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Leo Trotzki 19140316 Das Schicksal der Zeitschriften

Leo Trotzki: Das Schicksal der Zeitschriften

[Nach Literatur und Revolution. Berlin 1968, S. 322-329, s. auch den russischen Text]

1.

Ob unsere Zeitschriften wieder aufleben? Nein, niemals. Ich denke, dass sich alle jene irren, die darauf warten, sie würden zu neuem Leben erwachen, und ihre Wiedergeburt würde ein echtes, untrügliches Kennzeichen für die gesellschaftliche Belebung sein. Ich erwarte genau das Gegenteil. Eine gewisse Wiedergeburt der alten Zeitschriften, wie man sie fraglos in den letzten Jahren bemerken konnte, war eine vorübergehende Erscheinung – um diese Zeitschriften sammelten sich die aus ihren Kampfpositionen sich zurückziehenden politisch entmutigten Splitter der alten Ideengruppierungen Aber der Aufschwung der gesellschaftlichen Aktivität – ein Aufschwung, den man nicht mehr leugnen kann, wenn man nicht die Tatsachen leugnet sondern sie dort sucht, wo es sich gehört – dieser Aufschwung unterminiert – man sollte denken endgültig und ein für allemal – unter anderem auch unsere alte, verdiente, aber glücklicherweise auch historisch schon zum alten Eisen geworfene Publizistik der Zeitschriften. Ich sage: glücklicherweise, weil sich darin unser politisches Wachstum äußert.

Unsere Zeitschriften waren Laboratorien, in denen ideelle Strömungen ausgearbeitet wurden; von hier nahm deren gesellschaftliche Bewegung ihren Anfang. Das ist natürlich eine unbestreitbare historische Tatsache. Aber was verbarg sich dahinter? Der gesellschaftlich kümmerlichere Charakter dieser Bewegungen. Ich will damit keineswegs die Undankbarkeit des Nachfahren gegenüber der Leistung der Vorfahren an den Tag legen und weiß genau, dass der Nachfahre nur deshalb weiter und besser sehen kann, weil er auf den Schultern seiner Vorfahren steht. Aber der historische Maßstab muss bei der Bewertung der Vergangenheit doch beachtet werden. Die Herrschaft der Zeitschrift war die Epoche, in der die russischen Intelligenzler die Geschichte untereinander ausmachten. Der Maulwurf der tiefen gesellschaftlichen Prozesse arbeitete furchtbar langsam – das ideelle Leben der Intelligenzler lief darauf hinaus, dass es die zukünftigen Maulwurfsgänge vorwegnahm, diese Gänge langsam in den Bereich der Geschichte führte und auf der vorweggenommenen Linie sein „Programm“ aufbaute. Aber was bedeutete dieses Programm im Grunde genommen? Eine Form theoretischer Anpassung der Intelligenzler an einen langsam kriechenden historischen Prozess – mehr nicht. Im Vorausahnen der künftigen Entwicklungswege spalteten sich die Intelligenzler in Slawophile und Westler auf, in Narodniki-Klassiker und Zeitschriften-Liberale, in Narodniki-Epigonen und Marxisten ersten Aufgebots. Bei uns maß man die Ablösungen der Ideen nach Jahrzehnten, als wären es industrielle Zyklen in kapitalistischen Ländern: die sechziger, die siebziger, die achtziger Jahre. Die Intelligenzler gruppierten sich auf Grund der Prognose, der theoretischen Beurteilung der Zukunft – weil die wenig ausdrucksvolle, unter den Händen zerrinnende Gegenwart nicht nur für eine breite politische Arbeit, sondern auch für eine zuverlässige gesellschaftliche Orientierung keinerlei Ansatzpunkte bot. Die Zeitschrift in ihrer Mannigfaltigkeit und in ihrer Einheitlichkeit war das geeignetste Mittel für den ideellen Zusammenschluss der Intelligenzler. Mit ihrer „Allseitigkeit“, die sich von der literarisch-publizistischen Kritik durch alle ihre Sparten zog – Roman, Äsop-artige Satire, naturwissenschaftliche Popularisierung, Rezension und Lyrik – ersetzte die Zeitschrift den Intelligenzlern die ihnen fehlenden objektiven, im Gemeinwesen selbst liegenden Bindungen. Die Grenzlinien der Glaubenslehre wurden durch Trenngräben politisch-klassenmäßiger Gruppen ersetzt.

Notwendig ist selbstverständlich, dass man sich über die Begriffe genau einigt. Wenn wir über die Zeitschrift wie über einen gesellschaftlich-literarischen Typus sprechen, so haben wir immer nicht einfach periodisch erscheinende Hefte im Auge, in denen die Kritiker kritisieren, die Poeten Reime schmieden und die Professoren über neue Strömungen in den Naturwissenschaften berichten – nein, wir haben die Zeitschrift als geistigen Brennpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe, als eine Art Bundeslade, mit einem Wort unsere russische Zeitschrift im Sinn. Und es ist leicht genug, sich die von uns aufgezeigten gesellschaftlichen Wurzeln dieser Zeitschrift vorzustellen, um damit ihre historischen Grenzen zu bestimmen. Das Ende der russischen Zeitschrift tritt dann ein, wenn der Messianismus der russischen Intelligenzler sein Ende findet.

Die Intelligenzler waren in der russischen Geschichte bedeutende Stellvertreter. Mit ihrem Gedanken versuchten sie den realen Entwicklungsprozess, mit ihren ideellen Gruppierungen den Kampf der gesellschaftlichen Kräfte zu ersetzen. Mit dieser notwendigen und bis zu einer bestimmten Zeit historisch-progressiven Arbeit hat die Zeitschrift für die Intelligenzler ein Aktionsprogramm die politische Literatur und die politische Organisation ersetzt. Aber in dem Maße, in dem die objektive Berechtigung einer Vertretung abnahm, weil die gesellschaftlichen Gruppen sich schärfer voneinander zu unterscheiden begannen, die Klassen „an sich“ zu Klassen „für sich“ wurden, indem sie eigene Parteien bildeten, die Intelligenzler zergliedert und von diesen Parteien aufgesogen wurden – verschwand im Laufe dieses Prozesses die spezifische, priesterliche Bedeutung der russischen Zeitschrift; ihr Heiligenschein verblasste, sie wurde einfach zu einer „periodischen Edition“.

Die neunziger Jahre waren die letzte Periode der alten heroischen Zeitschrift; der intelligenzlerische Marxismus hat der alten Form vorübergehend neues Leben eingehaucht. „Nowoje Slowo“1 war die letzte Zeitschrift, die mit ihrem Wort die Herzen der Menschen entflammte.

Schon zu Beginn des neuen Jahrhunderts wurde zugleich mit dem Anwachsen der politischen Flut der Zeitschrift der Todesstoß versetzt. Sie wird durch die politische Zeitung mit ihrem scharf umrissenen Aktionsprogramm abgelöst. Im Ausland entstehen die Zeitungen „Iskra“2, „Oswoboshdenie“3 und „Das revolutionäre Russland". Auf dieser Linie entfalten sich wirklich lebensvolle Gruppen weiter, die zwar von demselben intelligenzlerischen Milieu ausgehen, aber sich in ihm nicht abschließen, sondern sich einen Ausgang nach außen in die breiten Bevölkerungsschichten, in neue Klassen bahnen … Es formieren sich Gruppen um die politischen Zeitungen (die „Iskraleute“, die „Oswoboshdenieleute“) – eine Tatsache von gewaltiger gesellschaftlicher Bedeutung, ein außerordentlich großer Schritt in Richtung auf die politische Reife - ein direkter Übergang zur Partei der Kadetten und zur Partei der Arbeiterklasse

Auf diesem Wege kann es schon weder ein Anhalten noch eine Umkehr geben. Wenn die politische Selbstbestimmung der einzelnen Klassen erst einmal begonnen hat, kann sie nicht mehr rückgängig gemacht werden. Darum ist es eben so schwer eine Wiederherstellung der geistigen Hegemonie der russischen Zeitschrift wie auch eine Wiederholung der Epoche des intelligenzlerischen Aposteltums zu erwarten.

Man wird allerdings sagen, dass die Zeitungen nur das ideelle Kapital in gängiges politisches Kleingeld einwechseln – aber aus welchen Quellen soll dann dieses Kapital ergänzt werden? Wird die Zeitschrift wirklich nicht erneut zum Mittel der Ansammlung ideeller Werte werden? Diese Fragestellung selbst birgt in sich ein Missverständnis oder, genauer, einen historischen Anachronismus. Die führenden Zeitschriften haben nicht in dem Sinne kapitale Werte ins Geistesleben eingebracht, dass sie die Wissenschaft vorwärts getrieben hätten, sondern dadurch, dass sie jedes Mal die fällige Formel für die gesellschaftliche Orientierung der fortschrittlichen Intelligenzler geliefert haben. Änderte sich die Richtung, änderte sich auch die Zeitschrift. Aber gerade für diese Funktion wird sich der historische Bedarf nicht erneuern. Die Politik der Klassen hat im Gegensatz zum ideellen Leben der Zirkel eine eigene innere Beständigkeit. Das Bedürfnis nach einer periodischen ideellen Mauserung – einer völligen Erneuerung des theoretischen Gewandes – kann den Klassenparteien nicht eigen sein. Soweit sie eine formulierte Ideologie benötigen – und nicht alle benötigen eine, einigen ist sie verhasst – hört die Zeitschrift trotzdem auf, die universelle Form der Befriedigung dieses ideellen Bedürfnisses zu sein.

Wenn man von den durch unsere alten Zeitschriften geschaffenen ideellen Werten spricht, muss man dies auch richtig verstehen. Neue Theorien, die ein Beitrag zum Grundkapital des menschlichen Gedankens gewesen wären, haben unsere Zeitschriften nicht geschaffen. Sie haben nur mit mehr oder weniger großem Glanz die europäischen Theorien – die gesellschaftlich-philosophischen, naturwissenschaftlich-geschichtlichen und literarisch-kritischen – angepasst und popularisiert. Diese Theorien wurden nicht in den russischen Zeitschriften, sondern in westeuropäischen Büchern geschaffen. Die alte Zeitschrift war im Rahmen ihrer ideellen Richtung auch noch periodische Enzyklopädie. Das Bedürfnis danach entsprang der „objektiven und subjektiven“ Armut unserer ideellen Kultur, der geringen Bildung selbst unserer Intelligenzlerschicht, der Armut unserer gelehrten Literatur, dem Mangel an Fachzeitschriften, wissenschaftlichen Popularisationen, Bibliotheken, allgemein zugänglichen Vorträgen usw. Die Zeitschrift bot notgedrungen nicht nur den „Standpunkt“ und die Methode der Bewertung sondern auch den ganzen Inhalt der Weltbetrachtung Dieser universal bildende Charakter der Zeitschrift fällt zwangsläufig entsprechend der sich entfaltenden und verfeinernden ideellen Kultur der Gesellschaft der Vergangenheit anheim.

Wir wiederholen: der moderne Westen kennt die ideelle Hegemonie der Zeitschrift nicht. Zeitschriften gibt es auch dort und sehr verschiedenartige literarische, sozialwissenschaftliche oder soziologische, aber sie haben gar nichts von gesellschaftlichen Orakeln an sich. „Das Neue“ in Wissenschaft, Philosophie und Kunst wird dort in Büchern, in besonderen Publikationen vom Katheder herab oder in Ausstellungen gebracht. Das Neue in der Politik erfährt man aus Zeitungen, von den politischen Tribünen und in Volksversammlungen. Das gesellschaftliche Leben ist natürlich davon nicht ärmer geworden.

Bei uns sind die Traditionen der universalen Zeitschriften noch sehr kraftvoll. Diese Traditionen können einige unserer alten Zeitschriften noch für lange Zeit erhalten, wobei sie sich jedoch in neue Zeitschriften verwandeln werden – aber keine Kraft der Welt wird imstande sein, der Zeitschrift ihre ehemalige gesellschaftliche Bedeutung wieder zurückzugeben, ihre gebieterische, messianistische – etwa in der Mitte zwischen Politik und Prophetentum stehende – Form der Publizistik wiederzubeleben.

2.

Die gesellschaftliche Brandung versetzte der Zeitschrift den Todesstoß. Man darf die Augen vor einer sehr eindrucksvollen und in den Rahmen dieser Erklärung außerordentlich gut sich einfügenden Tatsache nicht verschließen. In jenen jüngst vergangenen Jahren, als die Quecksilbersäule des gesellschaftlichen Barometers ihren niedrigsten Punkt erreicht hatte, als die Zeitung „Retsch“ die einzige oppositionelle Zeitung in Petersburg war und die „demokratische“ Presse der Hauptstadt durch dieselbe Zeitung „Retsch“ im Zweikopeken-Maßstab des „Sowremennoje Slowo“4 vertreten wurde – gerade in diesen Jahren verspürten unsere Zeitschriften einen neuen Zustrom von Kräften und vermochten vorübergehend die verlorengegangenen Leser um sich zu sammeln, obwohl sie – und das steht schon ganz außer Zweifel - nicht mehr fähig waren, auch die verlorengegangenen Gedanken wieder zu sammeln. Und umgekehrt, während in Petersburg die entfesselte Presse in allen Regenbogenfarben schillert – obwohl die modernen Xerxesse sie eifrigst mit ihren Kinderruten züchtigen – siechen die Zeitschriften dahin, weil sie erkennen mussten, dass die Jahre der Reaktion ihnen nicht den zweiten Frühling, sondern – ach! – nur einen Altweibersommer gebracht haben. Wir wollen versuchen, bei den Zeitschriften nach Titeln zu ermitteln, welchen Platz sie in unserem gegenwärtigen gesellschaftlichen Leben einnehmen. Um auf die eine oder andere Art die Beurteilung des Problems festigen zu können, wird dies auf keinen Fall überflüssig sein.

Beginnen wir mit dem „Westnik jewropy“5. Dies ist die Zeitschrift, die alle als ehrwürdig bezeichnen, und sie ist auch tatsächlich vollauf „ehrwürdig". Es wäre aber gar nicht so einfach zu beantworten, welche Funktion sie eigentlich jetzt in unserem ideell-politischen Leben ausübt. Der alte „Westnik jewropy“ war das Organ des gemäßigten, programmatisch nicht festgelegten, volkstümlerisch (Narodniki) gefärbten Liberalismus. Links von ihm standen die Organe des utopischen Sozialismus. Der „Westnik jewropy“ vermittelte der russischen „Gesellschaft“, und nicht nur der liberalen, eine elementare bürgerlich-rechtliche Bildung: da der Sozialismus ein utopischer war, der über die natürlicher Entwicklungsphasen hinwegsah, so bezogen in der Praxis nicht nur die liberalen, sondern auch die volkstümlerisch-sozialistischen und teilweise auch die marxistischen Elemente der Intelligenzler ihre Grundkenntnisse über das Bürgertum aus eben derselben Zeitschrift „Westnik jewropy". In der Zeitschrift „Oswoboshdenie“ hat Struwe einmal aus Anlass des Jubiläums von K. K. Arsenjew geschrieben: „Wir sind alle mit der Inlandsrundschau des „Westnik jewropy“ groß geworden. Arsenjew hat auch heute noch die Meisterschaft bewahrt, mit der er – im Rahmen seiner gemäßigt liberalen Weltbetrachtung die Praxis der russischen Behörden jahrzehntelang beleuchtet hat. Aber die Zeitschrift ,Westnik jewropy' hat bereits aufgehört, die Schule aller politischer Parteien zu sein, weil diese Parteien die Vorbereitungsklasse bereits hinter sich haben. Der ,Westnik jewropy' ist faktisch abseits der politischen Entwicklung geblieben. Das erlaubte ihm eine ziemlich weitgehende ,Toleranz' zu bewahren, durch die sich unter ein und demselben Titelblatt die gemäßigten Liberalen mit den Radikalen und sogar mit den Sozialisten vertrugen. Seite an Seite mit Herrn Slonimski, der auch heute keine Gelegenheit auslässt, nicht nur Marx, sondern auch seine Schwiegermutter zu beschimpfen, gibt Herr Blank in ehrerbietigsten Ausdrücken die Korrespondenz zwischen Marx und Engels wieder. In unserer rauen Zeit der Parteileidenschaften hat Toleranz dieser Art etwas Beruhigendes. Aber – ach! – dies ist eine unverbindliche Toleranz Wer liest denn ,Westnik jewropy' wirklich als seine Zeitschrift? Wer baut sich seine Weltbetrachtung nach der des ,Westnik jewropy' auf? Wer wird sich schließlich nach dem ,Westnik jewropy' in der Politik des russischen Liberalismus orientieren? Niemand!“

Eine andere Monatsschrift des russischen Liberalismus ist „Russkaja Mysl". Das ist im Grunde genommen die einzige Zeitschrift, die nicht einfach von der automatischen Kraft der ideellen Trägheit lebt, sondern wirklich danach strebt, „neue Werte“ auszuarbeiten: einen national-liberalen Imperialismus auf konservativer religionsphilosophischer Grundlage. Aber gerade deshalb gerät „Russkaja Mysl“ mit dem praktischen und politischen Parteiliberalismus, mit dem Kadettentum in Konflikt. Wenn man die Linien der Politik des Herrn Miljukow bis zu Ende führt und sie philosophisch untermauert, dann ergibt sich etwas, das dem sehr nahekommt, was Struwe „synthetisiert". Aber eben deshalb ist Struwes Zeitschrift für die Partei des Herrn Miljukow politisch unannehmbar. Denn die Kadettenpartei lebt von einem Tag in den anderen, ohne feste Perspektiven und ohne eine selbständige politische Konzeption, und weil sie von rein kanzleimäßigen „Eingaben“ demokratischer Gesetzentwürfe zu geheimen patriotischen Konferenzen übergeht, ist sie nicht nur an einem „synthetischen“ Ausgleich nicht interessiert, sondern steht ganz im Gegenteil jedem Versuch, ihre Politik in ein System zu bringen und ihr einen philosophischen Unterbau zu geben, mit äußerster Feindseligkeit gegenüber. Die Arbeit Struwes kann von Herrn Miljukow nicht anders empfunden werden als ein seine Partei politisch kompromittierender Doktrinarismus Die Politik der Partei Miljukows bedarf keiner Zeitschrift alter Art, im Gegenteil, sie ist gezwungen, diese zu meiden. Wenn sich die formlos-progressive, unverbindlich-tolerante Zeitschrift „Westnik jewropy“ vom Standpunkt des praktischen Liberalismus als ehrwürdige, altmodische Belanglosigkeit darstellt, so erscheint die intolerant-aggressive, ziellos-vorstürmende Zeitschrift „Russkaja Mysl“ vom gleichen Standpunkt aus als schädliche Unmäßigkeit Die Zeitschrift „Sowremennyj Mir“6 lebt nach wie vor in der Sphäre ideeller Eingebungen des Marxismus. Aber welch gewaltiger Unterschied im Vergleich zu der Zeitschrift „Nowoje Slowo“ (1897). Der Marxismus dieser Zeitschrift war das Banner, unter dem sich die kämpferische Mobilisierung weiter Kreise der Intelligenzler vollzog. Die Zeitschrift war in diesem Prozess ein äußerst notwendiger Faktor Jetzt ist das ganz anders. Würde jetzt die Zeitschrift „Sowremennyj Mir“ eingehen, gäbe es eine „anständige“ Zeitschrift oder ein kulturelles Unternehmen weniger, in der Kombination der gesellschaftlichen Kräfte würde nicht ein einziges Glied ausfallen. Die Leserkreise der Zeitschrift „Sowremennyj Mir“ leben nicht von den Direktiven des Marxismus. Diejenige aber, die von ihnen leben, gehören in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht zu den Lesern der Zeitschrift „Sowremennyj Mir“, sofern sie aber doch dazu gehören, vorwiegend als Gäste.

Dasselbe gilt – mit den notwendigen Abänderungen – auch für die Zeitschrift „Russkoje Bogatstwo“7. Einst die Tribüne der formalen Ganzheitslehre von Michajlowski, hat die Zeitschrift „Russkoje Bogatstwo“ – nachdem die politischen Widersprüche dieser Lehre zu Tage getreten waren und von dieser Zeitschrift zunächst von rechts sich die Kadetten trennten und dann von links sich die „Links-Volkstümler“ abzweigten – aufgehört, ein selbständiges Zentrum ideeller Anziehung zu sein, und wurde zu einer Monatsschrift mit gewissen Qualitäten und dem entsprechenden Leserkreis

Im Grunde liegen die Dinge so: die vier ältesten russischen Zeitschriften habe sich in politisch unverbindliche Publikationen verwandelt, nicht nur in dem Sinne, dass sie nicht mehr die Offiziosa bestimmter Parteien sind und überhaupt nicht mehr in das Ideensystem dieser Parteien hineinpassen, sondern auch in dem Sinne, dass es überhaupt kein ideell verbundenes Auditorium gibt, in dessen Namen diese Zeitschriften sprechen könnten oder das sich für diese Zeitschriften verantwortlich fühlen würde. Es gibt einfach nur Leserpublikum: davon aber gibt es jetzt so viel, dass es auch für die nur noch vom Beharrungsvermögen lebenden Zeitschriften ausreicht. Wir haben allerdings die sozialistischen Zeitschriften neuer Herkunft und neuen Typs wie „Nascha Sarja“8, „Prosweschtschenie“9, „Borba"10 nicht erwähnt. Diese Publikationen kann man schon allein aus dem Grunde nicht zu den dicken11 Zeitschriften rechnen, weil sie nicht dick sind. Sie können auch nicht dick sein, weil ihr Leser nie die Zeit hat, große Aufsätze zu lesen. Sie erheben keinen Anspruch auf universale Bedeutung, im Gegenteil, sie führen einen Kampf gegen die universalen Ideologien Sie sind mit einer sehr bestimmten ideell-politischen Gruppe verbunden, und ihre Rolle ist – eine politisch-dienende. Die Vorbilder für derartige Publikationen sind im Westen entstanden: „Neue Zeit“ in Deutschland, „Kampf“ in Österreich usw. Was die „Sawety“12 anbelangt, so vereinigt diese Zeitschrift Züge des alten und des neuen Typseine labile Form Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung ihre weitere Entwicklung gehen wird.

Die Zeitschrift „Sowremennik“13 bemüht sich, sozusagen an sich selbst, in kürzester Frist die ganze Geschichte der russischen Journalistik durchzumachen: sie hat sich einen großen historischen Namen erworben, den Namen einer klassischen Zeitschrift und ändert unter dieser Hülle ständig ihr Wesen, anscheinend in dem Bestreben, zu beweisen, dass von der alten russischen Zeitschrift tatsächlich nichts weiter übriggeblieben ist als nur der Name

Den Grad der gesellschaftlichen Belebung am Ideenschwung der Publizistik dieser Zeitschriften messen zu wollen, bedeutet, sich des unzuverlässigsten und für diesen Zweck am allerwenigsten geeigneten Messgerätes zu bedienen. Es gibt einen Weg, der viel einfacher und zuverlässiger ist: einfach darauf zu achten, was im Lande vor sich geht. Die Berichte der Fabrikinspektoren, die gesellschaftspolitische Chronik der Tagespresse, die Protokolle der öffentlichen Kongresse – ist denn das allein nicht schon beredt genug? Hierzu muss man auch die Duma mit ihren inneren Umgruppierungen heranziehen. Es bedarf keiner Worte: wie sich die Musikanten der vierten Duma auch setzen mögen14, die Marseillaise werden sie nicht spielen*. Aber dafür geht ihnen auch die Melodie des kamarinsker Bauern nicht mehr so recht von der Hand. Alle Parteiabgrenzungen und Spaltungen der Dumafraktionen entspringen im Grunde genommen nur der Notwendigkeit, sich dem nahenden Umbruch im politischen leben des Landes so oder so anzupassen. Die Spaltung der Oktobristen in der Duma hat selbstredend nichts verändert. Aber zur Spaltung sind die Oktobristen nur durch irgendeine große Veränderung gezwungen worden, die sich allmählich außerhalb der Duma vorbereitet hat. Jenes Gleichgewicht der siegreichen Reaktion, in dem sich die dritte Duma gehalten hatte, gibt es nicht mehr. Das neue „Gleichgewicht“ liegt noch gänzlich in der Zukunft, und der Weg zu ihm ist ganz und gar nicht einfach und nicht kurz. Und zwischen dem einen, bereits gestörten Gleichgewicht und dem anderen noch nicht gewonnenen verläuft eine Periode wachsender gesellschaftlicher Belebung. Sie findet keinen entsprechenden Ausdruck in den Zeitschriften. Das ist natürlich bedauerlich. Aber dieser Umstand zeugt nicht gegen die Belebung, sondern gegen die Zeitschriften.

Kiewskaja Mysl, Nr. 75 und 78, 16. und 19. März

1 „Nowoje Slowo“ – Neues Wort

2 „Iskra“ – Der Funke

3 „Oswoboshdenie“ – Befreiung

4 „Sowremennoje Slowo“ – „Das Wort der Gegenwart“

5 „Westnik jewropy“ – „Europäischer Bote“

6 „Sowremennyj Mir“ – Welt der Gegenwart

7 „Russkoje Bogatstwo“ – Russischer Reichtum

8 „Nascha Sarja“ – Unsere Morgenröte

9 „Prosweschtschenie“ – Die Aufklärung

10 „Borba“ – Der Kampf

11 Unter „dicken“ Zeitschrift versteht man in Russland Monats-, Zweimonats- oder Vierteljahreszeitschriften

12 „Sawety“ Vermächtnisse

13 „Sowremennik“ – der Zeitgenosse

14 Frei nach einer Fabel von Krylow: „Das Quartett".

* Im Jahre 1917 waren sie gezwungen, sie, wenn auch nicht zu spielen, so doch geduldig anzuhören. (VI/1922 Leo Trotzki)

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