und sie in den breiten Raum zwischen Vater und Sohn getrieben. Etwas weiter entfernt hat der Arbeiter seinen Staub gewählt. Die erschreckten Rentiere brausen in dichter Masse dahin. Ein ganzes Meer von Köpfen und Geweihen. Die Ostjaken haben einen Punkt in diesem Strom scharf ins Auge gefasst. Eins! Der Alte schleudert seinen Fangriemen und schüttelt dann unzufrieden mit dem Kopfe. Zwei! Der junge Ostjake hat gleichfalls einen Fehlwurf zu verzeichnen. Da aber lässt der Knecht mit der eingefallenen Nase, der hier auf offenem Platze, mitten im brandenden Strom der Rentiere, mir von vornherein durch sein elementar selbstbewusstes Wesen Achtung eingeflößt hat, seinen Fangriemen sausen, und schon aus der Art, wie er seinen Arm bewegte, durfte man mit Sicherheit schließen, dass ihm der Wurf nicht misslingen werde. Ängstlich stoben die Rentiere auseinander – aber eins von ihnen, ein mächtiges Männchen von weißer Farbe, mit einem Holzklotz um den Nacken, blieb nach zwei, drei gewaltigen Sprüngen stehen und begann, sich wie ein Kreisel um sich selbst zu drehen – der Riemen hatte ihm Geweih und Nacken unwiderstehlich fest umschlungen.

Nach Nikifors Erläuterungen ist das gefangene Rentier das schlaueste in der ganzen Herde, das die anderen Tiere aufrührerisch macht und sie gerade im wichtigsten Moment mit sich fortreißt. Jetzt soll der Rädelsführer angebunden werden, dann wird die Jagd erfolgreicher vonstatten gehen. Von neuem begannen die Ostjaken, die Fangriemen aufzuwickeln, indem sie Schlinge an Schlinge über den linken Arm reihten. Dann erschollen wiederum die lauten, gegenseitigen Zurufe, die einem neuen Aktionsplan galten. Auch ich wurde von uneigennützigem Jagdeifer ergriffen. Ich erfuhr von Nikifor, dass diesmal jenes Weibchen dort, mit dem kurzen Geweih, als Opfer ausersehen sei, und nahm an den kriegerischen Operationen teil. Von zwei Seiten her drängten wir eine Gruppe von Rentieren in die Richtung, wo drei Fangriemen Posto gefasst hatten. Aber das Weibchen schien zu wissen, was ihm bevorstand. Ehe man sich's versieht, machte es eine Seitenwendung und wäre sicher in den Wald entwichen, wenn ihm nicht die Hunde den Weg abgeschnitten hätten. So mussten wir von neuem eine Reihe von Umgehungsbewegungen ausführen. Sieger blieb auch diesmal der Arbeiter ohne Nase, der den richtigen Moment abfasste und dem schlauen Weibchen die Schlinge überwarf.

Dies Weibchen ist unfruchtbar", belehrte mich Nikifor, es trägt keine Kälber und daher kann es bei der Arbeit viel leisten."

Die Jagd wurde interessant, zog sich aber in die Länge.

Nach dem Weibchen wurde mit zwei Fangriemen zugleich ein mächtiges Männchen eingefangen, das einem veritablen Stiere glich. Dann aber trat eine Unterbrechung ein: eine Gruppe von den Rentieren, die wir für die Reise brauchten, riss sich aus dem Kreide los und verschwand im Dickicht. Wiederum entfernten sich der Arbeiter und der jüngere Sohn auf ihren Schneeschuhen in den Wald, und wir warten fast eine halbe Stunde auf sie. Gegen Schluss gestaltete sich die Jagd erfolgreicher, und mit gemeinsamen Kräften wurden dreizehn Rentiere eingefangen: sieben für uns auf den Weg und sechs für unsere Wirte. Gegen 11 Uhr verließen wir auf vier Troikas den Tschum und schlugen den Weg nach Ourvi ein. Der Arbeiter wird uns „zu den Bergwerken" begleiten. Hinter seinem Schlitten ist ein siebentes Rentier zur Reserve angebunden.

Unser lahm gewordenes Leittier, das wir bei unserem Aufbruch nach dem Tschum bei den Jurten von Ourvi zurückließen, hatte sich tatsächlich nicht erholt. Traurig lag es im Schnee und gab sich ohne Schlinge in unsere Hände. Nikifor ließ ihm noch einmal zur Ader, aber ebenso erfolglos, wie zuvor. Die Ostjaken drückten ihre Überzeugung aus, dass das Tier sich den Fuß verrenkt habe. Nikifor stand eine Weile kopfschüttelnd da und verkaufte es dann um acht Rubel einem der hiesigen Jurtenbesitzer zum Abschlachten. Unser armes Leittier wurde von seinem neuen Herrn an einem Stricke fort geschleppt. Das war das Ende des Rentiers, „das in der ganzen Welt nicht seinesgleichen hatte". Interessant ist hierbei die Tatsache, dass Nikifor den Handel, ohne meine Zustimmung einzuholen, abschloss. Unserem Vertrage gemäß sollten die Rentiere erst dann in seinen Besitz übergehen, wenn wir glücklich das Endziel unserer Reise erreicht hätten.

Das Wetter ist so warm, dass der Schnee schmilzt und in weichen, nassen Flocken unter den Hufen der Rentiere nach allen Seiten auseinander spritzt. Die Tiere haben schwer zu ziehen. Die Rolle des Leittiers hat ein Einender von ziemlich bescheidenem Ausstehen; rechts läuft eifrig tragend das unfruchtbare Weibchen und in der Mitte ein fettes, niedriges Rentier, das heute zum ersten Mal erfahren hat, was ein Gespann ist. Von links und rechts eingeschlossen erfüllt es wacker seine Pflicht. Vorn fährt der Ostjake mit meinem Reisegepäck. Er hat über seine „Malitza" einen grellroten Kittel gezogen und hebt sich vom Hintergründe der weißen Schneedecke, des grauen Waldes, der grauen Rentiere und des grauen Himmels wie ein widersinniger und dabei notwendiger Flecken ab.

Der Weg ist so mühsam, dass die Strangriemen am vorderen Schlitten schon zweimal gerissen sind: jedes Mal, wenn wir anhalten, frieren die Kufen an und die Schlitten lassen sich nur mit großer Mühe vom Platze bewegen. Nach den ersten beiden „Läufen" waren unsere Tiere sichtlich ermüdet.

Werden wir in den Nildiner Jurten Halt machen, um Tee zu trinken?" fragt mich Nikifor. „Bis zu den nächsten Jurten ist es noch ziemlich weit."

Ich sah, dass die Jamschtschiks gern Tee getrunken hätten, aber es tat mir leid, noch mehr Zeit zu verlieren, zumal da wir vierundzwanzig Stunden in Ourvi zugebracht hatten. Meine Antwort lautete daher verneinend.

Wie's Ihnen beliebt!" antwortete Nikifor und versetzte dem unfruchtbaren Weibchen mit seiner Treibstange einen Stoß.

Schweigend legten wir weitere vierzig Werst zurück; wenn Nikifor nichts getrunken hat, ist er düster und schweigsam. Es wurde kälter, und mit dem Frost besserte sich auch der Weg. In Sangi-Tur-Paul beschlossen wir, Rast zu machen. Die Jurte hier ist wunderschön, wir fanden dort Bänke und einen mit Wachstuch bedeckten Tisch. Während des Abendessens übersetzte mir Nikifor einen Teil des Gesprächs zwischen dem Arbeiter mit der eingefallenen Nase und den uns bedienenden Frauen, wobei ich interessante Dinge zu hören bekam. Etwa vor drei Monaten hängte sich die Frau unserer Ostjaken auf. Und woran? „Weiß der Teufel, woran", meinte Nikifor, „an einem kurzen, alten Baststrick, den sie an einem Orte befestigte und an dem sie sich in sitzender Lager aufknüpfte. Der Mann war gerade im Walde, wo er mit anderen Ostjaken auf Eichhörnchen jagte. Da kommt der Gemeindediener, auch ein Ostjake, und ruft ihn zu den Jurten zurück: die Frau sei schwer erkrankt („also wird auch bei ihnen in solchen Fällen nicht gleich die Wahrheit gesagt", geht es mir durch den Kopf). Jener aber antwortet: „Gibt's denn dort niemand, um das Feuer auf dem Herd anzumachen? Dazu wohnt ja die Mutter bei ihr – was kann ich denn helfen?" Aber der Gemeindediener gab nicht nach und so kehrte der Mann zu den Jurten zurück, wo die Frau inzwischen das Zeitliche gesegnet hatte. Das ist schon seine zweite Frau", schloss Nikifor seine Erzählung. „Wie denn? Hat sich jene auch aufgehängt?"

Nein, die ist eines natürlichen Todes gestorben, vor Krankheit, wie's sich gehört …"

Es stellte sich heraus, dass die beiden hübschen Kleinen, die unser Ostjake bei seiner Abfahrt von Ourvi zu meinem Entsetzen direkt auf den Mund küsste, Kinder der ersten Frau waren. Mit der zweiten hat er etwa zwei Jahre zusammengelebt.

Musste sie ihn vielleicht gezwungen heiraten?" fragte ich.

Nikifor zog Erkundigungen ein.

Nein, er sagt, dass sie aus freien Stücken zu ihm kam. Später gab er ihren Eltern dreißig Rubel Kalym (Brautgeld) und lebte mit ihr. Warum sie sich aufgehängt hat, weiß man nicht."

Das kommt bei ihnen wohl selten vor?"

Dass sie nicht des natürlichen Todes sterben? Das kommt bei den Ostjaken sehr oft vor. Im Sommer hat sich bei uns auch ein Ostjake mit der Flinte erschossen."

Wie denn? Absichtlich?"

Nein, aus Zufall … Da hat sich auch einmal in unserem Kreise ein Polizeischreiber erschossen … Und wo? Auf dem Wachtturm! Er kletterte ganz oben hinaus und sagte: Da habt ihr's, Hundesöhne! – und schoss sich tot."

War es ein Ostjake?"

Ach wo … Ein russisches Subjekt. Molodzowatow hieß er, Nikita Mitrofanowitsch."

Es war schon dunkel, als wir die Jurten von Sangi-Tur-Paul verließen. Es hatte längst aufgehört zu tauen, obgleich es noch warm war. Der Weg war jetzt herrlich, weich und dabei nicht schlampig. Die Rentiere traten kaum hörbar auf und zogen die Schlitten spielend leicht dahin. Schließlich musste das dritte ausgespannt und hinten angebunden werden, denn, vor Nichtstun mutwillig geworden, konnte es uns leicht den Schlitten zerbrechen. Gleichmäßig und geräuschlos, gleich einem Kahn auf der Spiegelfläche eines Teiches glitten wir über den Schnee. In der tiefen Dämmerung nahm der Wald noch gigantischere Dimensionen an. Ich sah den Weg nicht und empfand auch nicht die Vorwärtsbewegung unseres Schlittens. Es schien als ob die verzauberten Bäume rasch aus uns zueilten, die Sträucher wichen vor uns zur Seite und die alten, schneebedeckten Baumstümpfe, sowie die schlanken Birken blieben weit hinter uns zurück. Alles schien geheimnisvoll … Tschu … tschu … tschu … hörte man das häufige und gleichmäßige Atmen der Rentiere in der lautlosen Stille der Waldnacht und im Rahmen dieses Rhythmus tauchten im Gedächtnisse tausende längst vergessene Laute aus …

Plötzlich werde ich in meinem Halbschlummer von einem unruhigen Gedanken erfasst. Nach dem Aufwand, mit dem ich reise, müssen mich die Ostjaken für einen reichen Kaufmann halten. Ringsherum dichter Wald, finstere Nacht und im Umkreise von fünfzig Werst weder ein Mensch, noch ein Hund. Was kann sie also hindern? Es ist nur ein schwacher Trost, dass ich einen Revolver mitgenommen habe, denn dieser Revolver liegt im Koffer und dieser wiederum auf dem Schlitten des Jamschtschik – desselben Ostjaken mit der eingefallenen Nase, der mir in diesem Moment, ich weiß nicht warum, ganz besonders verdächtig erscheint. Ich will doch lieber auf der nächsten Haltestelle meinen Revolver aus dem Koffer nehmen.

Ein wunderbares Geschöpf, dieser Jamschtschik, in dem roten Mantel! Allem Anschein nach vermag der Umstand, dass ihm die Nase fehlt, auf seinen Geruchssinn keinen Einfluss auszuüben: er wittert gleichsam jedes Mal, wo wir uns gerade befinden und wie wir zu fahren haben. Er kennt jeden Strauch und fühlt sich im Walde, wie in seiner Jurte. Eben sagt er etwas zu Nikifor: es stellt sich heraus, dass hier unter dem Schnee Moos wachsen muss, so dass die Rentiere gefüttert werden können. Wir halten, und als die Rentiere freigelassen waren, zerkleinerte Nikifor etwas Holz und stampfte mit den Füßen unweit des Weges einen Kreis im Schnee fest; in der so entstandenen Vertiefung legte er ein Feuer an, streute rings um dasselbe eine Schicht Tannenzweige und stellte einen Sitz für uns her. An zwei feuchten Resten, die in den Schnee geflickt waren, hingen wir zwei Kesselchen auf und füllten sie in demselben Maße nach, wie der Schnee schmolz … Das Teetrinken dicht am Feuer im Februarschnee wäre mir wahrscheinlich weit weniger verlockend erschienen, wenn ein Frost von vierzig bis fünfzig Grad geherrscht hätte; aber der Himmel war uns merkwürdig gnädig: wir hatten windstilles, warmes Wetter.

Da ich zu verschlafen fürchtete, legte ich mich nicht gleich den Jamschtschiks hin, sondern blieb gegen zwei Stunden am Feuer sitzen, immer von neuem die Glut anfachend, und brachte beim schwach glimmenden Schein derselben meine Reiseeindrücke zu Papier.

Beim ersten Morgengrauen weckte ich die Jamschtschiks aus dem Schlafe. Die Rentiere wurden ohne irgend welche Schwierigkeiten eingefangen. Während man sie herbeibrachte und einspannte, wurde es ganz hell, und nun nahm alles ein recht prosaisches Aussehen an. Die Fichten verloren an Umfang und die Birken eilten uns nicht mehr entgegen. Der Ostjake hatte ein verschlafenes Gesicht und mein nächtlicher Verdacht zerstreute sich wie Rauch. Gleichzeitig fiel mir auch ein, dass der uralte Revolver, den ich mir vor meiner Abreise verschafft hatte, nur zwei Patronen enthielt, und dass mich meine Freunde dringend gebeten hatten, von ihm keinen Gebrauch zu machen, um Unglücksfälle zu vermeiden. So blieb der Revolver ruhig im Reisekoffer liegen.

Wir fuhren jetzt durch dichten Wald: Sannen, Fichten, Birken, mächtige Lärchenbäume, Zedern, und am Flusse wechselten Palmenweiden und biegsame Faulweiden miteinander ab. Der Weg war gut. Die Rentiere liefen gleichmäßig, aber ohne Munterkeit. Der Ostjake auf dem ersten Schlitten saß mit gesenktem Kopfe da und sang ein melancholisches Lied, das nur vier Noten hatte. Vielleicht erinnerte er sich an den alten Baststrick, an dem sich seine Frau aufgehängt hatte. Wald, Wald … Einförmig auf unermessliche Entfernung hin, ist er doch unendlich mannigfaltig in seinen inneren Formen. Da ragt eine halbverkohlte Fichte quer über den ganzen Weg hinüber, und die Schneedecke, die den mächtigen Raum bedeckt, bleibt einen Moment über unseren Köpfen schweben. Hier wieder scheint im vergangenen Herbst ein Waldbrand gewütet zu haben. Die trockenen geraden Baumstämme ohne Rinde und Zweige stehen da wie ziel- und zwecklos in die Erde gesteckte Telegraphenstangen oder wie der Segel entblößte Schiffsmasten in einem vereisten Hafen. Die Brandstätte zieht sich einige Werst hin. Dann folgt dichter, dunkler Tannenwald; die alten Giganten mit den mächtigen Zweigen drängen sich dicht aneinander, ihre Gipfel schließen sich oben zusammen und verwehren den Sonnenschein jedweden Zutritt. Grüne Fäden ziehen sich von Zweig zu Zweig, und die Bäume sehen aus, als wären sie von einem groben Spinngewebe umhüllt. Mitten unter diesen Jahrhunderte alten Tannen nehmen sich Rentiere und Menschen winzig klein aus. Dann wurde der Wald mit einem Male lichter, und plötzlich, bei einer Wendung des Weges, wäre unser Zug beinahe mit einem kleinen Holzschlitten zusammengestoßen, der mit drei Hunden bespannt war und auf dem ein kleines Ostjakenmädchen saß. Neben dem Schlitten lief ein etwa fünfjähriger Junge einher. Beides sehr hübsche Kinder, wie ich überhaupt die Wahrnehmung gemacht habe, dass man bei den Ostjacken recht oft lieblichen Kindergesichtern begegnen kann. Wie es nur kommen mag, dass die Erwachsenen so abstoßend hässlich sind?

Wald und wieder Wald … Hier von neuem eine Brandstätte, scheinbar älteren Ursprungs, denn mitten unter den halbverkohlten Baumstämmen schießt junger Nachwuchs in die Höhe.

Wodurch geraten denn die Wälder in Brand? Durch die Wegfeuer?“

Ach wo“, antwortet Nikifor, „im Sommer kommt hier keine lebendige Seele her, denn im Sommer fahren alle aus dem Flusse. Der Wald entzündet sich durch die Wolken. Die Wolke schlägt ein und steckt den Wald in Brand. Manchmal auch reibt sich ein Baum am anderen, bis sich einer entzündet; der Wind schwingt sie hin und her und im Sommer ist das Holz trocken. Löschen? Ja wer soll denn hier löschen? Der Wind trägt das Feuer weiter, der Wind löscht es aber auch. Erst verbrennt der Baumsaft oben, die Rinde schält sich ab, die Nadeln verbrennen und dann bleibt nur der nackte Stamm. So in zwei Jahren herum trocknen die Wurzeln aus und der Stamm stürzt zu Boden" …

Solche nackte Stämme, die nahe daran sind, umzustürzen, gibt es hier in Mengen. Mancher hält sich nur noch an den Zweigen eines benachbarten Baumes. Jener da war schon im Stürzen, blieb aber, Gott weiß aus welche Weise, kaum mehr als drei Arschin über der Erbe schweben. Wir müssen uns bücken, um nicht mit den Köpfen anzustoßen. Wieder folgt einige Minuten lang eine Strecke mächtigen Tannenwaldes, dann taucht unerwartet ein zum Flusse führender Durchhau vor unseren Augen auf.

Auf solchem Durchhau ist es im Frühling ein Vergnügen, Enten einzufangen. Im Frühling fliegen die Enten von oben nach unten. Nach Sonnenuntergang spannt man in so einem Durchhau ein Netz aus, von einem Baume zu dem anderen, bis an die Spitze herauf – ein ganz großes Netz, so groß wie ein Fischnetz. Dann legt man sich selbst unter den Baum. Die Enten lassen sich im Schwarm zum Durchhau nieder, geraten in der Dämmerung ins Netz und verwickeln sich darin. Dann braucht man bloß das Strickchen anzuziehen, das Netz stellt, und die ganze Beute sitzt fest. So kann man auf einmal an die fünfzig Stück einfangen. Da heißt es nur, tüchtig zubeißen."

Wie denn, ,zubeißen'?"

Na, man muss sie doch töten, damit sie nicht wieder fortfliegen. Da beißt man oben am Köpfchen zu, dass das Blut nur so an den Lippen herunterfließt … Natürlich kann man sie auch mit dem Stocke totmachen, aber mit den Zähnen ist es sicherer …"

Anfangs schienen mir die Rentiere, gleich den Ostjaken, alle von einem Schnitt zu sein. Bald aber überzeugte ich mich, dass jedes der sieben Rentiere seine eigene Physiognomie hatte, und lernte sie unterscheiden. Zuzeiten empfinde ich ein Gefühl der Zärtlichkeit für diese wunderbaren Tiere, die mich bereits um fünfhundert Werst der Eisenbahn näher gebracht haben.

Mein Spiritusvorrat ist zu Ende; Nikifor ist nüchtern und sehr düster gestimmt. Der Ostjake singt sein Lied vorn Baststrick. Bisweilen kann ich mich mit dem Gedanken vertraut machen, dass ich es bin, eben ich und kein anderer, der sich hier mitten in der unermesslichen Schneewüste verloren hat. Die beiden Schlitten, diese sieben Rentiere und diese zwei Menschen – sie alle bewegen sich nur mir zuliebe vorwärts. Zwei erwachsene Männer, Familienväter, haben ihren Herd verlassen und unterziehen sich allen Entbehrungen dieser Reise, die im Interesse eines Dritten liegt, der ihnen ganz fremd ist, fremd bleiben wird, und mit dem sie nicht das Geringste gemein haben. Derartige Verhältnisse finden wir allerorts und überall. Aber nirgends vielleicht vermögen sie unsere Einbildungskraft so sehr zu frappieren, wie hier in der Taiga, wo sie in einer so groben, nackten Form zutage treten.

Nach der Abendfütterung der Rentiere passierten wir die Jurten von Saradeisk und Menk-ja-Paul und machten erst in den Jurten von Changlas Halt. Hier sind die Leute womöglich noch wilder als in den übrigen Ostjakenniederlassungen. Alles ist für sie Gegenstand der höchsten Verwunderung. Meine Essgerätschaften, meine Schere, meine Strümpfe, die Decke im Schlitten riefen lautes Entzücken und Staunen hervor. Bei jedem neuen Gegenstand, den ich hervorholte, ließen sie ein vergnügliches Krächzen vernehmen. Um mich zu orientieren, breitete ich eine Karte des Gouvernements Tobolsk vor mir aus und las alle Bezeichnungen der benachbarten Jurten und Flüsschen laut ab. Die Ostjaken lauschten mit offenem Munde, und als ich zu Ende war, erklärten sie im Chorus, wie mir Nikifor übersetzte, das alles stimme. Ich hatte kein Kleingeld bei mir, doch um mich für die genossene Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen, schenkte ich Männern und Frauen je drei Zigaretten und je einen Bonbon; alle dankten mir. Eine alte, muntere Ostjakin, die nicht so abschreckend hässlich war, wie die anderen, verliebte sich buchstäblich in mich, das heißt, eigentlich in meine Sachen. An ihrem Lächeln konnte man sehen, dass ihr Gefühl nichts anderes war, als ein völlig uneigennütziges Entzücken an diesen Erscheinungen einer ganz fremden Welt. Sie war mir behilflich, meine Füße in die Decken zu wickeln, danach verabschiedeten wir uns in sehr freundlicher Weise, wobei jeder ein paar angenehme Worte in seiner eigenen Sprache sagte.

Wird die Duma bald zusammentreten?" fragt mich unerwartet Nikifor."

Sie ist schon vor drei Tagen zusammengetreten …“

Aha … Was wird sie jetzt wohl sagen? Es wäre gut, wenn man sie ein bisschen zur Vernunft bringen möchte – dass die Fliegen sie fressen! Haben unsereins ganz den Hals zugeschnürt . … Mehl, zum Beispiel, hat früher einen Rubel fünfzig Kopeken gekostet und jetzt, sagt der Ostjake, einen Rubel achtzig. Wie können wir bei solchen Preisen leben? Und wir Syrjanen werden noch mehr als die anderen bedrückt: hast du eine Fuhre Stroh gefahren – zahle, eine Klafter Holz – zahle! Die Russen und die Ostjaken sagen: „Das Land ist unser." Da müsste sich die Duma einmischen. Unser Urjadnik – der geht noch an, ein tüchtiger Kerl, aber der PristawD der ist nicht nach unserem Geschmack.

Die Duma wird wohl nicht viel Gelegenheit haben, sich einzumischen – man wird sie auseinandertreiben."

Das ist's ja eben, dass man sie auseinandertreiben wird", bestätigte Nikifor und fügte ein paar kräftige Wörtchen hinzu, deren Energie selbst bei dem ehemaligen Gouverneur von Saratow, Stolypin, ein Gefühl der neidischen Bewunderung erregt hätteE

Bei den Jurten von Njaksimwoli langten wir nachts an. Hier erschien es möglich, die Rentiere zu wechseln, was ich trotz der Opposition Nikifors auszuführen beschloss. Dieser bestand die ganze Zeit darauf, dass wir mit den Ourviner Rentieren weiter „durch”fahren sollten, ohne die Tiere zu wechseln, wobei er die unsinnigsten Argumente heranzog und mir bei den Unterhandlungen alle möglichen Hindernisse in den Weg zu legen suchte. Ich wunderte mich lange über dieses Benehmen Nikifors, bis mir der wahre Grund ausging, er sorgte nämlich bereits für den Rückweg vor und wollte auf den Ourviner Rentieren wieder zu den Jurten zurückkehren, wo er die seinigen zurückgelassen hatte. Aber ich blieb bei meinem Entschluss, und wir mieteten für achtzehn Rubel neue Rentiere bis Nikito-Iwdelsk, einer großen Goldgräberniederlassung am Ural. Dies ist der Endpunkt der “Rentiertrasse”, von hier aus bis zur Eisenbahn waren noch etwa hundertundfünfzig Werst auf Pferden zurückzulegen. Von Njaksimwoli bis Iwdelsk werden zweihundertfünfzig Werst gerechnet, etwa vierundzwanzig Stunden flotter Fahrt.

Hier wiederholte sich dieselbe Geschichte wie in Ourvi: nachts konnten keine Rentiere eingefangen werden – wir mussten wiederum übernachten und kehrten in einer ärmlichen Syrjanenhütte ein. Der Wirt war früher Angestellter bei einem Kaufmann, aber in Streitigkeiten mit seinem Chef geraten, und saß nun hier ohne Stellung und ohne Arbeit. Er frappierte mich sofort durch seine literarische, nicht bäuerliche Ausdrucksweise. Wir gerieten ins Gespräch, und er sprach mit vollem Verständnis über die Möglichkeiten der Dumaauflösung, sowie über die Aussichten der Regierung, eine neue Anleihe abzuschließen. „Ist schon der ganze HerzenF herausgegeben?” fragte er mich unter anderem. Und dabei ist dieser aufgeklärte Mensch ein wahrer Barbar. Er rührt keinen Finger, um seiner Frau, die die ganze Familie ernährt, Beistand zu leisten. Sie bäckt für die Ostjaken Brot, zwei Öfen täglich, Holz und Wasser schleppt sie ganz allein herbei. Außerdem hat sie sich mit den Kindern zu plagen. Die ganze Nacht, die wir hier zubrachten, legte sie sich keine Stunde nieder. Hinter dem Verschlag brannte ein Lämpchen, und nach dem Geräusche konnte man erkennen, dass sie sich mit dem Brotkneten zu schaffen machte. Am Morgen war sie, wie tags zuvor, auf den Beinen, setzte die Teemaschine auf, kleidete die Kinder an und reichte dem Manne die trocken gewordenen Rentierstiefel.

Weshalb hilft Ihnen denn der Mann gar nicht?” fragte ich sie, als wir in der Hütte allein geblieben.

Er findet ja hier keine rechte Arbeit. Fischhandel treiben kann man hier nicht. Rauchwild zu jagen, versieht er nicht. Der Boden wird hier nicht bebaut erst im vorigen Jahre haben es die Nachbarn zum ersten Mal mit dem Pflügen versucht. Was soll er also hier anfangen? Im Haufe schaffen aber unsere Bauern nicht. Und faul sind sie auch, das muss man sagen, nicht viel besser wie die Ostjaken. Deshalb verheiraten sich die russischen Mädchen niemals mit Syrjanen. Sollen sie selbst ins Unheil rennen? Nur wir Syrjanenfrauen sind daran gewohnt."

Heiraten die Syrjanenfrauen gern Russen?"

O, sehr gern. Die russischen Bauern heiraten sehr gern unsere Frauen, denn in der Arbeit sind wir allen anderen Frauen voran. Aber einen Syrjanen heiratet kein einziges russisches Mädchen. Solch ein Fall ist noch nicht vorgekommen."

Sie sagten aber, dass ihre Nachbarn im vorigen Jahre zu pflügen versucht haben. Wie ist denn die Ernte ausgefallen?"

Sehr gut. Einer hat anderthalb Pud Roggen gesät und dreißig Pud geerntet. Ein anderer hat einen Pud gesät und zwanzig eingebracht. Vierzig Werst ist es von hier bis zu den Feldern."

Njaksimwoli war auf meiner Reise der erste Ort, wo ich etwas von landwirtschaftlichen Versuchen hörte.

Es gelang uns erst nachmittags, den Ort zu verlassen. Der neue Jamschtschik hatte wie alle anderen versprochen, „gleich bei Tagesanbruch" loszufahren, in Wirklichkeit aber kam er erst gegen 12 Uhr mit den Rentieren an. Er gab uns einen Jungen mit.

Die Sonne brannte blendend grell. Es war schwer, die Augen zu öffnen. Sogar durch die geschlossenen Augenlider drang der grelle Schein des Schnees und der Sonne wie rotglühendes Metall. Und gleichzeitig wehte ein gleichmäßiger kalter Wind, der das Tauen des Schnees verhinderte. Erst als wir in den Wald hineinführen, konnte das Auge sich ein wenig erholen. Der Wald war derselbe wie früher; dieselbe Menge verschiedener Tierspuren, die ich nun mit Nikifors Hilfe unterscheiden gelernt hatte. Es gibt hier eine Menge Hasenfährten, denn niemand macht auf Hasen Jagd. Dort wiederum ist ein ganzer Kreis von Hasenspuren sichtbar und von ihm gehen nach allen Richtungen die Spuren auseinander. Es könnte scheinen, dass hier nachts ein Hasenmeeting stattgefunden hat und dass die Hasen, von einer Patrouille überrascht, nach allen Seiten auseinander gestoben sind. Auch Rebhühner gibt es hier in Mengen, und die Spuren ihrer scharfen Zehen sind hier und da auf der Schneefläche sichtbar. Längs des Weges zieht sich aus ungefähr dreißig .Schritt in gerader Linie die schleichende Spur des Fuchses. Dort wiederum zogen graue Wölfe, in dieselben Spuren tretend, im Gänsemarsch den Schneeabhang zum Flusse hinab. Überall sind die kaum bemerkbaren Spuren der Waldmaus zu finden. Das leichtfüßige Hermelin hat an vielen Stellen seine Spuren zurückgelassen, die dem Knoten eines straff gezogenen Schnürchens ähnlich sehen. Hier wiederum schneidet eine Reihe ungeheurer Löcher unseren Weg: hier war das plumpe Elentier vorübergezogen.

Nachts machten wir wieder Halt, spannten die Rentiere aus, zündeten ein Feuer an, tranken Tee, und am Morgen erwartete ich wiederum in fieberhafter Erregung die Rückkehr der Rentiere. Ehe sich Nikifor auf die Suche nach ihnen aufmachte, sagte er mir, dass sich bei einem der Tiere der Holzpflock losgelöst hätte.

Und ist es fort?" fragte ich.

Das Tier ist hier", entgegnete er und begann dabei auf den Besitzer der Rentiere energisch zu schimpfen, der nichts auf den Weg mitgegeben hätte, weder einen Strick noch einen Fangriemen. Ich sah, dass die Sache nicht ganz in Ordnung war.

Als erstes wurde ein Männchen eingefangen, das sich zufällig dem Schlitten genähert hatte. Nikifor ahmte lange das Rentierkrächzen nach, um das Vertrauen des Männchens zu gewinnen. Dieses trat ganz nahe heran, sprang aber sofort zur Seite, als es Nikifors verdächtige Bewegung bemerkte. Diese Szene wiederholte sich dreimal. Endlich band Nikifor aus einem Strick, den er vom Schlitten abgenommen hatte, eine Schlinge, breitete sie auf dem Boden aus und bedeckte sie mit Schnee. Darauf begann er in einschmeichelnder Weise zu krächzen und Lockrufe auszustoßen. Als das Tier sich wieder näherte, zog Nikifor an dem Stricke und der Holzpflock steckte in der Schlinge. Das gefangene Rentier wurde nun als Parlamentär in den Wald zu den anderen Rentieren gezerrt. Eine gute Stunde verging. Im Walde war es mittlerweile ganz hell geworden. Von Zeit zu Zeit hörte ich in der Ferne menschliche Stimmen. Dann wurde es wieder still. Wie stand es nun mit dem Rentier, das sich vom Holzpflock frei gemacht hatte? … Ich hatte unterwegs von Fällen gehört, wo man zuweilen die davongelaufenen Rentiere gegen drei Tage zu suchen hatte. Nein, da führt man sie!

Zuerst hatte man alle Tiere mit Ausnahme des Ausreißers eingefangen. Dieser strich in ihrer Nähe umher und neigte sich allen Schmeichelworten gegenüber unzugänglich. Dann trat er selbst zu den eingefangenen Tieren, stellte sich selbst in deren Mitte und steckte die Schnauze in den Schnee. Nikifor schlich auf allen Vieren heran und ergriff ihn am Fuß. Das Tier sprang mit einem Ruck zur Seite, stürzte aber kopfüber zu Boden, Nikifor mit sich reißend. Es half ihm aber nichts! Sieger blieb Nikifor.

Gegen zehn Uhr morgens langten wir in Sou-Wada an. Drei Jurten waren mit Brettern verschlagen, nur eine davon war bewohnt. Auf Holzpflöcken lag ein ungeheures ausgeweidetes Elenweibchen, etwas weiter – ein zerschnittenes wildes Rentier; Stücke bläulichen Fleisches lagen auf dem verräucherten Dache und zwischen ihnen zwei Elenkälber, die aus dem Bauch der Mutter herausgeschnitten worden waren. Alle Bewohner der Jurte waren betrunken und schliefen einer neben dem andern aus dem Boden. Unser Gruß wurde von niemand erwidert. Es war eine große Hütte, aber unglaublich schmutzig und ohne irgend welches Mobiliar. Als Fenster diente eine geplatzte Eisscheibe, die an der Außenseite mit einem Holzpflock gestutzt war. An der Wand hingen die zwölf Apostel, die Bilder aller Monarchen der Welt und eine Reklame der Gummischuhmanufaktur. Nikifor entzündete selbst das Feuer auf dem Herd. Darauf erhob sich eine Ostjakenfrau, vor Trunkenheit taumelnd. Neben ihr schliefen drei Kinder, eins von ihnen ein Säugling. In den letzten Tagen hatten die Wirtsleute viel Erfolg auf der Jagd gehabt, denn außer dem Elentier hatten sie noch stehen wilde Rentiere erlegt; sechs ausgeweidete Tiere lagen noch im Walde.

Weshalb stehen überall soviel Jurten leer?" fragte ich Nikifor, als wir Sou-Wada verließen.

Aus verschiedenen Gründen … Wenn in der Hütte jemand gestorben ist, lebt der Ostjake in derselben nicht weiter: er verkauft sie oder schlägt sie mit Brettern zu, ober er trägt sie auf anderen Grund und Boden. Ebenso wenn eine unreine Frau in die Hütte tritt – dann ist es aus, dann wechselt er die Hütte. Bei ihnen leben die Frauen in diesem Zustand für sich allein in den Zelten … Und außerdem sterben die Ostjaken sehr schnell aus … Deshalb gibt es so viele leere Jurten."

Hören Sie mal, Nikifor Iwanowitsch. Nennen Sie mich jetzt nicht mehr einen Kaufmann. Wenn wir uns den Bergwerken nähern, erzählen Sie, dass ich ein Ingenieur von der Goetheschen Expedition bin. Haben Sie von dieser Expedition gehört?"

Habe nichts gehört."

Sehen Sie, es gibt ein Projekt, eine Eisenbahn von Obdorsk nach dem Eismeer zu bauen, um von dort die sibirischen Waren auf Dampfschiffen direkt nach dem Ausland zu verschiffen. Also erzählen Sie nun, dass ich in dieser Angelegenheit in Obdorsk war.

Der Tag ging zu Ende. Bis Iwdel blieben weniger als fünfzig Werst. Wir gelangten zu den Wogulenjurten Oikapaul. Ich bat Nikifor, in die Hütte zu treten und dort Erkundigungen einzuziehen. Er kehrte etwa nach zehn Minuten zurück. Es zeigte sich, dass die Hütte voll von Menschen war, alle waren betrunken. Es tranken die eingesessenen Wogulen zusammen mit den Ostjaken, die Frachtgut nach Njaksimwoli führen. Ich weigerte mich, in die Hütte zu treten, aus Furcht, dass Nikifor sich auch betrinken würde. „Ich werde nicht trinken", beruhigte er mich, „ich will nur bei ihnen ein Fläschchen auf den Weg kaufen."

Ein hochgewachsener Bauer trat an unseren Schlitten und begann mit Nikifor ostjakisch zu sprechen. Ich begriff ihre Unterhaltung solange nicht, bis von beiden Seiten energische Komplimente in reinster russischer Sprache fielen. Der Fremdling war nicht ganz nüchtern. Nikifor hatte auch während der kurzen Zeit, wo er in der Jurte Erkundigungen einzog, etwas Gleichgewicht eingebüßt. Ich mischte mich in das Gespräch. „Was will er?" fragte ich Nikifor, seinen Partner für einen Ostjaken haltend. Doch dieser antwortete selbst für sich. Er wandte sich an Nikifor mit der üblichen Frage: wen fährst Du und wohin? Nikifor schickte ihn zu allen Teufeln, was nun die Grundlage zu unserem weiteren Gedankenaustausch abgab.

Was sind Sie eigentlich: Ostjake ober Russe?" fragte ich meinerseits.

Russe, Russe … Schiropanow heiß ich, aus Njaksimwoli Und Sie sind wohl aus der Goetheschen Gesellschaft?" fragte er mich.

Ich war ganz betroffen.

Ja, aus der Goetheschen Gesellschaft. Woher wissen Sie das?"

Man hat mich aus Tobolsk dahin aufgefordert, als die erste Expedition unternommen wurde. Ein Engländer war damals dort, ein Ingenieur, Charles Wiljamowitsch … ach, da hab ich seinen Namen vergessen …"

Puttman?" fragte ich aufs Geratewohl.

Puttman? nein, nicht Puttman … Puttmans Frau war da wohl, aber jener nannte sich Kruse."

Nun, und was tun Sie jetzt?"

Ich bin Kommis bei Schulgin in Njaksimwoli; fahre jetzt mit seinem Frachtgut. Bin aber jetzt den dritten Tag schon krank. Alle Knochen tun mir weh …"

Ich bot ihm Arznei an. Es blieb mir nun nichts anderes übrig, als mit ihm in die Jurte zu treten.

Das Feuer auf dem Herd war im Erlöschen, doch keiner kümmerte sich darum. es war fast vollkommen dunkel. Die Hütte war zum Ersticken voll. Man saß auf den Pritschen, aus dem Fußboden oder stand an den Wänden.

Die Weiber verhüllten wie gewöhnlich beim Anblick eines Neuangekommenen zur Hälfte ihr Gesicht. Ich steckte ein Licht an und gab Schiropanow etwas Salizylnatron. Sofort umringten mich betrunkene und halb trunkene Ostjaken und Wogulen, mit Klagen über ihre Krankheiten. Schiropanow fungierte als Dolmetscher und ich verteilte gewissenhaft für alle Krankheiten Chinin und Salizylnatron.

Ist es wahr, dass Du dort lebst, wo der Zar lebt?" fragte mich in gebrochenem Russisch ein alter vertrockneter kleingewachsener Wogule. „Jawohl, in Petersburg", erwiderte ich.

Ich war auf der Ausstellung, hab alle gesehen, und den Zaren gesehen, hab den Polizeiminister gesehen, hab den. Großfürsten gesehen …"

Hat man Euch als Deputierte dort hingebracht? In Eurer Wogulentracht?"

»Ja, ja, ja …" nickten alle zustimmend.

Ich war damals jünger, stärker … Jetzt bin ich alt und krank …•

Ich gab ihm auch Arznei. Die Ostjaken waren höchst zufrieden, drückten mir einmal ums andere die Hand, baten in einem fort, ich möchte von ihrem Branntwein trinken und waren über meine Absage sehr betrübt. Nikifor saß mittlerweile am Herd und trank ein Glas nach dem anderen, abwechselnd Tee und Schnaps. Ich sandte mehrmals vielsagende Blicke hinüber, er schaute aber beharrlich in sein Glas und gab sich den Anschein, als bemerke er mich gar nicht. Es blieb mir nichts übrig, als abzuwarten, bis Nikifor seinen „Tee" zu Ende getrunken hatte.

Wir sind schon den dritten Tag aus Iwdel unterwegs", erzählte mir unterdes Schiropanow, „bloß fünfundvierzig Werst, denn die Ostjaken trinken in einem fort. In Iwdel kehrten wir bei Mitrij Mitritsch Ljalin ein. Ein prächtiger Mensch. Er hatte neue Büchlein aus den Hüttenwerken mitgebracht, den „Volkskalender" und auch Zeitungen. Im Kalender sieht es, zum Beispiel ganz genau, wie viel jeder Gehalt bekommt. Wer zweihunderttausend, wer hundertundfünfzigtausend. Wofür eigentlich? Dies alles erkenn' ich nicht an. Ich kenne Sie nicht, Herr, ich sage ihnen aber gerade heraus: ich habe keine Blutsauger nötig … und was den Zaren anbetrifft, so bin ich auch nicht dafür … ich will es nicht … ganz überflüssig. Den zwanzigsten hat sich die Duma versammelt; diese ist noch besser als die erste. Wollen sehen, wollen sehen, was die Herren Sozialen fertig bringen. Ihrer sind dort gegen fünfzig Mann, und Narodniki hundertundfünfzig, und Kadetten etwa hundert … Schwarze gibt's dort nur ganz wenig."

Und mit welcher Partei sympathisieren Sie selbst, wenn man fragen darf?" fragte ich ihn.

Ich bin nach meinen Überzeugungen Sozialdemokrat … denn die Sozialdemokratie behandelt alles vom Standpunkte der wissenschaftlichen Grundlage."

Ich rieb mir die Augen vor Erstaunen. Ringsum die weltverlorene Taiga, schmutzige Schlitten, betrunkene Wogulen, – und der Angestellte irgend eines kleinen Dorfwucherers erklärt mir, dass er kraft der „wissenschaftlichen Grundlage" Sozialdemokrat sei. Ich muss gestehen, dass ein Gefühl des Parteistolzes in diesem Augenblick meine Brust höher hob.

Weshalb stecken Sie denn in diesen öden Saufnestern?" fragte ich ihn mit aufrichtigem Bedauern.

Was soll man tun? Ich war früher in Barnaul in Stellung, verlor sie aber dann. Bin Familienvater. Musste schon hierher gehen. Man muss mit den Wölfen heulen. Ich schlug damals das Anerbieten aus, mit der Goetheschen Expedition zu gehen, jetzt aber würde ich es mit Vergnügen tun. Wenn Sie mich brauchen könnten, schreiben Sie mir bitte."

Mir ward ganz peinlich zumute, und ich wollte ihm schon sagen, dass ich kein Ingenieur sei und zur Expedition gar nicht gehöre, sondern dass ich ein flüchtiger Sozialer sei … doch ich überlegte und sagte nichts.

Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen. Die Wogulen umringten uns draußen, mit dem Lichte leuchtend, das ich ihnen auf ihre Bitte hin geschenkt hatte. Die Luft war so still, dass das Licht ruhig brannte. Der Abschied zog sich stark in die Länge, ein junger Ostjake machte sogar den Versuch, mir die Hand zu küssen. Schiropanow brachte das Fell eines wilden Rentieres herbei und legte es mir als Geschenk auf den Schlitten. Geld wollte er dafür unter keinen Umständen annehmen, und wir kamen schließlich überein, dass ich ihm eine Flasche Rum, die ich für alle Fälle mitgenommen hatte, als Gegengeschenk zurückließ. Endlich setzte sich der Schlitten in Bewegung.

Nikifor hatte seine ganze Gesprächigkeit wieder erlangt. Zum hundertsten Male erzählte er mir, wie er bei seinem Bruder saß, als Nikita Serapionowitsch – „ein listiger Bauer“ – eintrat, wie Nikifor sich zuerst weigerte, wie dann der Gefreite Suslikow ihm fünf Rubel gab und sprach: „Fahr' zu!" und wie Gevatter Michael Jegorowitsch – „ein guter Bauer“ – zu ihm sagte: „Schafskopf! Warum hast du's mir nicht gleich gesagt, dass du dieses Subjekt fährst?" … Als Nikifor mit seiner Erzählung zu Ende war, fing er wieder von vorne an: „Jetzt will ich's Ihnen aber ganz heraus sagen … Ich saß bei meinem Bruder, Pantelej Iwanowitsch, besoffen war ich nicht, aber angeheitert, wie jetzt. Na, ich sitze also da, plötzlich, höre ich, tritt Nikita Serapionowitsch herein …"

Jetzt hören Sie einmal, Nikifor Iwanowitsch“, unterbreche ich den Erzähler, „wir sind bald am Ziele. Herzlichsten Dank für alles! Ich werde niemals den Dienst vergessen, den Sie mir erwiesen haben. Wenn es anginge, würde ich sogar in die Zeitungen setzen lassen: „Ergebensten Dank an Nikifor Iwanowitsch Chrjenor; ohne seine Hilfe wäre es mir nie gelungen, zu entfliehen"."

Warum geht denn das nicht?"

Und die Polizei?"

Ach ja, richtig … Sonst wär's schön … Ich habe aber auch schon einmal in der Zeitung gestanden." „Na nu?"

Die Sache war so … Ein Kaufmann aus Obdorsk eignete sich das Geld seiner Schwester an, und ich – offen gestanden – hatte ihm dabei geholfen. Eigentlich nicht geholfen, sondern nur so … ein bisschen dabei mitgewirkt. Wenn, sage ich, das Geld bei bin ist, so hat dir's Gott gegeben. Stimmt's?"

Na, nicht ganz … "

Je nu … Ich hatte also ein bisschen mitgewirkt. Niemand bekam davon etwas zu wissen, bloß ein Subjekt, Peter Petrowitsch Wachlakow, kriegte es doch heraus. Der Schelm! Nimmt und druckt in der Zeitung: „Der eine Dieb, der Kaufmann Adrianow, hat den Diebstahl ausgeführt, und der andere, Nikifor Chrjenor, hat ihm geholfen, die Sache zu verbergen." Ja so, wie ich's Ihnen sage, so stand's wirklich gedruckt."

Da hätten Sie ihn aber wegen Verleumdung anzeigen müssen", riet ich Nikifor. „Wir haben einen Minister – vielleicht haben Sie davon gehört –, Gurko heißt er, der hat auch – wie man's nimmt – gestohlen ober stehlen helfen. Und wie man ihn überführte, zeigte er die Anzeiger wegen Verleumdung an. Auch Sie hätten also …"

Ich wollte ja, aber es ging nicht. Er ist ein guter Freund von mir … Der hat es auch nicht aus Hass getan, sondern nur des Spaßes halber … Ein geschickter Bursche – ein Tausendsassa. Mit einem Wort sage ich Ihnen, kein Mensch, sondern der reine Preiskurant …

Um 4 Uhr nachts langten wir in Iwdel an und kehrten bei Dimitri Dimitrewitsch Ljalin ein, den mir Schiropanow als einen „Narodnik" (Volkstümler) empfohlen hatte. Ich lernte in ihm einen herzlichen und überaus liebenswürdigen Menschen kennen, dem ich hier mit Freuden die aufrichtigste Anerkennung ausspreche.

Wir haben hier ein stilles Leben", erzählte er mir beim Samowar. „Selbst die Revolution hat uns nicht berührt. Natürlich interessieren wir uns für die Ereignisse, verfolgen sie in den Zeitungen, entsenden in die Duma Linksstehende, aber uns selbst hat die Revolution nicht auf die Beine gebracht. In den Hüttenwerken und auch in den Bergwerken gab es Streiks und Demonstrationen. Wir aber leben still dahin, nicht einmal Polizei gibt es hier, außer dem Bergurjadnik. Der Telegraph beginnt erst bei den Bogoslower Werken, dort ist auch die Eisenbahn, etwa 130 Werst von uns. Verschickte? Haben wir auch, ein paar Mann: drei Livländer, einen Lehrer, einen Zirkusathleten. Sie sind alte bei der „Draga" (Goldbaggermaschine) beschäftigt und leiden keine besondere Not. Führen auch ein stilles Leben, wie wir Iwdeler. Wir graben nach Gold, abends besuchen wir uns beim Herdfeuerchen … Bis zu der Station „Bergwerke" können Sie ganz getrost fahren, niemand wird Sie anhalten. Sie können dorthin mit der Semstwopost ober auf selbst gemieteten Pferden. Ich werbe einen Jamschtschik für Sie suchen."

Ich verabschiedete mich von Nikifor. Er konnte sich nur noch mit Mühe auf den Füßen halten.

Sehen Sie zu, Nikifor Iwanowitsch", sagte ich, „dass Ihnen nur der Schnaps auf dem Rückwege keinen Possen spielt"

Macht nichts … was der Bauch abkriegt, kriegt auch der Buckel ab", waren seine Abschiedsworte.

Hier Schließt eigentlich die „heroische" Periode meiner Flucht – die Fahrt mit Rentieren durch die Taiga und Tundra, eine Entfernung von 700 bis 800 Werst. Dank einer günstigen Fügung der Verhältnisse gestaltete sich die Flucht, selbst in ihrem gewagtesten Teile, viel einfacher und prosaischer, als ich sie mir selbst vorgestellt hatte, solange sie noch Projekt war, und als sie fern stehenden Personen nach den Zeitungsmeldungen erschien. Die weitere Reise bot nichts, das einer Flucht geglichen hätte. Einen beträchtlichen Teil des Weges zu den Bergwerken legte ich in demselben Schlitten mit einem Steuerbeamten zurück, der längs der Trasse die Eingänge in den Schnapsmonopolbuden einkassierte. Dieser biedere Mann dachte auch nicht im geringsten daran, dass er die Flucht einer Person förderte, die die staatlichen Grundlagen des Schnapsmonopols zu untergraben bestrebt war. Bei den Bergwerken angelangt, sprach ich hier und da vor, um zu erfahren, ob es sicher sei, hier die Eisenbahn zu besteigen. Die örtlichen Konspiratoren jagten mir durch ihre Berichte von dem dortigen Spionagewesen große Furcht ein und empfahlen mir, vorerst eine Woche bei den Bergwerken zu bleiben und dann mit einem Warentransport bis Solikamsk zu fahren, wo es unvergleichlich gefahrloser sei. Ich hörte aber auf diesen Rat nicht und bedauere es auch nicht. Zu der Nacht zum 26. Februar setzte ich mich bei der Station „Bergwerke" in einen Wagen der Kleinbahn und stieg nach 24-stündiger, langsamer Fahrt auf der Station Kuschwa in den Zug der Permbahn um. Dann langte ich über Perm, Wjatka und Wologda am Abend des 2. März in Petersburg an. So hatte ich zwölf Tage und Nächte unterwegs zubringen müssen, um die Möglichkeit zu bekommen, auf einem Iswoschtschik über den Newski-Prospekt zu fahren. Das ist aber gar nicht viel: „hin" hatten wir einen ganzen Monat gebraucht.

Auf der Uraler Kleinbahn war meine Lage immer noch sehr unsicher: auf dieser Zweiglinie, wo jeder „fremde" Mensch auffällt, konnte man mich auf jeder Station auf telegraphische Anweisung aus Tobolsk verhaften. Als ich aber 24 Stunden darauf in dem bequemen Wagen der Permbahn saß, fühlte ich sofort, dass das Spiel gewonnen war. Der Zug passierte dieselben Stationen, wo uns vor kurzem noch die Gendarmen, Strashniks und Isprawniks so feierlich empfangen hatten. Jetzt aber lag mein Weg in einer ganz anderen Richtung, und die Gefühle, die mich beseelten, waren ganz anderer Natur. In den ersten Augenblicken kam es mir in dem geräumigen und fast leeren Wagen zu eng und schwül vor. Ich trat auf die Wagenplattform hinaus, es war zugig und finster, und unwillkürlich drang aus meiner Brust ein lauter Schrei – ein Schrei der Freude und der Freiheit!

Der Zug der Perm-Kotlassbahn aber trug mich vorwärts, vorwärts und vorwärts …


A „Kissy“ sind Stiefel aus Rentierfell mit dem Haar nach oben; „Tschishy" sind Strümpfe aus Rentierfell mit dem Haar nach innen; die „Maritza" ist ein Pelz mit dem Pelzwerk nach innen. Über die „Maritza" wird in der kalten Jahreszeit die „Gussj" gezogen, ein Pelz mit dem Pelzwerk nach außen.

B Stark.

C Sehr stark.

D Bezirkskommissar.

E Für die deutschen Leser wird es dienlich sein, zu erwähnen, dass Herr Stolypin dank dem unerschöpflichen Reichtum an Schimpfwörtern, den er bei der Unterdrückung der Agrarunruhen im Gouvernement Saratow an den Tag gelegt, bei den dortigen Bauern einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hat.

F Alexander Herzen, großer russischer Dichter.

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