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Leo Trotzki 19100700 Pierre Chasles, Le parlement russe

Leo Trotzki: Pierre Chasles, Le parlement russe (Das russische Parlament).

Son organisation. Les raports avec l'Empereur. Avec une preface du Anatole Leroy-Beaulieu. Paris 1910. XV und 218 Seiten.

[„Die Neue Zeit“, 28. Jahrgang, 2. Band, Nr. 45 (5. August 1910), S. 687]

Die russische Reichsduma ist ebenso wie das preußische Abgeordnetenhaus die Frucht eines Staatsstreichs. Wie auch der König von Preußen hat der russische Zar zweimal die Volksvertretung auseinandergejagt, die ihm von der Revolution aufgezwungen worden war, ehe er sich entschließen konnte, offen seinen Eid zu brechen. Aber in Preußen sind seit dem Staatsstreich bereits zwei Menschenalter vorübergegangen, haben mehrere Monarchen gewechselt, sind die Urheber der Verschwörung gegen das Volk ins Grab hinabgestiegen, nachdem sie die Früchte ihres Verfahrens ihren Nachkommen überliefert hatten. In Russland aber lebt noch alles, leben noch alle. Es ist noch der gleiche Zar, der aus dem geschändeten Throne sitzt; derselbe Stolypin steht an der Spitze der Regierung; der große Zuschneider des Staatsrechtes, der frühere rote Radikale Kryschanowski ist noch immer, die rechte Hand Stolypins, und Gutschkow, das Haupt der Oktobristen, hat noch nicht Zeit gehabt, das dritte Paar Schuhe auszutreten, seit er durch den Staatsstreich vom 3. (16.) Juni 1907 zum Führer der Dumamajorität geworden ist. Die Verletzung des Verfassungsmanifestes vom 17. (30.) Oktober 1905 ist mit dem 3. Juni nicht zu Ende. Weitere Einschränkungen der ohnehin nichtigen Rechte der Duma wurden auch weiterhin durch kleine Staatsstreiche vollzogen. Und nun hat schließlich im Laufe der letzten Frühjahrssession diese Duma, selbst durch einen Staatsstreich geboren, die Rolle der Hebamme bei dem Staatsstreich in Finnland gespielt.

Unter diesen Bedingungen ein staatsrechtliches System von Russland als ein juridisches Ganzes zu konstruieren, ist eine Ausgabe, die weder leicht noch einfach ist. Jeden Augenblick öffnet sich in dem Pergament des Verfassungsbriefes ein gähnendes Loch, durch das der Absolutismus seinen Soldatenstiefel steckt.

Pierre Chasles unternimmt den gewiss nicht leichten Versuch, in seinem Buche die rechtswissenschaftliche Zeichnung der russischen Staatsmaschine zu entwerfen. Er führt diese Arbeit mit Sachkenntnis und mit jener technischen Eleganz aus, welche die französischen Rechtsgelehrten auszeichnet. Die Organisation und die Funktionen des „russischen Parlamentes", das heißt der Reichsduma und des Reichsrats in ihrem gegenseitigen Verhältnis, sowie in ihrem Verhältnis zum Zaren, sind sehr gewissenhaft geschildert. das Wahlsystem für die Duma, „im Vergleich zu dem alle Systeme der Welt, sogar das ungarische mit inbegriffen, einfach erscheinen" (S. 73), ist mit voller Anschaulichkeit dargestellt. Aber diese rein deskriptive Seite des Werkes enthält auch seinen ganzen positiven Gehalt. Sofern Chasles es versucht, die Teile des Ganzen durch allgemeine Rechtsprinzipien miteinander zu verbinden, wird er das Opfer der Tücke des Objektes: nicht Rechtsprinzipien wären es, die die Schere Kryschanowskis lenkten, sondern das Bestreben, in der Duma eine Majorität des Großgrundbesitzes und des Großkapitals sicherzustellen. Die „Prinzipien" des Herrn Chasles selbst sind übrigens auch von recht problematischem Charakter: er hat einen gerechten und vernünftigen und einen ungerechten und unvernünftigen Zensus.

Wenn man die Probe aufs Exempel macht, stellt sich heraus, dass H. Chasles die Wahlprivilegien des Großgrundbesitzes um einiges vermindern und die Privilegien des Handels- und Gewerbekapitals um einiges vergrößern möchte. Im Großen und Ganzen aber erklärt er sich sowohl mit der „traurigen Notwendigkeit" des Staatsstreichs vom 3. (16.) Juni einverstanden, als auch mit der dritten Duma, aus deren Schoße nach seiner Berechnung der Baum der russischen Freiheit hervorwachsen muss. Jedoch sind diese politischen Sympathien und Hoffnungen Chasles', die von dem Verfasser des Vorwortes, Anatole Leroy-Beaulieu, geteilt werden, für niemanden bindend.

Trotzki.

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