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Leo Trotzki 19100909 Die Entwicklungstendenzen der russischen Sozialdemokratie

Leo Trotzki: Die Entwicklungstendenzen der russischen Sozialdemokratie

[„Die Neue Zeit“, 28. Jahrgang, 2. Band, Nr. 50 (9. September 1910), S. 860-871. In dem Artikel kommt Trotzkis damaliges Versöhnlertum gegenüber den Menschewiki zum Ausdruck. Die in Teil V. entwickelten Perspektiven haben sich als durchaus falsch erwiesen.]

I.

Der wissenschaftliche Sozialismus, wie ihn seine Schöpfer klarlegten, ist aus der materiellen und geistigen Entwicklung der fortgeschrittenen europäischen Länder abgeleitet worden. Vor den Führern der Arbeiterbewegung aber erstand er dann als fertige Doktrin, als Formel, die es galt in die Praxis umzusetzen. Jene inneren Widersprüche in den Konstruktionen des Sozialismus, die der Marxismus theoretisch überwunden hatte, kehrten bei der praktischen Anwendung des Marxismus in Form national-politischer Widersprüche zurück. Selbst die beste soziale Doktrin, das heißt diejenige, die die Welterfahrung am richtigsten wiedergibt, kann die Erfahrung selbst nicht ersetzen. Jedes Land musste und muss für sich aufs Neue den Marxismus erwerben, um ihn zu besitzen. Der internationale Charakter der sozialistischen Bewegung zeigt sich nicht nur darin, dass jedes Land aus der Erfahrung des fortgeschritteneren Landes für sich Lehren zieht, sondern auch darin, dass es dessen Fehler wiederholt

Der Kampf innerhalb der internationalen Sozialdemokratie ist im Großen und Ganzen die Widerspiegelung der Widersprüche des Anpassungsprozesses der sozialrevolutionären Klasse an die politischen Formen und rechtlichen Normen der kapitalistischen Staaten. Die Extreme, zwischen denen diese ganze Entwicklung sich bewegt, sind einerseits die anarchistische „Verneinung" jedes staatlich-rechtlichen Überbaues, die die ökonomische Basis in eine metaphysische Versteinerung verwandelt, der die Anarchosozialisten und Syndikalisten das Dynamit des reinen revolutionären Willens entgegenhalten; andererseits die reformistische Impotenz, für die alle Einschränkungen des proletarischen Klassenkampfes als etwas Absolutes erscheinen – aus dem einzigen Grunde, weil der böse Wille der Klassenfeinde des Proletariats jene Einschränkungen vorsorglich in „Gesetze" umgewandelt hat. Insofern diese Ausschweifungen in der Richtung des Anarchismus und des Reformismus auf jeder neuen Etappe des Klassenkampfes notwendig entstehen, indem sie die inneren Bedürfnisse der Arbeiterbewegung einseitig befriedigen, ist die sozialdemokratische Partei genötigt, aus Rücksichten der Selbsterhaltung sie theoretisch zu bekämpfen, sie praktisch zu unterwerfen, endlich ihre Anhänger aus der Partei auszuscheiden, falls durch sie die Aktionsfähigkeit der Partei bedroht wird.

Eine allgemeine Formel für diese Abirrungen gibt es nicht, eben weil diese aus der Anpassung der Formel an das Leben entstehen.

Der scheinbar durch die Internationale gänzlich überwundene Anarchismus feiert seine Auferstehung im Aufblühen des Syndikalismus wieder. Ebenso wie der vollständige Bankrott des sozialistischen Ministerialismus in Frankreich es nicht verhindern konnte, dass in einem anderen Lande der französischen Zunge, in Belgien, die ministerialistischen Tendenzen sich Geltung verschaffen.

Die Theorie kann die Erfahrung nicht ersetzen. In allen westeuropäischen Ländern aber erschien der Marxismus erst nach den bürgerlichen Revolutionen, die die Massen in ihren Wirbel mit hineingezogen, Parteigruppierungen hervorgebracht, Illusionen geschaffen und zerstört und so politische Erfahrungen gehäuft hatten. So arm an praktischen Ergebnissen die deutsche Revolution des Jahres 1848 war, bildete sie doch zugleich mit. dem preußischen Verfassungskonflikt der sechziger Jahre die politische Vorbedingung für die Wirkung Lassalles und die Bildung der deutschen Sozialdemokratie. Sowohl Lassalle als Liebknecht sind aus der Schule des Jahres 1848 hervorgegangen.

In Russland jedoch war die Mission des Marxismus in vielen Beziehungen schwieriger und komplizierter. Hier erschien er nicht nach dem Zusammenbruch einer nationalen Revolution, sondern nach dem Scheitern der primitiv ideologischen Anschauungen über die künftige Revolution (die Richtungen des „Narodnitschestwo", der „Narodnaja Wolja"). Er war nicht die Waffe der unmittelbaren politischen Selbstbestimmung des Proletariats, sondern die Waffe für die vorbereitende gesellschaftliche Orientierung der sozialistischen Intelligenz in einem politisch unentwickelten Milieu, dem jede Tradition eines bewussten Massenkampfes fehlte.

Dass die revolutionäre Intelligenz Russlands vollständig von der sozialistischen Ideologie beherrscht wurde, war die Folge der großen revolutionären Rolle des russischen Proletariats in einer Epoche des totalen Zerfalls der demokratischen Ideologie in Westeuropa. Gegenüber dem geschichtlich jungfräulichen Proletariat hatte die sozialistische Intelligenz den Vorzug des größeren politischen Verständnisses und des materiellen Verknüpftseins mit der vorrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft. Diese Vorzüge gaben ihr den leitenden Platz in den sozialdemokratischen Organisationen. Indem sie aber in die Arbeiterpartei eintrat, trug sie ihre sämtlichen sozialen Eigenschaften: sektiererischen Geist, Intelligenzlerindividualismus, ideologischen Fetischismus in die Partei hinein; diesen ihren Besonderheiten passte sie den Marxismus an, den sie verzerrte. So wurde für die russische Intelligenz der Marxismus das Mittel, jede Einseitigkeit bis zu ihrem äußersten Extrem zu treiben. Wer den historischen Sinn unserer inneren Parteikämpfe verstehen will, der darf die soziale Zusammensetzung der führenden Organisationen in unserer Partei vor und während der Revolution nicht außer acht lassen.

Innerhalb der internationalen Sozialdemokratie sind, wie gesagt, die Spaltungen und Reibungen durch die Schwierigkeiten hervorgerufen, die dem Anpassungsprozess einer sozialrevolutionären Klasse an die begrenzten Bedingungen des Parlamentarismus, des gewerkschaftlichen Kampfes usw. entgegentreten. Jene Fraktionen aber, die bis jetzt die Spaltungen in der russischen Sozialdemokratie hervorgerufen hatten, entstanden in erster Linie durch die Anpassung der marxistischen Intelligenz an die Klassenbewegung des Proletariats. So begrenzt vom Standpunkt des sozialistischen Endziels der reale politische Inhalt dieses Anpassungsprozesses war, so unbändig waren seine Formen, so gewaltig die ideologischen Schatten, die er warf.

II.

Jedes neue Bedürfnis, das die Entwicklung der Arbeiterbewegung mit sich brachte, rief in Russland eine besondere Fraktion ins Leben, die als Organ zur Befriedigung dieses Bedürfnisses diente – und zugleich als die Äußerungsform, in der sich die marxistisch denkende Intelligenz dem Gange der Arbeiterbewegung anpasste; und diese Fraktion schuf ihrerseits ihre eigene Philosophie der gesamten Arbeiterbewegung. Der „Ökonomismus" entstand auf dem Boden eines notwendig gewordenen wirtschaftlichen Kampfes zur Zeit des industriellen Aufschwunges, und die Aufgaben, die ihm dabei erwachsen sind, fasste er in der Weise auf, dass die Politik vollständig oder so weit als möglich aus der Bewegung auszuschalten sei. Als später die wirtschaftliche Krise einsetzte und politisches Leben sich im Lande regte, benutzten es die „Politiker" ihrerseits, um die Ökonomisten (Nurgewerkschafter) ganz und gar zu verdrängen. Gleich danach jedoch teilten sie sich selbst in zwei Richtungen, die der Menschewiki und der Bolschewiki. Der Grund der Spaltung war die Verschiedenheit der Auffassung in der Organisationsfrage, das heißt eigentlich in der Frage des Verhältnisses der Parteiorganisation zu der Massenbewegung.

So scharf sich diese zwei Richtungen von Anfang an bekämpften, waren doch die sachlichen Unterschiede ursprünglich ganz unbedeutend. Da brach die Revolution aus und rollte ihre Riesenprobleme auf. Sie nutzte sowohl den Bolschewismus wie den Menschewismus als zwei fertig vorhandene Organisationsformen aus, indem sie die beiden zwang, in verzweifeltem Kampfe gegeneinander den verschiedenen unaufschiebbaren Bedürfnissen der Bewegung zu dienen. Die politische Geschichte wurde nunmehr nach Monaten gemessen. Der Bolschewismus und der Menschewismus arbeiteten in kürzester Zeit jeder für sich zwei verschiedene Auffassungen der Revolution und zwei Taktiken aus.

Der Kampf um den Einfluss auf das politisch unreife Proletariat, der zwischen der marxistisch denkenden Intelligenz und der Intelligenz anderer Denkart tobte, sowie der Kampf zwischen den verschiedenen Gruppen untereinander trug in sich den Keim des Kampfes für die Emanzipation der sozialistischen Avantgarde des Proletariats von der Hegemonie der Intelligenz, soweit die Bedingungen für diese Emanzipation geschaffen wurden.

Die Bolschewiki erhoben die ursprüngliche primitive Organisation der Partei zum Prinzip und sahen in der politischen Unreife des Proletariats verbunden mit seiner revolutionären Stimmung die Ursache, warum die Arbeiterschaft am zweckmäßigsten durch die marxistische Intelligenz geleitet werde.

Die Menschewiki dagegen kritisierten aufs schärfste den zweistöckigen Aufbau der Partei, enthüllten die bürgerlich-jakobinische Natur der Intelligenz, die sich hinter dem Scheine des Marxismus versteckte und erklärten, dass sich hinter der Fahne der Diktatur des Proletariats die Diktatur über das Proletariat verberge. Der extreme Flügel der Menschewiki ging endlich bis zur Idee der heroischen Selbstverleugnung, indem er an die alte Partei die Forderung des Aufgehens in den Massen stellte. Die Ironie der Geschichte wollte es aber, dass die Menschewiki, während sie diese Selbstverneinungsidee immer deutlicher hervorhoben, selbst als Gegengewicht gegen den Bolschewismus, jedoch ganz nach dessen Art und Weise, eine fest geschlossene Fraktion bildeten, das heißt eine Organisation der Gleichgesinnten, die unter der Parole der Bekämpfung der Führung des Proletariats durch die Intellektuellen im Allgemeinen in Wirklichkeit einen Kampf für ihre eigene Leitung der Arbeitermassen führte – ganz ähnlich jenen famosen Individualisten, die mitgliederreiche Vereine gründeten, um gemeinsam für die Einsamkeit zu schwärmen. Da die führende Rolle der Intelligenz in der russischen Sozialdemokratie keine Zufallserscheinung, sondern als eine Vorbedingung des Selbständigwerdens des sozialistischen Proletariats eine geschichtliche Notwendigkeit ist, und da sowohl die Bolschewiki wie die Menschewiki den Massen die revolutionären Losungen gaben und ihrem elementaren Bedürfnis nach einer starken revolutionären Organisation entsprachen, so gruppierten sich diese Massen je nach den zeitlichen und örtlichen Bedingungen bald um die Bolschewiki, bald um die Menschewiki. Die Massen entnahmen beiden Richtungen das, was für ihren Klassenkampf von Nutzen war, wodurch für eine Zeitlang die Illusion hervorgerufen wurde, als hätten beide Richtungen in den Tiefen des Proletariats feste Wurzel gefasst.

III.

Die Zersetzung der Partei, die in den Jahren 1908 bis 1909 unaufhaltsam fortschritt, hatte zur Ursache: erstens die Verhältnisse und die Stimmung der Epoche der Konterrevolution, zweitens die allgemeine Disharmonie zwischen der alten Form der Parteiorganisation und den veränderten Bedürfnissen der Arbeiterbewegung.

Durch den Zusammenbruch der großen Hoffnungen gelähmt, durch die brutalen Schläge der Konterrevolution niedergeworfen, durch das Elend der zehnjährigen wirtschaftlichen Krise erschöpft, verließen die Arbeiter in Massen die Partei. Das war eine natürliche Reaktion nach der ungeheuren Kräfteanspannung der vorhergehenden Jahre. In seiner elementaren Notwendigkeit vollzog sich dieser Prozess fast ohne ideologische Reflexe. Der rückständigste, nicht sehr umfassende Teil der Arbeiterschaft flüchtete sich vorübergehend in die Reihen der schwarzen Hundert. Ein anderer, ebenfalls ganz unbedeutender Teil schloss sich den mystischen Sekten an. Vereinzelte Hitzköpfe lösten sich von den Massen ab, um allein oder gruppenweise im Guerillakrieg gegen die Polizei und in sinnlosen expropriatorischen Unternehmungen ihr Leben zu verwirken Andere suchten wieder ihrer Klasse zu entrinnen, sonderten sich ab, studierten, machten sich an die Algebra, bereiteten sich zum Abitur vor. Die breiten Massen der Arbeiter aber verfielen in vollständige Apathie, ergaben sich dem Hasardspiel, dem Trunke und Ausschweifungen aller Art. Nur die mehr bewussten und charakterfesten Arbeiter suchten zusammenzuhalten – in Gewerkschaften, Bildungsvereinen usw.

In der demokratischen Presse wurde zu jener Zeit eine wilde Hetze gegen die Sozialdemokratie geführt. Die Partei, die in der vorrevolutionären Epoche der „gebildeten Gesellschaft" den Weg zum „Volke" gebahnt hatte, wurde jetzt beschuldigt, Zwietracht zwischen die Gebildeten und das Volk gebracht zu haben. Sie, die bloß die objektiven Tendenzen der Revolution in die Sprache politischer Losungen übertragen hatte, wurde – da sich die Gegensätze verschärften – naturgemäß beschuldigt, keinen Takt und kein Verantwortungsgefühl zu besitzen. Eben, weil die Sozialdemokratie an der Spitze der Revolution marschiert war, ist die Chronik der Niederlagen der Revolution zum Anklageakt gegen die Sozialdemokratie geworden. Die durch die Revolution hervorgerufene Verschärfung der Klassengegensätze, in ihrem letzten Ende nur von Vorteil für die Sozialdemokratie, versetzte ihr zunächst manchen schweren Schlag. Jene halb sozialistische Intelligenz, die erst gestern als fester Kreis Mitfühlender und Mittuender die Partei umschlossen hatte, kehrte in rascher Wendung zu den nährenden Brüsten ihrer Mutter Bourgeoisie zurück. Die ideologischen Formen dieses Frontwechsels sind eher ergötzlich als lehrreich: Der Syndikalismus, der Mystizismus, die sexuelle Anarchie, das Evangelium Johannis, die „Erinnerungen" der Wanda Sacher-Masoch, all das wurde gegen die sozialistische Verführung mobil gemacht.

Die besten Elemente der Partei, die Führer von 1905, waren zu dieser Zeit verstreut in den Gefängnissen, in der Verbannung, im Ausland Die in den illegalen Organisationen verbliebene Intelligenz verlor vollständig die Fassung. Die politischen Aussichten wurden immer trüber. Unten zogen sich die Massen zurück, oben versiegten die Geldquellen, die ehedem der Partei aus den Reihen der bürgerlichen Demokratie zugeflossen waren. Die Parteiorganisationen gerieten in eine Sackgasse. Ihre Mitglieder sahen sich vor die gemeinen Fragen des Kampfes um die Existenz gestellt. Die Berufsrevolutionäre, Agitatoren, Organisatoren, Transporteure der illegalen Literatur, die vor kurzem nichts als die Verkörper abstrakter Parteikategorien gewesen waren, Asketen, verschwörerische Einsiedler, Leute ohne Bedürfnisse – das Bedürfnis nach einem falschen Pass ausgenommen – materialisierten sich sehr rasch in der konterrevolutionären Atmosphäre und wurden ganz weltlich Es tauchten bei ihnen die legalsten Bedürfnisse auf; Familie, Weib, Kind, Windel und Kindermilch. In fieberhafter Eile liquidierten sie ihre illegale Vergangenheit, kehrten sie in die Universitäten zurück, zogen den Advokatenfrack an, wurden Kommis, Sekretäre der Unternehmerverbände, besetzten die Redaktionstische der bürgerlichen Presse.

Ein Teil der alten Parteiintelligenz übertrug seine Tätigkeit – der Linie des kleinsten Widerstandes folgend in die legalen Arbeiterverbände, die im Gegensatz zu den Parteiorganisationen noch das Wohlwollen des liberalen Bürgertums genossen. Es zeigte sich die Möglichkeit, in den Arbeiterklubs tätig zu sein, ohne mit der Polizei oder den liberalen Freunden der Arbeiterschaft in Konflikt zu geraten. Um sich jedoch diese Möglichkeit der Tätigkeit zu sichern, erschien es notwendig, die Arbeiterverbände davor zu schützen, dass sie durch ihre Verbindung mit der Partei kompromittiert würden. Nun bildete sich rasch eine neue politische Gestalt: die des heimlichen Sozialdemokraten, der öffentlich gegen die Sozialdemokratie kämpft.

In dieser Atmosphäre der Konfusion und des Niederganges fand die menschewistische Kritik, die sich gegen die Parteiführung durch die Intellektuellen richtete, begeisterten Widerhall – bei den Intellektuellen selbst. Die Partei, wie sie sich geschichtlich herausgebildet hatte, wurde nun als ein Unglück für die weitere Entwicklung des Proletariats proklamiert. Das Desertieren der Intelligenz aus der Partei auf Grund dieser Philosophie will nun nicht mehr als Renegatentum, sondern als eine politische Pflicht gelten.

Das also, was in unserem Parteijargon „Liquidatorentum" (der Drang, die Parteiorganisation zu „liquidieren") benannt wird, erweist sich als eine höchst komplizierte Erscheinung. Es umfasst in erster Linie die Ideologie des politischen Desertierens mit ihrer praktischen Schlussfolgerung: „Nieder mit der Partei!" Es umfasst weiter die Sehnsucht nach einem legalen Felde der Betätigung, welche Sehnsucht sich bis zur Bereitwilligkeit versteigt, den revolutionären Geist des Programms und der Taktik dafür zu opfern. Es umfasst schließlich und das ist der Grund für alles andere – die politische Passivität der Massen als unmittelbare Folge der großen Niederlage.

Die Symmetrie der Entwicklung wahrend, ging parallel mit diesem Zerfall des Menschewismus ein Zerfall der Bolschewikifraktion vor sich. Im Bestreben, den Einfluss über die aktiveren Elemente der Arbeiterschaft zur Zeit des Niederganges der Massenbewegung nicht zu verlieren, sanktionierte ein Teil des Bolschewismus im Namen der marxistischen Lehren die Taktik des Freibeuterkrieges, der Expropriationen usw., in der sich doch nur die anarchische Auslösung der revolutionären Psychologie äußerte. Auf dieser Basis gelangte jener Verschwörerzug, der der Partei in der Zeit vor der Revolution besonders der Fraktion der Bolschewiki eigen war, zur vollen Entfaltung. Hinter dem Rücken der Partei werden Dinge vollbracht, die mit dem politischen Leben der Massen nichts gemein haben und ihrem ganzen Wesen nach der Parteikontrolle nicht unterliegen können. In die Parteiorganisationen dringen abenteuerliche Elemente ein. Verantwortliche Parteistellungen wurden nicht selten Personen anvertraut, die ihre organisatorische Fähigkeit in einer Sphäre bekundeten, die außerhalb der Parteibewegung liegt. Die Unabhängigkeit von jeglicher Arbeiterorganisation, heroisches Spekulieren auf „gut Glück", Unternehmungen, die vor den Parteigenossen „zweiten Grades" geheim gehalten werben – dies alles entwickelt einen zügellosen Individualismus, Verachtung gegen die „Konventionalitäten" des Parteistatuts und der Parteimoral, kurz –- eine politische Psychologie, die der Atmosphäre der Arbeiterdemokratie innerlich vollständig fremd und feindlich ist. Während der Hamlet des menschewistischen Kritizismus, bedrängt durch die Widersprüche der politischen Entwicklung, die Existenzfrage der Partei mit seinem liquidatorischen „nicht Sein!" beantwortet, ist der autoritär-zentralistische Bolschewik unter dem Drucke des Selbsterhaltungstriebes bestrebt, die Partei von der Klasse, die Fraktion von der Partei, das Zentrum seiner Fraktion von ihrer Peripherie loszulösen, und er gelangt mit fataler Notwendigkeit dazu, seine ganze politische Praxis in die Stirnersche Fgorrnel „der Einzige und sein Eigentum" einzuzwängen.

Je tiefer die Welle der Massenerregung sinkt, je mehr die Desorganisation in den Reihen der Bolschewiki durch den unaufhaltsamen Rückzug der Intelligenz fortschreiten, desto schärfer das Misstrauen einiger Elemente im Bolschewismus gegen alles, was außerhalb ihrer Fraktion liegt, desto deutlicher äußert sich die Tendenz, die Arbeiterorganisationen durch Verordnungen, Zurechtweisungen, Ultimativforderungen „im Namen der Partei!" in Subordination zu erhalten.

Diese Elemente, die sogenannten Ultimatisten, kennen nur eine Methode, die Dumafraktion oder die legalen Arbeiterorganisationen dem Einfluss der Partei zu unterstellen: die Drohung – ihnen den Rücken zu kehren. Die boykottistische Tendenz, die durch die ganze Geschichte des Bolschewismus geht – Boykottierung der Gewerkschaften, der Reichsduma, der Gemeinde-Vertretungen usw. – das Produkt der sektiererischen Furcht vor dem „Aufgehen" in den Massen, der Radikalismus „der unversöhnlichen Enthaltsamkeit!"–, verdichtet sich zur Zeit der dritten Duma zu einer besonderen Strömung innerhalb des Bolschewismus, die ihrerseits verschiedene Schattierungen aufweist: von vollständiger, anarchistisch gefärbter Ablehnung jeder parlamentarischen Tätigkeit bis zu einer gewissen verächtlich nachlässigen Duldung dieser Tätigkeit.

Der unmittelbare Protest des revolutionären Empfindens gegen das Joch der Stolypinschen Gesetzlichkeit, unter das man sich nach der Sturm- und Drangperiode beugen musste; der politische Formalismus, der die Vereinigung eines revolutionären Kampfes gegen das Regime des 16. Juni mit einer Tätigkeit in dem Parlament des 16. Juni für unmöglich hält; abergläubische Zuversicht, dass die revolutionäre Stimmung als Folge der unversöhnlichen Ablehnung der legalen Kampfesmöglichkeiten wieder auferstehen müsse; endlich – als Grund alles anderen – die Apathie der Arbeiter, die zur politischen Isolierung und Entkräften der sozialdemokratischen Dumavertretung, sowie zur Herabdrückung der Stimmung in allen öffentlichen Arbeiterorganisationen führte – das sind die Elemente und Bestandteile jener verwandten Strömungen, die in unserer Parteisprache die Namen Ultimatismus und Otsowismus (Abberufertum)* sichern

Der Bolschewismus ließ sich jedoch vom Ultimatismus nicht beherrschen. Im Gegenteil, er trat gegen ihn entschieden oder richtiger ungestüm auf. Gleichzeitig geriet der Menschewismus in Konflikt mit dem Liquidatorentum. Die Unterschätzung der revolutionären Rolle der geschlossenen Partei, taktische Zerfahrenheit, mutlose Unterwerfung vor der Klasse bei jedem Stimmungswechsel der letzteren – alle diese Züge nahm das Liquidatorentum in sich auf und eröffnete dadurch einen freien Weg allen revolutionären Elementen des Menschewismus. Eine Folge dieser Prozesse war die Annäherung beider alten Fraktionen; allerdings näherten sie sich zunächst noch sehr misstrauisch, mit dem Gewehr in der Hand.

IV.

Die Spaltung bei den Bolschewiki in der Frage der Dumatätigkeit und bei den Menschewiki in der Frage der Haltung zur Partei war für beide Seiten psychologisch notwendig, um eine Vereinigung möglich zu machen – und das schon deshalb, weil die weitere fraktionelle Zerklüftung der Partei die Mechanik des Fraktionskampfes völlig ad absurdum geführt hätte. An und für sich aber stellte der Bildungsprozess neuer Fraktionen innerhalb der alten nur einen weiteren Schritt vorwärts auf dem Wege des Zerfalls der Partei dar. Eine schöpferische Bedeutung hatten zwei ganz andere Arten von Erscheinungen: die Komplizierung der Formen und Methoden der Arbeiterbewegung und das Hervortreten eines neuen Parteitypus aus den Reihen der vorgeschrittenen Arbeiter. Das eine wie das andere ist ein direktes Erbteil der Revolution.

Vor der Revolution sehen wir amorphe, episodische Ausbrüche des ökonomischen und politischen Kampfes vor uns unter der Organisationsdiktatur geheimer Parteizirkel. Nach der Revolution sehen wir einen fortlaufenden, wenn auch langsamen Kristallisationsprozess in den Massen selbst. Es entstehen verschiedenartige parteilose Arbeiterorganisationen, die eine selbständige Existenz führen. Die Arbeiter betreten den Weg eines planmäßigen Kampfes auf den Gebieten der Gewerkschaften, Genossenschaften, Gemeindevertretungen, des Antialkoholismus und rufen ein ganzes Netz von Bildungsvereinen ins Leben. Die Partei kann diese Organisationen von außen her nicht leiten, da sie deren Kleinarbeit ihre allgemeinen programmatischen Forderungen entgegensetzt. Sie muss erst lernen, diese Forderungen durch alle Windungen der Tagespraxis hindurch zu führen. Die Partei kann bei den neuen Tätigkeitsbedingungen nicht eine abgeschlossene Gesellschaft theoretischer Gesinnungsgenossen bleiben, ein kommandierendes Korps, das über allen Formen der Arbeiterbewegung steht. Sie muss selbst den Kern der Klasse bilden, sich in eine Massenorganisation verwandeln, die mit ihren Fühlorganen in die Tiefen aller proletarischen Vereinigungen eindringt und sie von innen heraus leitet. Für diese Arbeit erwiesen sich die Fraktionen der Menschewiki und Bolschewiki – ihrer bisherigen Ideen- und Organisationsstruktur nach als vollkommen unfähig. Als bloße Vereinigungen von Genossen, die in den Grundfragen des Marxismus einig waren, besaßen beide Fraktionen auf dem Gebiet der parlamentarischen, munizipalen, gewerkschaftlichen Praxis weder bestimmte Anschauungen noch Erfahrungen und entsprechende Organe. Allerdings wurden alle diese Zweige der Tätigkeit stets und überall unter der Leitung einzelner oder in Gruppen vereinigter Sozialdemokraten ausgeübt, aber dies alles geschah außerhalb des Rahmens der Fraktionen, außerhalb ihrer organisatorischen Einwirkung.

Als erste strömten die Menschewiki der Betätigung in der Öffentlichkeit zu (die sozialdemokratischen Fraktionen aller drei Dumas, die Redaktionen der Gewerkschaftsorgane, die Vorstände der Arbeiterklubs usw. bestanden vorzugsweise aus Menschewiki). Aber die menschewistische Fraktion selbst zerfiel dabei, indem sie einzelne Gruppen ausschied, die in den Gewerkschaften, Klubs usw. tätig waren. Die parteilosen Arbeiterorganisationen blieben isoliert: sie fanden zwar Führer in den Reihen der Partei, aber keine Führung durch die Partei. Es mangelte an einer vereinigenden Taktik. Selbst die einflussreichste legale Organisation, die sozialdemokratische Dumafraktion, in der die Menschewiki das Übergewicht haben, arbeitet vollkommen außerhalb der Kontrolle der menschewistischen Fraktion, beständig unterstützt von einzelnen sachkundigen Sozialdemokraten, die meistenteils außerhalb der Fraktionen stehen. Indessen erwies sich überall, wo einzelne Parteiorganisationen sich den Klassenaufgaben in ihrem ganzen Umfang gegenübergestellt sahen (Kampf um die Koalitionsfreiheit, Fragen der Sozialgesetzgebung in der Duma, Konflikte der Arbeitervertreter mit bürgerlichen Politikern auf verschiedenen Kongressen usw.), der Mangel einer koordinierenden Parteileitung als vollkommen unerträglich. In den Reihen der Menschewiki selbst erwachte das Bedürfnis nach der Partei.

Während vereinzelte Gruppen der Menschewiki sich in ihren legalen Positionen befestigten, verteidigten die Bolschewiki energisch den illegalen Parteiapparat gegen die Schläge der Reaktion; sie stellten die Verlagstätigkeit im Ausland wieder her und beriefen eine allrussische Parteikonferenz ein. Anfangs mochte es scheinen, als hätten beide Fraktionen zwei miteinander nicht in Berührung kommende Tätigkeitsgebiete gefunden und so die Spaltung auf unbestimmte Zeit dauernd gemacht. In Wirklichkeit jedoch traten sie eben auf diese Weise unmittelbar an das Problem der Parteieinheit heran.

In den illegalen Organisationen fühlten sich die Bolschewiki immer mehr isoliert. Die selbständigsten proletarischen Elemente der Fraktion folgten den Menschewiks in die Gewerkschaften, Klubs usw. Die revolutionäre Periode, die den Rahmen der Partei mit einem Schlage weit ausgedehnt hatte, hinterließ auf dem illegalen Tätigkeitsfeld ein furchtbares Erbteil in Gestalt einer weitverzweigten Lockspitzelei. Die Wirkung der letzteren wurde um so verheerender, je gedrückter die Stimmung der Massen wurde, je schwächer der Zufluss neuer Elemente in die Parteiorganisationen. Eine irgendwie bedeutende Agitation wurde fast nicht geführt. Rings um die illegalen Geheimorganisationen trat eine völlige Leere ein. Bei diesen Bedingungen trat für alle aktiven Elemente der bolschewistischen Fraktion mit greifbarer Deutlichkeit die Notwendigkeit zutage, das unterirdische Tätigkeitsfeld mit den öffentlichen Arbeiterorganisationen zu verknüpfen, die letzteren zu vereinigen und den Geheimorganisationen frisches Blut zuzuführen. In dem Rahmen der alten Parteiorganisation genommen, bedeutete diese Ausgabe vor allem eine taktische Verständigung der Bolschewiki mit den Menschewiki — zur gemeinsamen Reform der Parteiarbeit und der Reorganisation des Parteiapparats.

Für den neuen Apparat hatte die vorhergehende Entwicklung ein neues Personal geschaffen.

Vor der Revolution hatte die marxistische Intelligenz in der Partei die vorgeschrittenen Arbeiter vollkommen in den Hintergrund gedrängt. Die letzteren standen nicht bloß außerhalb des relativ kleinen Laboratoriums, in dem die theoretischen Formeln und politischen Losungen ausgearbeitet wurden, sondern überhaupt außerhalb irgend einer Organisation. Die Losungen und Formeln erhielten sie in fertiger Gestalt von der Partei, die über ihnen stand.

Die Anforderungen der revolutionären Aktionen hatten mächtige Organisationen geschaffen, die hunderttausende von Arbeitern umfassten. Das war die erste ernste Schule der Arbeiterdemokratie Russlands. Aber die revolutionären Organisationen waren nicht Teile der Parteiorganisation – nicht bloß formell, sondern auch selbst in dem Sinne, dass die politischen Losungen in dieser Periode von der Partei, von ihrem Generalstab formuliert wurden, während die Arbeiterdelegiertenräte nur den Apparat darstellten, der diese Losungen verbreitete und in Wirklichkeit umsetzte. Die Partei galt für die Arbeitermassen auch jetzt als etwas Selbstverständliches, von vornherein und auf immer Gegebenes, das aber außerhalb ihres Kreises stand. Mit diesen Anschauungen über die Partei traten die Arbeiter den offenen Organisationen im Jahre 1906/07 bei. Sie hatten das Bewusstsein, Sozialdemokraten zu sein, das Parteigefühl saß ihnen in den Knochen – und da die sozialdemokratischen Arbeiter naturgemäß die einflussreichsten Mitglieder der Gewerkschaften und der Klubs wurden, so schien ihnen das eine genügende Garantie für den sozialistischen Gang der proletarischen Bewegung. Sie waren Sozialdemokraten ohne Sozialdemokratie. Erst später, im Jahre 1909, als die Partei fast aufgehört hatte, einen leitenden Einfluss auf sie auszuüben, und sie sich auf ihre eigenen, isolierten Kräfte angewiesen sahen, gelangten sie plötzlich – aber nun auch vollkommen und definitiv – zu der Erkenntnis der Notwendigkeit einer Vereinigung durch die Partei. So entstand ein neuer sozialdemokratischer Typus. Das ist nicht mehr der des berufsmäßigen Revolutionärs, der über den Massen schwebt; das ist jetzt ein Schlosser oder ein Weber von Beruf, der stets mit den Massen lebt. Dieser Schlosser oder Weber war häufig schon vor der Revolution unter dem Einfluss der Partei und ihrer Fraktionen gestanden, aber er nahm von ihnen nur das an, was den Anforderungen der proletarischen Bewegung entsprach. Er machte die politische Schule der Revolution durch, eignete sich in den offenen Organisationen die unerlässlichen Methoden der Selbstverwaltung der Klasse an und gelangte durch den Gang des Kampfes selbst zur Erkenntnis der Notwendigkeit einer Vereinigung der legalen mit der illegalen Tätigkeit, des Gebrauchs der Dumatribüne und des revolutionären Flugblatts. Und da die Spaltung in die Fraktionen dem Wiederaufbau der Partei im Wege steht, so ist er nicht gut auf die Fraktionen zu sprechen. Er bedarf einer einigen und aktionsfähigen Partei.

Die vor anderthalb Jahren gegründete Arbeiterzeitung „Prawda"1, die sich außerhalb beider Fraktionen stellte und bestrebt war, die hervortretende allgemein-parteiliche Tendenz zum Ausdruck zu bringen, hatte eben diese neuen Parteielemente im Auge. Die hervortretenden Bedürfnisse des Kampfes zu formulieren, den vorgeschrittenen Arbeitern, gleichviel auf welchen Posten sie stehen, politische Fühlung zu vermitteln und dadurch die Überwindung des fraktionellen Zerfalls der Partei zu fördern – diese Ausgabe hat sich die „Prawda" seit ihrer Gründung gestellt.

V.

Die Kampfesmethode der Fraktionen – die verbitterte und verbitternde Polemik, der Appell an die Massen mit entgegengesetzten praktischen Losungen, der gegenseitige Boykott – dies alles war seinem Wesen nach aus die Vernichtung des Gegners innerhalb der Partei berechnet. Jede Fraktion sah in der anderen die personifizierte Irrlehre und stellte sich die künftige Partei ausschließlich aus sich allein bestehend vor. Hätten die Bolschewiki die Menschewiki oder diese die Bolschewiki besiegt - wie seinerzeit die „Politiker" die „Ökonomisten" besiegten –, so wäre das Resultat eine historische Rechtfertigung dieser Kampfesmethoden gewesen. Denn jene Methode ist gut, die zum Siege führt – und über den Sieger sitzt man nicht zu Gericht. Aber: das Ergebnis war ein ganz anderes. Nach siebenjährigen Kämpfen, die auf die unmittelbare Vernichtung des Gegners gerichtet waren, sahen sich beide Fraktionen gezwungen, eine Vereinbarung abzuschließen. Das bedeutet, dass keine von ihnen alle Seiten der proletarischen Bewegung in sich verkörperte und dass nur durch ihre Zusammenfassung – durch Überwindung der Extreme – die sozialdemokratische Partei sich entwickeln kann. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus der Tatsache der Vereinbarung selbst.

Der Inhalt der Vereinbarung besteht in folgendem: Das Zentralkomitee, als leitende Körperschaft, wird in vollem Bestand nach Russland übertragen; die Emigration behält bloß die Möglichkeit der ideellen Beeinflussung. Die organisatorische und finanzielle Auflösung der Fraktionen in der Partei wird energisch gefördert. Das Zentralorgan wird in der Weise reorganisiert, das die verschiedenen Strömungen in der Partei eine größere Freiheit erlangen und die fraktionellen Organe dadurch überflüssig werden. Zwischen der „Prawda" und dem Zentralkomitee wird eine enge Verbindung hergestellt. Endlich wurde der Beschluss gefasst, eine Parteikonferenz einzuberufen, auf der die legalen Arbeiterorganisationen in umfassendem Maße vertreten sein sollen.

Das grundlegende Dokument der Vereinigung ist die vom Zentralkomitee einstimmig angenommene taktische Resolution über die Aufgaben der Parteitätigkeit. Indem diese Resolution den an und für sich elementaren Grundsatz proklamiert, die Taktik der Sozialdemokratie bleibe sowohl in einer Periode revolutionärer Eruptionen wie in einer Epoche friedlicher „organischer" Entwicklung in ihren prinzipiellen Grundlagen die gleiche, liquidiert sie die taktische Philosophie beider Fraktionen in radikaler Weise und führt sie auf den breiten Weg der Entwicklung der Partei.

Dass die dritte Duma eine schlechte parlamentarische Dekoration ist, hinter der sich der alte barbarische Zarismus verbirgt, unterliegt keinem Zweifel. Aber diese schlechte Dekoration ist kein einfacher politischer Kniff und keine Zufälligkeit – sie charakterisiert den Anpassungsprozess des Zarismus an die Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung. Wie weit dieser Anpassungsprozess fortschreiten wird oder mit anderen Worten: wann die auf diesem Wege angesammelten revolutionären Widersprüche zum Durchbruch gelangen werden – über diese Frage lehnt die Partei als solche es ab, Prophezeiungen abzugeben. Sie betrachtet es aber als obligatorisch, die dritte Duma und alle mit ihr in Verbindung stehenden Formen der legalen Gemeinschaft – das Vereinsgesetz, die legale Presse usw. – im Interesse der Konsolidation des Proletariats auszunutzen. Andererseits ist die Sozialdemokratie Russlands als Partei, als politisches Ganzes, das die Tätigkeit aller seiner Organe in den neutralen Arbeitervereinen und in der Duma vereinigt, gezwungen, illegal zu bleiben. Eine planmäßige Kombinierung der legalen und illegalen Tätigkeitsmethoden, die bei den deutschen Genossen die Erinnerung an ihre eigene Taktik zur Zeit des Sozialistengesetzes wachrufen muss, wird von unserer Resolution in den Vordergrund gerückt. Die Preisgabe der organisierten Partei war aus dem Grunde, weil sie in dem Rahmen des legalen Stolypinschen Russland keinen Raum findet, ebenso wie die angeblich revolutionäre Missachtung der Dumatribüne und der übrigen legalen Möglichkeiten der Betätigung, diese beiden Extreme werden von der angenommenen Resolution auf gleiche Weise beiseite geschoben. Die Taktik der Sozialdemokratie ist weder an die Barrikade noch an den Ladentisch des Konsumvereins gebunden. Sie benutzt alle Formen und Methoden der Tätigkeit, um das Klassenbewusstsein der Arbeiter zu klären und sie zu einer selbständigen Organisation zusammenzuschweißen. Das ist die einzige wirkliche revolutionäre Arbeit und die ist allein imstande, die Partei ein für allemal von allen Formen des sozialistischen Sektenwesens zu reinigen.

Wie verhält es sich aber mit der nächsten Zukunft? Steht die Vereinbarung selbst, die von den Vertretern der Fraktionen im Zentralkomitee abgeschlossen wurde, auf festem Boden? Ja und nein. Soweit sie auf einen persönlichen Vertrag, abgeschlossen zwischen den Vertretern einflussreicher Parteizirkel, hinausläuft – und in hohem Maße ist sie nicht mehr –, hängt sie von so unsicheren Faktoren ab, wie der gute Wille und die politische Einsicht einzelner Personen. Die Psychologie ist überhaupt der konservativste Faktor der historischen Einwicklung, und die Psychologie eines Zirkels, einer Sekte ist konservativer als jede andere.

Es unterliegt für uns keinem Zweifel, dass sich die fraktionelle Vergangenheit jetzt, bei dem Fehlen einer breiten Arbeiterbewegung in Russland, noch mehr als einmal bemerkbar machen wird, und dass Versuche sehr wohl möglich sind, die Forderungen der Parteieinheit zur Festigung der alten, zerfallenden Fraktionen oder zur Schaffung neuer auszunutzen. Aber wir sehen auch keinen Grund, selbst bei Rückfällen und abermaligen Ausbrüchen des Fraktionshaders in Verzweiflung zu geraten und die Hände sinken zu lassen. Die Tendenzen, die alle Gruppen zwangen, das Wort Parteieinheit laut auszusprechen, festigen sich mit derselben unbesiegbaren Kraft, wie die politische Selbständigkeit der proletarischen Avantgarde zunimmt. Gegen den Willen der zum Bewusstsein gelangten Schicht der Arbeiter wird keine Fraktion mehr die Massen hinter sich bekommen.

* Das Abberufertum besteht auf der Forderung, die Dumafraktion abzuberufen, respektive sie zur Mandatniederlegung zu veranlassen.

1 Die von Trotzki gegründete „Wiener“ Prawda, nicht die gleichnamige bolschewistische Zeitung

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