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Leo Trotzki 19120304 Über die Intelligenzler

Leo Trotzki: Über die Intelligenzler*

[Nach Literatur und Revolution. Berlin 1968, S. 288-305, s. auch den russischen Text]

1.

Das waren üble Jahre, diese Jahre des Triumphes der Sieger. Doch das aller-schrecklichste von dem, was gewesen ist (gewesen und noch nicht vergangen ist), verkörperte sich keineswegs in den Siegern selbst. Viel schlimmer waren jene, die hinter den Siegern hergingen. Unvergleichlich viel schlimmer für die Seele waren die gestrigen „Freunde“ und halb-Freunde, die moralisierenden oder schadenfrohen, die sich daran weideten oder sich eins ins Fäustchen lachten.

Nicht das Menschikowtum1 war der düstere Alpdruck, sondern der Wechi-Geist2. Ob Zeitung, Monatsschrift, Sammelwerk, ob Rede, ob Gespräch im Zimmer – alles roch nach dem Wechi-Geist. Sie konnten sich die Hände mit Teerseife waschen, dennoch verfolgte sie der Geruch, sogar nachts.

In jenen Jahren liebte man Saltykow(-Schtschedrin) nicht. Das ist nicht etwa eine Frage des veränderlichen literarischen Geschmacks, sondern ein moralisches Charakteristikum der Epoche. Man liebte ihn nicht, weil man vor ihm Angst hatte. Die Gestalten eines Taugenichts – „des Beherrschers der Gedanken der Gegenwart“, des triumphierenden Schweines und des .der Gemeinheit gegenüber Liberalen, waren für eine Epoche unerträglich, die das Menschikowtum durch den Wechi-Geist ergänzte.

Als Herr Miljukow, den Augenblick des äußersten Tiefstandes der Einstellung zur Gesellschaft nutzend, in der Zeitung „Retsch“ erklärte, dass er von nun an endgültig den „Esel“ von seinem Rücken abwerfe, formulierte er (Herr Miljukow natürlich) auf diese Weise lediglich das Wesen jenes Prozesses, der gleichzeitig sämtliche Schichten und Gruppen der Intelligenzlernicht nur des Kadetten-Olymps erfasst hatte. Leonid Andrejew und Balmont, Mereschkowski und Schaljapin, Tschukowski und Galitsch und Schilkin und Posse, Engelhardt und Minski – sie alle warfen so oder anders irgendein „Eselchen“ ihrer früheren Leidenschaften, Sympathien und Hoffnungen von ihrem Rücken ab.

Ihnen auf dem Fuße folgten viele, Tausende, Namenlose. Auf verschiedenen Wegen und Umwegen – über den ungezügelten Individualismus, die aristokratische Skepsis, die Bettanarchie, im Geiste Mereschkowskis und über die ideenlose satirische Verhöhnung – strebten sie alle zur .Kultur". Allen hing die alte Askese der Intelligenzler zum Halse heraus – alle wollten saubere Wäsche und eine Wohnung mit Badezimmer haben. Und die Sehnsucht nach reiner Wäsche nannte Galitsch Religion.

Es tauchte eine besondere Art von Journalisten auf, die kein Talent hatten, keine Ideen, die sie auch gar nicht haben wollten, die es aber stattdessen verstanden, sobald sie sich der Vergangenheit zu wandten, diese zu verhöhnen. Zuweilen denkt man daran zurück, wie oft man in diesen langen drei Jahren beim Lesen von Aufsätzen im Geiste Isgojews als Sammelbegriff sich sagen musste: „Nun, was tut's … warten wir ab … man muss warten können .…“

Aber es wurde klar: wenn wir schon dazu verurteilt waren, die Schande der Verstrickung des gesellschaftlichen Denkens mit dem Wechi-Geist zu erdulden, so nur darum, weil die Intelligenzler – mit all ihren Zeitungen, Zeitschriften, Almanachen, Satirikony3, literarischen Kneipen und mit all ihren Schwächen – auf offener Bühne allein geblieben sind – wiederum allein, nachdem sie sich davon doch hätten überzeugen und mit ihren eigenen Augen sehen müssen, dass die wirkliche, echte und unbestreitbare Geschichte nicht von ihnen, sondern von irgendwelchen anderen, stärkeren Kräften gemacht wird … Es wurde klar, wie unzuverlässig jene Quellen moralischer Standhaftigkeit sind, die die Intelligenzler in sich selbst finden können … Aber das eben ist die ironische Natur der Geschichte: gerade in der Epoche einer fast allgemeinen Selbstverleugnung und des Rückzuges von allen Posten hat der Standesdünkel der Intelligenzler seine höchste Steigerung erreicht. Nie zuvor hatten sie soviel Raum, noch dazu in so vielen verschiedenen lagern für sich in Anspruch genommen: vom Oktobrismus bis zum Marxismus; niemals hat man sich mit ihnen so viel beschäftigt, und nie zuvor haben sie sich so viel mit sich selbst beschäftigt wie in den letzten Jahren. Nie zuvor haben sie einen solchen Grad von Selbstberauschung, Verliebtheit in sich selbst erreicht, und nie zuvor waren sie (nämlich die Intelligenzler!) so anspruchsvoll Sie haben sich selbst von Kopf bis Fuß abgetastet, und es gibt auch nicht eine einzige Geste, nicht die geringste Seelenfalte, die sie nicht mit verliebter Gründlichkeit autobiographisch festgehalten hätten. Die Religion – das bin ich! Die Kultur – das bin ich! Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft – das bin ich!

Auf diesem Größenwahn hat Herr Iwanow-Rasumnik bekanntlich eine ganze Geschichtsphilosophie aufgebaut. Die russischen Intelligenzler als nicht-ständische, nicht klassenmäßige, als eine rein ideelle, von heiliger Flamme lodernde Gruppe ist bei ihm die Haupttriebkraft der historischen Entwicklung sie führt gegen das „ethische Spießertum“ einen großen Prozess, erobert neue geistige Welten, die Stück für Stück, en detail, vom Spießertum assimiliert werden – sie gibt sich mit nichts zufrieden und wandert mit dem Pilgerstab in der Hand immer weiter und weiter – zu jenseitigen Welten. Und diese sich selbst genügende Prozession der Intelligenzler stellt eben die russische Geschichte dar … nach Iwanow-Rasumnik. Herr Mereschkowski hat sogar noch versprochen, die russischen Intelligenzler würden, wenn sie sich des religiösen Dogmas versichert haben, alle fünf Erdteile vor dem nahenden Flegel erretten. Und man glaubte ihm. Wo liegen die wurzeln dieses usurpierten Messianismus? Welches sind die Ursachen für die erstaunliche Zählebigkeit dieser intelligenzlerischen Anmaßung? Was ist das: der Abglanz einer höheren Berufung oder einfach eine nationale Eigenart – die Art Chlestakows?4 Nein, es ist nur die ideologische Spiegelung des verhängnisvollen Fluchs der alten russischen Geschichte: das Karatajewtum. Dies ist nur eine Ergänzung zur Demut Aljoschas, dieser Flasche!

Denn wenn es Herrn Iwanow-Rasumnik gelungen ist, die gesamte Geschichte unseres gesellschaftlichen Denkens mit einer gewissen äußerlichen Überzeugungskraft als autonome Geschichte der Intelligenz darzustellen, so ist das nicht nur eine Geschichtsfälschung. Selbstverständlich ist es eine, sogar eine ungeheuerliche. Aber es geht darum, dass sich in dieser Fälschung eine bestimmte gewichtige und tragische Tatsache widerspiegelt, die auf der gesamten Entwicklung unserer Öffentlichkeit lastet. Diese Tatsache heißt: Rückständigkeit, Armut, kultureller Pauperismus

2.

Wir brauchen nicht erst darauf hinzuweisen, dass wir durch eine in Jahrtausenden angesammelte Armut in jeder Hinsicht arm sind. Die Geschichte hat uns unter rauen Umständen aus ihrem Ärmel geschüttelt und hat uns in dünner Schicht über eine große ebene verstreut. Niemand hat uns einen anderen Wohnort angeboten: wir mussten unseren schweren Karren über das uns zugewiesene Gebiet ziehen. Asiatische Invasionen von Osten her, erbarmungsloser Druck des reicheren Europas von Westen her. Der übergroße Anteil, den der Leviathan Staat von der Arbeit des Volkes verschlang, hat nicht nur die Verelendung der werktätigen Massen herbeigeführt, sondern ließ auch die Quellen der Ernährung der herrschenden Klasse versiegen. Daher auch ihr langsames Wachstum, die kaum merkliche Ablagerung „kultureller“ Schichten auf dem Neuland sozialer Barbarei. Das Joch des Grundbesitzers und des Klerikalismus hat das russische Volk keineswegs weniger schwer zu spüren bekommen als die Völker des Westens. Aber jenes komplizierte und vollendete Leben, das sich in Europa auf der Grundlage der ständischen Herrschaft, des gotischen Filigrans des Feudalismus entwickelte, gelang uns nicht, weil es an lebenswichtigem Material fehlte – es war für uns einfach unerschwinglich. Wir sind eine arme Nation. Tausend Jahre haben wir in recht niedrigem Blockhaus gewohnt, in dem die Fugen mit Moos abgedichtet waren – hätte es uns dann angestanden, von Spitzbogenfenstern und gotischen Türmen zu träumen?

Wie armselig ist unser von der Geschichte so schlecht bedachter Adel! Wo sind seine Bürgen? Wo sind seine Turniere, Kreuzzüge, Schildknappen, Minnesänger und Pagen? Die ritterliche Liebe? Nichts ist da, alles wie rein gefegt. Höchstens vielleicht, dass die durch die Sitzordnung gekränkten Mstislawskis und Trubezkojs sich unter den Tisch gleiten ließen … So weit hat ihr ritterliches Standesbewusstsein gerade noch gereicht.

Unsere Adelsbürokratie hat die ganze historische Misere unseres Adels widergespiegelt. Wo ist ihre Macht, wo ihre Namen? Selbst auf ihrem höchsten Gipfel ist sie über drittrangige Nachahmungen des Herzogs von Alba, Colberts, Turgots, Metternichs oder Bismarcks nicht hinausgekommen. Gehen Sie eine nach der anderen alle Seiten der Kultur durch: überall dasselbe. Der arme Tschaadajew sehnte sich nach dem Katholizismus, als der vollendeten religiösen Kultur, die es verstanden hat, in ihrem Schoß gewaltige geistige und moralische Kräfte zu konzentrieren. Nachträglich sah er im Katholizismus den großen Weg der Entwicklung der Menschen und fühlte sich verwaist auf dem Feldweg des Amerikanertums. Das katholische Europa hat die Reformation durchgemacht – eine mächtige Bewegung, die zur Grenze zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit wurde. Gegen den feudalen Lebensautomatismus der katholischen Kirche hat sich die aus den feudalen Eierschalen geschlüpfte bürgerlich-menschliche Persönlichkeit erhoben, die nach Herstellung intimerer Beziehungen zwischen sich und ihrem Gott strebte. Das war eine Revolution des Geistes von kolossaler Bedeutung, die Vorbereitung eines neuen Menschentyps – zu Beginn des 16. Jahrhunderts! Was kann denn unsere Geschichte, wenn auch nur annähernd, der Reformation gegenüberstellen? Nikon etwa? Wie schlagend aber wird der Unterschied der Kulturtypen, wenn man ihn an Hand der Geschichte der Städte verfolgt! Die mittelalterliche Stadt Europas war die steinerne Wiege des dritten Standes. Dort wurde die ganze neue Epoche vorbereitet. In den Zünften, Gilden, Gemeinderäten, Universitäten mit ihren Versammlungen, Wahlen, Prozessionen, Festen und Disputen bildeten sich die wertvollen Fähigkeiten für die Selbstverwaltung aus, erwuchs eine menschliche Persönlichkeit, eine bürgerliche natürlich, aber doch eine Persönlichkeit und nicht eine Fratze, auf der jeder beliebige Ordnungshüter Erbsen dreschen konnte … Als es dem dritten Stand in der alten Ordnung zu eng wurde, brauchte er nur die dort entstandenen neuen Beziehungen auf den Staat als Ganzes zu übertragen. Und unsere Städte – nicht etwa die „mittelalterlichen“ Städte, sondern die aus der Zeit vor der Reformationsine keine Handwerks- und Handelszentren, sondern irgendwelche Anlagerungen des Militär-Adels am Leib des allrussischen Dorfs Ihre Rolle war parasitär.

Gutsbesitzer, Gesinde, Soldaten, Beamte … Statt der Selbstverwaltung Skwosnik-Dmukanowski oder Graf Rastoptschin. Zur Zeit Peters riet Saltykow, die Rangbezeichnungen für Kaufleute, das heißt für jene, die Skwosnik als Obergauner und Erzbestien bezeichnete, zu ändern und sie zu Baronen, Patriziern und Burggrafen zu erheben. Der Patrizier Kolupajew5 und der Burggraf Rasuwajew! Eine bürokratische Maskerade dieser Art wurde bei uns auf verschiedenen Gebieten praktiziert, aber sie konnte unsere soziale Bettelarmut weder zudecken noch verbergen. Die Zünfte wurden bei uns unter Peter mit Polizeigewalt eingeführt, aber aus den polizeilich eingeführten Zünften ist keine handwerklich-städtische Kultur gewachsen. In diesem Charakter der vor-kapitalistischen russischen Städte liegt die Wurzel des Elends der bürgerlich-demokratischen Tradition, das die Primitivität der Standestradition noch vervollständigt.

Armes Russland, und arm ist unsere Geschichte, wenn man zurückblickt. Diese soziale Unpersönlichkeit und der knechtische Geist, der sich über den Herdentrieb noch nicht erhoben hat, wollten die Slawophilen als „Sanftmut“ und „Demut“, als die schönsten Blüten der slawischen Seele verewigen. Die wirtschaftliche Primitivität des Landes wollten die Narodniki zur Quelle sozialer Wunder machen. Vor derselben gesellschaftspolitischen Armseligkeit kriechen schließlich die neu aufgetauchten Subjektivisten auf dem Bauch, wenn sie die Geschichte in eine Apotheose der Intelligenzler verwandeln.

Seit dem 18. Jahrhundert (und auch schon vorher) entwickelt sich unsere ganze Geschichte unter dem steigenden Druck des Westens. Am schnellsten vollzieht sich die „Europäisierung“ in zwei Sphären, die einander immer mehr bekämpfen, und – obwohl in gleicher Weise „Überbau“ – gleich weit von den wirtschaftlichen Tiefenschichten des Volkslebens entfernt sind: erstens in der materiellen Technik des Staates, wo der westliche Druck maximal und die urwüchsige Widerstandskraft minimal war; und zweitens in dem Bewusstsein der neuen, gleichfalls unter diesem europäischen Druck entstandenen Schicht: der Intelligenzler. Unvergleichlich langsamer drangen die neuen Einflüsse in die nationalen Tiefenschichten ein, in denen eine Finsternis herrschte wie auf dem Grund des Meeres, obwohl die Wasseroberfläche bereits die Strahlen der aufgehenden Sonne reflektierte … Die Intelligenzler waren die Fühler, welche die Nation in die europäische Kultur ausgestreckt hatte. Der Staat braucht sie und fürchtet sie: erst gibt er ihnen gewaltsam eine Ausbildung, dann aber hält er über ihren Köpfen die hoch erhobene Peitsche. Seit der Zeit Katharinas II. nimmt die Intelligenz dem Staat, den privilegierten Ständen und überhaupt den besitzenden Klassen gegenüber eine immer feindseligere Haltung ein. Der eigentliche soziale Hintergrund dafür ist uns bekannt: Armut, Brutalität und Gemeinheit der araktschejewschen Regierungsmethoden und der chlynowschen Gesellschaft

Du musst schon entschuldigen, aber diesen Charakterzug liebe ich nicht an dir“, sagt man dem Kaufmann Chlynow bei Ostrowski.

T-ja, was für einen Charakterzug denn, wenn die Frage erlaubt ist?“

Deine Gemeinheit".

Wie soll denn auch ein Mensch, dessen Verstand bereits Anschluss zu etwas Höherem gefunden hat, Gemeinheit lieben? Inzwischen aber musste der urwüchsige „Zug im Lichte der neuen europäischen Begriffe, Verallgemeinerungen und Ideale immer klarer und unerträglicher hervortreten. Darum trennten sich jene jungen Elemente der alten Stände, die aufgehört hatten nur dahinzuvegetieren und die sonnige Zone der europäischen Ideologie betreten hatten, so ohne Widerstand und fast ohne inneren Kampf vom ständischen Leben und von der ererbten .Gutgläubigkeit. Im Hinblick auf die geistige Kluft, die ihr neues Bewusstsein von dem halb-zoologischen Dasein ihrer Väter trennte, wurden sie von geistigem Hochmut erfüllt. Aber dieser Hochmut war nur die Kehrseite ihrer sozialen Schwäche.

Die Kultur verbindet, begrenzt, die Kultur ist konservativ – und je reicher sie ist, um so konservativer ist sie. Jede große neue Idee, die sich durch die dicke Schicht der alten Kultur hindurcharbeitete, stieß in Europa sowohl auf die absterbende Widerstandskraft der alten vollendeten Ideologie als auch auf die lebendige Abwehr organisierter Interessen. Im Kampf gegen die Widerstände entwickelte die neue Idee eine große, weite Kreise erfassende Stoßkraft und siegte dann schließlich als Banner der neuen Klassen oder Schichten, die um einen Platz an der Sonne kämpften. Indem die neuen Klassen sich die aufrührerische Idee zu eigen machten, schränkten sie sie sozial ein und nahmen ihr damit die absolute Bedeutung. Aber im Zeichen dieser .eingeschränkten, Idee tat die gesellschaftliche Entwicklung im Ganzen einen großen Schritt vorwärts. Gerade kraft ihres organischen Ursprungs erwarb die neue Idee eine große soziale Standfestigkeit und wurde nach dem Siege selbst zu einer konservativen Kraft.

Bei uns aber tauchte die neue Idee „vom anderen Ufer“ als fertiges Produkt einer fremden Ideenevolution, als abgeschlossene Formel auf – so wie Korallen, die sich irgendwo im Meer kraft irgendeines natürlichen Prozesses langsam abgelagert haben und welche die Frauen als fertigen Halsschmuck erhalten, über die ersten Epochen der Entlehnung braucht man keine Worte zu verlieren. Die Pseudoklassik, Romantik und der Sentimentalismus, die im Westen ganze Epochen und Klassen umfassten, tiefe historische Umschichtungen und Erlebnisse mit sich brachten, verwandelten sich bei uns zu Etappen einer formal-literarischen Evolution adliger Zirkel in Petersburg und Moskau. Aber auch später, als die Ideen aufhörten Korallenschmuck zu sein und für die Intelligenz Ansporn zu mitunter heroisch-opferfreudigen Taten wurden, auch in dieser reiferen Epoche führte unsere historische Armut zu einer gewaltigen Diskrepanz zwischen den ideellen Voraussetzungen und den gesellschaftlichen Ergebnissen aller Anstrengungen der Intelligenzler. Stundenlang Nägel in die wand zu schlagen wurde sozusagen zur historischen Berufung der russischen Intelligenzler.

Um nicht dem Trunk oder Kartenspiel in der satten und betrunkenen Umgebung der „toten Seelen“ zu verfallen, war irgendein großes ideelles Interesse notwendig, das wie ein Magnet alle moralischen Kräfte hätte an sich ziehen und sie in ständiger Spannung halten können. Um inmitten von bestechlichen Postenjägern keine Schmiergelder anzunehmen oder zu erpressen, musste man irgendwelche eigenen tiefen Prinzipien haben, die den Menschen aus diesem Milieu herausreißen und ihn zu einem Einzelgänger machen: man musste Carbonari6 oder mindestens Farmazone7 sein. Um nicht auf Papachens Befehl zu heiraten, muss man Materialist und Darwinist werden, das heißt ganz fest begreifen, dass der Mensch vom Affen abstammt und dass Papachen auf der aufsteigenden Leiter der Ahnentafel dem Affen näher steht als der Sohn. Die Hand nach dem römischen Recht oder nach dem Lanzett auszustrecken, bedeutete – grundsätzlich – sie nach verbotener Literatur auszustrecken und zu der felsenfesten Überzeugung zu kommen, dass das Lanzett ohne politische Freiheit ein stumpfes und rostiges Stück Eisen bleibt. Um für eine Verfassung kämpfen zu können, brauchten die Intelligenzler das Ideal des Sozialismus. Schließlich mussten sie sich mit der Entwertung von allerlei „vergänglichen“ politischen Werten vor dem obersten Tribunal der „Pflicht“ und der „Schönheit“ beschäftigen und das nur, um sich die Versöhnung mit dem Regime des 3. Juni8 zu erleichtern.

Und eben diese tödliche Diskrepanz zwischen Ideologie und gesellschaftlicher Alltagspraxis, dieses schreiende Zeugnis der Armut, diente im Gegenteil den Intelligenzlern als Quelle ungezügelter Überheblichkeit. Seht – sagen sie – was für ein Volk wir sind: ein besonderes, ein auserwähltes ein anti-kleinbürgerliches, nach mahnendem Hagelschlag verlangendes… Das heißt, unser Volk ist, wenn schon rückhaltlos gesprochen werden soll, eigentlich barbarisch: es wäscht sich nicht die Hände, spült seinen Napf nicht aus, dafür aber hat sich die Intelligenz für dieses Volk kreuzigen lassen, hat die ganze Sehnsucht nach der Wahrheit in sich konzentriert und lebt nicht, sondern brennt – schon anderthalb Jahrhunderte lang … Die Intelligenz vertritt Parteien, Klassen, das Volk Die Intelligenz durchlebt die Kulturepochen für das Volk Die Intelligenz wählt die Entwicklungswege für das Volk. – Wo aber wird denn diese ganze titanische Arbeit geleistet? Doch nur in der Einbildung eben dieser Intelligenz!

3.

Die ständische Kultur, von der sich der alte russische Intelligenzler lossagte, war primitiv und innerlich nicht fähig, sich das erwachende individuelle Bewusstsein zu unterwerfen – und so befreite er sich von ihr leicht, fast ohne Kampf, unter dem Einfluss von Ideen, die von einer anderen, höheren und wertvolleren Kultur hervorgebracht worden waren. Nachdem er sich von seinen Daseinsgrundlagen losgerissen hatte, wurde der ständische Splitter zum Abtrünnigen und fühlte sich deshalb bei der Wahl der Wege und mittel absolut frei. Mit der Vergangenheit hatte man gebrochen, die Zukunft erschien wie ein großes weißes Brett Daher der grenzenlose subjektive Radikalismus unserer reumütigen Grundbesitzer und meuternden Seminaristen, daher auch deren intelligenzlerischer Größenwahn. Wersilow blickt bei Dostojewski gemeinsam mit Herzen voll halb verächtlicher Sehnsucht auf Europa. „Dort“, sagt er, „kämpft der Konservative nur um sein nacktes Dasein: selbst der petrolejschtschik9 kriecht heran, sein ihm zustehendes Stück davon zu erwischen. Nur Russland allein lebt nicht für sich, sondern für die Idee … Jetzt ist es schon fast ein Jahrhundert her, dass Russland (das heißt sein Intelligenzlerhäufchen! L. T.) entschieden nicht für sich lebt, sondern allein nur für Europa!“ - „Europa hat“, sagt derselbe Wersilow, „die edlen Typen eines Franzosen, Engländers oder Deutschen geschaffen, aber über seinen zukünftigen Menschen weiß es so gut wie nichts. Anscheinend will es davon auch vorläufig nichts wissen. Verständlich: sie sind nicht frei, während wir frei sind. Damals war ich allein in Europa, allein mit meiner russischen Sehnsucht, damals war ich frei."

Wersilow sieht nicht, dass er, anders als der europäische Konservative, nicht nur „frei“ war von den Banden der ständischen Traditionen, sondern auch „frei“ von allen Möglichkeiten sozialen Schaffens. Dasselbe unpersönliche Milieu, das ihm die subjektive Freiheit gab, stellte sich ihm zu gleicher Zeit als objektives Hindernis entgegen.

Natürlich, in Europa mit seiner kultivierten Ordnung und mit seinen wohlüberlegten Vorschriften muss man auf Asphalt, auf Chausseen, überhaupt dort gehen, wo es vorgeschrieben ist. Eine absolute „Freiheit“ kann man dort nicht finden. Die Linie des Verhaltens von Parteien und Parteiführern ist in ihren Grundzügen durch die objektive Lage der Dinge vorbestimmt. Ganz anders ist es bei uns, wo der Herr Intelligenzler in seinem Geist durch nichts gebunden ist. „Sie“ in Europa sind durch Pläne, Regeln, Kursbücher und durch die Programme der Klasseninteressen gebunden, ich aber bin in meiner sozialen Steppe absolut frei. Aber o Wunder! Kaum hat der absolut freie russische Intelligenzler drei Schritte getan – schon hat er sich in schändlichster Weise zwischen drei Kiefern verirrt. Und erneut geht er nach Europa in die Lehre, nimmt dort die neuesten Ideen und Wörter auf, empört sich abermals gegen ihre bedingte, begrenzte „westliche“ Bedeutung, passt sie seiner absoluten „Freiheit“ an, das heißt er macht sie inhaltslos und kehrt dann, nachdem er 80.000 Kilometer um sich selbst im Kreis gelaufen ist, wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück. Mit einem Wort: er wiederholt längst Bekanntes und lügt für zwei.

Du verleugnest michsagt unsere barbarische Öffentlichkeit dem ins Reich der „Freiheit“ entschwebten adligen Intelligenzler oder dem meuternden Popensohn – ich aber, verleugne ich dich? Siehst du, wie mürbe, teigig und formlos ich bin – du kannst dich nirgends an mir festklammern. Dich geistig binden und disziplinieren kann ich nicht, das stimmt: das ist deine „Freiheit". Aber als formbares Material zum modellieren deiner Ideale tauge ich auch nicht. Du stehst für dich, ich für mich. Mach deine Geschichte allein!

Wir haben Menschen, doch keine Gesellschaft: Russlands Gedanke ist einsam gereift. Nun streunt er müßig umher.

Die werssilowsche „Freiheit“ hat ja wohl auch nichts anderes bedeutet, als dass der Gedanke die Freiheit hat, sich müßig herumzutreiben. Und über diese „Freiheit“ verfügte in absolutestem Maße zum Beispiel der Narodowolz11 Morosow, als er in Schlüsselburg die Rätsel der Apokalypse löste – diese „Freiheit“ lastet wie ein Fluch auf der ganzen Geschichte der russischen Intelligenzler.

Nicht genug damit, dass das Wort nicht in die Tat umgesetzt wurde – „mein Gedanke und mein Wort waren meine Sache“, hätte die russische Intelligenz von sich sagen können: „ich vermache sie der Nachkommenschaft!“ – aber im Reich des Weltgedankens war die russische Intelligenz doch nur ein Findelkind: sie fand alles fertig vor, einen eigenen Beitrag hat sie nicht geleistet. Es stand ihr immer eine gewaltige Auswahl fertiger Literaturschulen, philosophischer Systeme, wissenschaftlicher Doktrinen und politischer Programme zur Verfügung. In jeder beliebigen europäischen Bibliothek konnte sie ihr geistiges Wachstum in tausend Spiegeln sehen: in großen, kleinen, runden, quadratischen, flachen, konkaven oder konvexen … Das erzog sie zur Selbstbetrachtung, sublimierte ihre Intuition, erhöhte ihre Wendigkeit, ihre Aufnahmefähigkeit, ihr Feingefühl und verlieh ihrer Seele feminine Züge, untergrub aber die physische Kraft des Gedankens an seiner Wurzel. Allein diese ständige Möglichkeit, sofort und leicht, fast ohne Anstrengung eine „Idee“ zu erhalten, dazu eine fertige Kritik mit dazugehöriger Kritik an der Kritik, musste das selbständige theoretische Schaffen unbedingt lähmen.

Unsere Gehirne“, hat Tschaadajew hervorragend von den russischen Intelligenzlern gesagt, „sind nicht durch unverwischbare Spuren einer folgerichtigen Entwicklung von Ideen zerfurcht, weil wir uns bereits entwickelte Ideen aneignen". Daher diese erschreckende Zusammenhanglosigkeit der Ideen, die ständigen theoretischen Missverständnisse, neben überraschendster eigener philosophischer Heimarbeit „In unseren besten Köpfen“, schrieb der gleiche Tschaadajew, gibt es etwas Größeres, als nur Haltlosigkeit". Turgenjew behauptet, dass der Russe nicht nur seine Mütze keck aufs Ohr setzt, sondern auch sein Gehirn. Tschaadajew fiel selbst seiner Sehnsucht nach Folgerichtigkeit zum Opfer, die sich bei ihm als etwas schlimmeres erwiesen hat als Haltlosigkeit.

Gereiztheit erfasst einen, wenn man die selbstzufriedenen, ehrfürchtigen Historiker und Porträtisten unserer Intelligenzler betrachtet. Bei uns wird die anderthalb Jahrhunderte alte Intelligenzlerschicht als die selbstloseste, durch und durch ideelle bezeichnet, die nur „für das Denken für Europa“ lebt, und was haben wir der Welt auf dem Gebiet der Philosophie oder der Gesellschaftswissenschaft gegeben? Nichts, absolut nichts! Versuchen sie doch einmal den Namen eines großen und unumstrittenen russischen Philosophen zu nennen. Wladimir Solowjew etwa, an den man sich bestenfalls bei der Wiederkehr seines Todestages erinnert? Aber die nebelhafte Metaphysik Solowjews ist nicht nur in die Geschichte des Weltgedankens nicht eingegangen, sondern sie hat auch in Russland selbst nichts zustande gebracht, was einer Schule ähnlich wäre. Manches haben die Herren Berdjajew, Ern und Wjatscheslaw Iwanow bei Solowjew entlehnt… Aber das ist nicht gerade viel.

H. Hart, ein Philosoph aus den Reihen der ehemaligen Oktobristen, war beim Anblick jener Zügellosigkeit, mit der bei uns die Intendanturbeamten stehlen, die Reaktionäre ihr Unwesen treiben und die Oktobristen katzbuckeln, fassungslos und blickte hilflos um sich auf der Suche nach einem kategorischen imperativ, der „der breiten russischen Natur“ (darunter auch der Intendantur-Beamtennatur) gut anstehen, ihrer gutmütig-zügellosen Haltlosigkeit Herr werden, sie zu innerer Disziplin erziehen und ihr die Bestechlichkeit abgewöhnen könnte. Wo bleibt er, der kommende slawische Kant? fragt sein kleiner Vorläufer**. Ja, in der Tat, wo bleibt er? – Es gibt ihn nicht. Wo ist unser Hegel? Wo ist jemand, der ihm gleichkäme? In der Philosophie haben wir niemanden außer drittrangigen Schülern und entpersönlichten Epigonen

Wir waren reich an „urtümlichem“ sozialem Utopismus, und selbst jetzt haben wir mehr als genug davon. Aber was haben wir an eigenem zur Schatzkammer des sozialen Gedankens beigetragen? Das Narodnikitum, das russische Surrogat für Sozialismus? Aber das ist doch nichts anderes als eine ideelle Reaktion unseres Asiatentums auf den kapitalistischen Fortschritt, der es zerfrisst. Dies ist keine neue Eroberung des Weltgedankens, sondern nur ein kleines Kapitel aus dem Geistesleben eines historischen Krähwinkels.

Wo sind unsere großen Utopisten! Der bedeutendste unter ihnen ist Tschernyschewski; aber auch er ist, niedergedrückt durch die Armseligkeit der sozialen Bedingungen, Schüler geblieben und nicht zu einem Lehrer emporgewachsen. Herzen, Lawrow und Michajlowski gehen auf keine Art in die Geschichte des Weltsozialismus ein; sie lösen sich völlig in der Geschichte der russischen Intelligenzler auf. Vielleicht, dass Bakunin allein noch seinen Namen in das Buch der europäischen Arbeiterbewegung eingetragen hat, aber gerade er musste sich dazu völlig vom Boden der russischen Öffentlichkeit losreißen, ohne in die europäische als unentbehrlicher Bestandteil einzugehen, sondern nur als eine vorübergehende Episode und dabei als eine, die nicht einmal einen Schritt vorwärts bedeutete. Was ist heute von Bakunin übrig geblieben? Einige Vorurteile in der romanischen Arbeiterbewegung, nicht mehr…

Man könnte hier natürlich Tolstoi erwähnen; aber auch das wird nicht über zeugend klingen. Zweifellos ist Tolstoi mitsamt seinem Ledergürtel und seinen Hanffußlappen Allgemeinbesitz des Weltgedankens geworden, aber nicht auf Grund seiner Sozialphilosophie, sondern als gewaltiges menschliches Faktum Seine „Lehre“ ist nach wie vor das subjektive Baugerüst seines Geistes geblieben, sie hat einen gewaltigen biographischen Wert, aber was hat denn Tolstoi nach all den europäischen Religionsreformationen und europäischen Revolutionen und nach den europäischen Soziallehren des 19. Jahrhunderts Neues gesagt?

Wollen wir es nochmals wiederholen: die Geschichte unseres gesellschaftlichen Gedankens ist bisher nicht einmal als kleines Keilchen in die Geschichte des allgemein menschlichen Gedankens eingedrungen. Ist das für die nationale Eigenliebe nicht wenig tröstlich? Aber erstens ist die historische Wahrheit kein Hoffräulein der nationalen Eigenliebe. Und zweitens wollen wir unsere nationale Eigenliebe besser in der Zukunft als in der Vergangenheit befriedigt sehen. Der berühmte Benckendorff hat einmal gesagt: „Russlands Vergangenheit war erstaunlich, seine Gegenwart mehr als großartig; was die Zukunft anbelangt, so wird sie alles übertreffen, was sich die glühendste Phantasie vorstellen kann.“ – Jenen Bewunderern der Intelligenz, die, wie General Benckendorff, wenn auch „anders herum“ denken und die russische Geschichte um der sieben Gerechten willen in die Geschichte eines von Gott auserwählten Volkes verdrehen – ihnen können unsere Anschauungen natürlich nicht behagen. Wir denken aber nicht in der Art des General Benckendorff – selbst nicht „anders herum“, woraus hoffentlich nicht folgt, wir glaubten nicht an die Zukunft Russlands …

Wovon wir aber fest und unerschütterlich überzeugt sind, ist, dass sich für uns die große Zukunft nur in dem Maße aus einer nebelhaften Phantasie in die Wirklichkeit umsetzen wird, wie die „urtümlichen“ Merkmale unserer „erstaunlichen“ Vergangenheit und der „mehr als großartigen“ Gegenwart von der Geschichte weg radiert werden. Zu diesen urtümlichen Merkmalen gehören als ihre Ergänzung und Krönung auch unsere alten, nicht klassengebundenen, messianistischen Intelligenzler, die auf dem Gebiet der Theorie „irgend etwas Größeres als Haltlosigkeit“ kennzeichnet und auf dem der Praxis – die Kraftlosigkeit

Das fehlen historischer Traditionen und klarer politischer Gruppierungen musste unausweichlich zum Mangel an persönlicher moralischer Standhaftigkeit führen. Im auseinander fließenden „unhistorischen“ Milieu ist es wesentlich leichter, im Namen von Ideen sein Leben zu opfern als in seinem Leben eine Idee einheitlich durchzuführen, und man muss schon zugeben, dass irgend jemandes mehr als ungehobeltes Urteil über die russischen Intelligenzler nicht eines Körnchens Würze entbehrt: „bis zum Alter von dreißig Jahren sind sie – radikal und später – Kanaillen.“ Wie grob auch Gontscharows Karikatur eines Nihilisten ist, so liegt doch nichts Unwahrscheinliches darin, dass Mark Wolochow Reue zeigte und Junker wurde. Jemand, der als Gracchus kandidiert und Steuerinspektor wird, weil „das Milieu ihn aufgesogen“ hat – ist es denn schon lange her, dass dieser Personenkreis von unserer Belletristik in den Ruhestand versetzt wurde?

Wovon haben denn die Besten gelebt, und was hat sie aufrecht erhalten? Eine furchtbare moralische Anspannung, konzentrierte Askese und Loslösung vom Alltag. Ohne sozialen Boden unter den Füßen konnte die persönliche Standhaftigkeit nur um den Preis eines ideellen Fanatismus, einer erbarmungslosen Selbstbeschränkung und Selbstabsonderung, um den Preis des Argwohns und Misstrauens und einer unermüdlichen, wachsamen Sorge um ihre Reinheit erkauft werden … – „Ein lieber, braver Russe wird ins Feuer kriechen, aber den rechten Glauben nicht verraten“, sagte Oberpriester Awwakum. Nicht in den besonderen Windungen des slawischen Gehirns, sondern in den sozialen Verhältnissen des alten Russland muss man die Wurzeln jenes altgläubigen Fanatismus und jener Buchstabentreue suchen, die man zuweilen bei unseren Intelligenzlern des extremsten Lagers beobachten kann. Es bedarf keiner Worte, dass auch auf dem Gebiet der Heilsgläubigkeit der Intelligenzler das Abseihen von Mücken sie nicht hindert, zweihöckrige Trampeltiere glatt zu schlucken.

Ich bin Jude und setze mich mit Philistern nicht an einen Tisch!“, schrieb Belinski. Bei aller Geschlossenheit seiner moralischen Persönlichkeit war Belinski jedoch gezwungen, seine Ansichten radikal zu ändern. Die ideelle Unversöhnlichkeit, ein edler Zug eines jeden Kämpfers, ist an und für sich eine viel zu schwache Garantie für Haltung, solange sie nicht in der objektiven Unversöhnlichkeit, die in der Mechanik der gesellschaftlichen Beziehungen begründet ist, einen ständigen Halt findet. Der häufige und scharfe Wechsel von Anschauungen ist bei russischen Intelligenzlern (und nicht nur bei denen die mit dreißig Jahren Steuerinspektoren werden) nichts Ungewöhnliches, er ist nichts weiter als eine unumgänglich notwendige Ergänzung der absoluten werssilowschen Freiheit, der Freiheit des Gedankens – „tatenlos umher zu wandeln".

Der Wechsel der Weltanschauung konnte subjektiv-tragischen Charakter haben (bei Belinski), einen komisch-gemeinen (bei irgendeinem Berdjajew), einen seelisch-unzüchtigen (Struwe), einen phraseologisch-oberflächlichen (Minski, Balmont) oder einen renegatenhaften (Katkow, Tichomirow), aber seine historische Grundlage blieb immer dieselbe: die Armseligkeit unserer Gesellschaft

Aus Anlass des Dekabristenaufstandes ironisierte Graf Rastoptschin in dem Sinne, dass in Frankreich der „Pöbel“ die Revolution angezettelt habe, um sich der Aristokratie anzugleichen, bei uns aber habe die Aristokratie die Revolution im Interesse des Pöbels in Gang gesetzt. Dieses Paradoxon Rastoptschins verwendet Herr Iwanow-Rasumnik, um den anti-ständischen, rein idealistischen Charakter der Dekabristenbewegung zu unterstreichen. In welchem Maße und in welchen Proportionen Elemente eines immateriellen idealistischen Radikalismus sich bei den Dekabristen mit ständischen Vorstellungen verbanden, ist eine Frage für sich; richtig aber – im Großen und Ganzen richtig – ist, dass die Dekabristenbewegung keine ständisch-klassenmäßige gewesen ist; wieso? Nun eben, weil die Dekabristen so auftraten wie nach ihnen mehr als einmal die russischen Intelligenzler aufgetreten sind, das heißt, weil sie versuchten, sich an die Stelle der fehlenden reifen Klassen zu stellen. Die Dekabristen waren „Stellvertreter“ des bürgerlichen Liberalismus

Die Vertretung nicht vorhandener oder schwach entwickelter Klassen, die die soziale Schwäche der Intelligenzler maskierte, wird zu ihrem ideellen Bedürfnis und zugleich zu ihrem politischen Beruf. Erst ersetzten die aristokratischen Intelligenzler den „Pöbel“ – dann vertritt der aus verschiedenen Ständen kommende Narodnik die Bauernschaft; schließlich vertritt der marxistische Intelligenzler das Proletariat. Gleb Uspenski, selbst ein Narodnik, hat mit genialer Scharfsicht das Narodnikitum als Maskerade der Intelligenzler entlarvt. Es mussten aber noch zwei Jahrzehnte vergehen, bevor die lebendige Bauernschaft ihr wahres Antlitz zeigte – und erst dann wurde dem Liebesverhältnis der Intelligenzler mit dem Pseudobauern der Todesstoß versetzt …

Aber selbst dann, wenn die Idee in der Richtung der allgemeinen historische Entwicklung ging, hat sie, unter dem Einfluss des Westens, diese Entwicklung in der Zeit so vorweggenommen, dass die Träger der Idee, die Intelligenzler mit dem politischen Leben des Landes nicht durch die Klasse verbunden waren, der sie dienen wollten, sondern nur durch die „Idee“ dieser Klasse. So verhielt es sich mit den ersten Zirkeln der marxistischen Intelligenzler. Nur allmählich nahm der Geist Gestalt an.

Im Jahre 1905-06 erschienen auf der historischen Bühne große Sozialkörper – die Klassen mit ihren Interessen und Forderungen. Die russischen Ereignisse drangen mit einem Schlage in die Weltgeschichte ein und weckten ein machtvolles Echo in Europa und Asien; die politischen Ideen hörten auf als körperlose Feen zu erscheinen, die sich vom ideologischen Himmel herabgelassen hatten; die Epoche der Intelligenzler als Stellvertreter war, nachdem sie sich historisch erschöpft hatte, vorbei. Es ist jedoch bemerkenswert, dass sich gerade nach diesen bedeutsamen Jahren das Bacchanal der Selbsterhöhung der Intelligenzler voll entfaltet hat: so flackert jede Lampe heller auf, bevor sie erlischt.

Es ist Unsinn zu behaupten, die Geschichte habe nach einer großen Anstrengung einen Schritt zurück getan. Zurückgegangen ist die Bürokratie; die Bürokratie ist für viele Dinge zuständig, nur nicht für den Gang der Geschichte. Mit unserer Karatajew-Wirtschaft, mit der Geschichtslosigkeit der Massen ist es für ewig vorbei. Hier gibt es kein Zurück. Und damit zugleich ist es auch mit dem Aposteltum der Intelligenzler vorbei.

Nach drei Jahren selbstgefälliger Prostration richtet sie sich jetzt erneut an Lob und Ruhm! Es wäre jedoch naiv zu denken, dass sie erneut in die Voroktoberepoche*** zurückkehrt. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Wie groß auch die Bedeutung der Intelligenzler an und für sich gewesen sein mag, in Zukunft können sie nur dienen und sich unterwerfen. Die heroische Stellvertretung gehört voll und ganz einer Epoche an, die in die Ewigkeit eingeht.

Die Richtungsweiser (Struwe – Isgojew) haben diesem dahingehenden Kollektiv nach gespuckt Dass die Spucke ihr Ziel nicht erreicht hat, sondern zum Absender zurückgekehrt ist, dürfte jetzt – so sollte man meinen – allen klar geworden sein. Für den, der an die Zukunft glaubt, besteht aber auch kein Grund, die Vergangenheit zu vergöttern. Die Vergangenheit wird nicht auferstehen. Und das ist gut so, weil die Zukunft besser ist als die Vergangenheit: schon allein darum, weil sie sich auf die Vergangenheit stützt, um deren Erfahrungen reicher und dadurch klüger und stärker ist.

Kiewskaja Mysl, Nr. 64 und 72, 4. und 12. März 1912

* Dieser Artikel war im Tone einer Herausforderung jener Kreise des nationalen Messianismus in den Intelligenzler-Cafés geschrieben, die einem selbst auf große Entfernung (Petersburg – Moskau – Wien) Unbehagen verursachten. Der Artikel lag lange im Portefeuille der „Kiewskaja Mysl'". Die Redaktion konnte sich nicht entschließen, ihn zu drucken. Die 1912 einsetzende politische Belebung erfrischte die Atmosphäre, und der Artikel erblickte das Licht der Welt, allerdings mit brutalen Kürzungen In dieser gekürzten Form wird er auch hier abgedruckt .(Leo Trotzki, VI, 1922)

1 Menschikowschtschina = Menschikowtum. Inbegriff eines brutalen Regiments, so benannt nach dem Generaladjutanten und Admiral Aleksandr Sergejewitsch Menschikow (1787–1869). Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte während des Krimkrieges (1853–1856).

2 „Wechi“ (Mehrzahl von wecha): Markierungspflock, in übertragenem Sinne auch „Meilensteine". Berüchtigter Sammelband liberal-oktobristischer Professoren in der Ära der Reaktion 1909

3Satirikon“ – eine Zeitschrift, die etwa dem deutschen „Simplizissimus“ entsprach.

4 der falsche Revisor in Gogols Komödie

5 Kolupajew, Rasuwajew – Figuren aus den Satiren von Saltykow-Stschedrin.

6 Carbonari – Angehörige eines vor allem in Italien verbreiteten revolutionären Geheimbundes in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, entstanden in Italien während de Napoleonischen Herrschaft.

7 verballhorntes „Franc-macon“ = Freimaurer, kann auch mit „Freidenker“ übersetzt werden.

8 Am 3.(14.) Juni 1907 wurde durch kaiserlichen Ukas die zweite Reichsduma aufgelöst.

9 petrolejschtschik – Petroleumgießer, Petroleure, Angehörige der Pariser Kommune.

** siehe Hart: „Warum ist Russland ins Wanken geraten?“, Petersburg, 1910. (Leo Trotzki)

*** Das bezieht sich natürlich auf den Oktober 1905

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