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Leo Trotzki 19140219 Die Schmähung des Syllogismus

Leo Trotzki: Die Schmähung des Syllogismus

[Nach Literatur und Revolution. Berlin 1968, S. 316-322, s. auch den russischen Text]

Das revolutionäre 18. Jahrhundert suchte das Reich des Syllogismus zu errichten Unsere 60er Jahre waren auch vom Geist des Rationalismus durchdrungen Der kämpferische Syllogismus war in beiden Fällen die Ablehnung unvernünftiger Ideen und Einrichtungen, die aus ihrem Alter das Recht auf weitere Existenz herleiten, ohne sich um das Vorlegen irgendwelcher anderer Berechtigungsnachweise zu kümmern. Der Rationalismus ist nicht bereit und nicht fähig, sich mit dem blinden, in historische Tatsachen eingeschlossenen Beharrungsvermögen abzufinden und noch weniger mit Anciennitätsansprüchen. Er will alles mit dem Verstand überprüfen und umbauen – auf Schlussfolgerungen aus logischen Prämissen. Da aber bei weitem nicht bei allen gesellschaftlichen Institutionen alles logisch zueinanderpasst, muss ihnen der Syllogismus als ein äußerst unruhiges und verdächtiges Subjekt erscheinen, das man nicht aus den Augen lassen darf. Die Zensur ist ja auch nichts anderes als eine Aufsicht über den Syllogismus. Und wenn man den Bürgern schon verbietet, ohne Genehmigung der Polizei Waffen zu tragen, um wie viel notwendiger muss die Kontrolle der Präfekten über die Anwendung so wirksamer Waffen sein, wie es die Syllogismen sind, von denen manche sogar bis zu 500 Rubel taxiert werden (3 Monate, wenn der Betrag nicht gezahlt wird). Man braucht sich nur vorzustellen, was geschehen würde, wenn im Salon des Fürsten Meschtscherski oder in irgendeiner anderen reaktionären Spelunke, in der Geschichte gemacht wird, ein unbeugsamer und unbestechlicher Syllogismus auftauchen und sich ins Gespräch einmischen würde.

Nichts Gutes, das ist klar: der Hausherr müsste den Oberhausmeister rufen … Aus eben diesem Grunde können übrigens manche Pressegesetzentwürfe nicht als Muster juristischer Logik dienen: sie sind auf direkt entgegengesetztem Prinzip aufgebaut – auf den Hass auf den Syllogismus, diesen selbstsicheren und unermüdlichen Mineur der Grundlagen. Aber wir kommen vom Thema ab.

Eine junge Gesellschaft, eine junge Klasse wie auch ein junger Mensch neigen wenn sie nicht feige und nicht stumpfsinnig sind – stets zum Syllogismus, zur Überprüfung alles Vorhandenen durch den Verstand. Der Rationalismus ist für Zeiten des Erwachens kennzeichnend. Aus den sozialen Waben reißt sich die gestrige n+1-te „Bevölkerungseinheit“ heraus und betritt mit dem Syllogismus bewaffnet als „kritisch denkende Persönlichkeit“ die Bühne. Ihr folgt die zweite, dritte, hundertste … Der Syllogismus ist furchtbar ansteckend – und das ist kein Wunder, denn die individuelle Erfahrung potenziert er zur allgemeinen Erfahrung, und darin besteht sein unzuverlässiger Beruf.

Beim ersten Protest im Zeichen der Logik erschrecken die alten Familien- und Staatsautoritäten furchtbar, weil sie an dergleichen nicht gewöhnt sind. Einem Mütterchen, dem der 15jährige Sohn urplötzlich mit Logik zuzusetzen beginnt, scheint es, als stürzten die Fundamente der Familie ein. Und den Nachtwächtern verschiedener Dienstgrade kommt es so vor, als werde der Emporkömmling Syllogismus sogleich auch alle sonstigen Fundamente erschüttern. Daher müssen diejenigen Formen der Staatlichkeit, die ihrer Natur nach mit der Logik nicht auf bestem Fuße stehen, gegen die Jugend einen Vernichtungskampf führen.

Der junge Rationalismus ist durch und durch idealistisch. Er glaubt an die absolute Macht des menschlichen Gedankens und nimmt an, das Missförmige und Hässliche existiere nur dank einem Missverständnis. Er ist überzeugt, dass es genüge, die Wahrheit zu entdecken und zu formulieren, um ihr dann den Weg zur Verwirklichung zu garantieren. Aber bald stellt sich heraus, dass dem nicht so ist.

Beim ersten entscheidenden Zusammenstoß des Syllogismus mit einem unlogischen, aber aufgeblähten Faktum erlebt der Syllogismus eine harte Niederlage. Dadurch kompromittiert er sich auch moralisch: „da habt ihr eue gerühmten Verstand – er versprach, die Welt auf den Kopf zu stellen, und ist jetzt wegen Verstoßes gegen geltende Verordnungen ins Polizeirevier abgeführt worden". In der Tat: das Schloss an der Tür lässt sich nicht aufbrechen, und vor dem Türschloss steht auch noch der wachsame Swistunow, während der Syllogismus bei Wasser und Brot sitzt und wie ein begossener Pudel aussieht. Diese erste Prüfung hat eine enorme Bedeutung, sowohl im Leben der Einzelperson als auch im Leben der Gesellschaft. Hier fängt er neues Kapitel an. Der Jüngling, der mit dem Syllogismus zum Schlag gegen die Eltern ausholte, von der Vorstellung ausgehend, dass diese der gemeinsamen Urmutter – dem Affen – um eine Stufe näher stünden als er, überzeugt sich, dass es außer der Hierarchie des Verstandes noch eine soziale Alltagshierarchie gibt, die nicht auf dem Syllogismus beruht, ihm gegenüber aber den Vorteil hat, dass sie realisiert ist, während er sich nicht realisieren konnte. Genau so war die fortschrittliche Gesellschaftsgruppe gezwungen, sich zu überzeugen, dass die Deklaration der Vernunft an sich noch nicht die verschimmelten Mauern Jerichos zerstört.

Der Rationalismus, die Ideologie des Erwachens, offenbart sich als unreife Ideologie Es stellt sich heraus, dass der Syllogismus erst noch seinen Platz im lebendigen Prozess der geschichtlichen Entwicklung finden muss; dass er seinen Inhalt nicht nur als einen formal-zwingenden, sondern als einen historisch notwendigen begreift, dass er sein neues Tätigkeitsfeld umreißen und seinen eigenen geschichtlichen Träger finden muss – mit einem Worte, muss aufhören, ein nackter Syllogismus zu sein, er muss vielmehr in das lebendige System der Gesellschaftsbewegung eingehen. Der Syllogismus ist kraftlos, solange er körperlos ist. Er muss in das Bewusstsein der Massen eingehen, sich eine gesellschaftliche Muskulatur antrainieren, nur dann kann er seine Wirkung entfalten und sich in Institutionen verkörpern. Die historische Dialektik misst die Erscheinungen nicht einfach mit der Elle des Vernünftigen, sondern betrachtet sie in ihrem inneren Zusammenhang, in ihrem Ursprung, in ihrer Entwicklung und in ihrem Untergang. Die Dialektik fegt den Syllogismus nicht fort, im Gegenteil, sie adoptiert ihn. Sie gibt ihm Fleisch und Blut und beflügelt ihn – für den Aufstieg und den Abstieg. Erst jetzt wird der Syllogismus unbesiegbar.

Aber dies ist kein allgemein gültiger Weg, und er öffnet sich einem nicht sofort. Das unmittelbare Ergebnis der Niederlage des Rationalismus ist ein in Erschöpfung übergehender Pessimismus. Vom idealistischen Glauben an die Allmacht des Verstandes bis zum völligen Unglauben an ihn ist nur ein Schritt. Was stellt der Syllogismus dar? – Eine Meise, die versprach, das Meer in Brand zu setzen, die zu Ruhm gelangte, das Meer aber nicht zu entzünden vermochte. Nieder mit dem Syllogismus, er bringt die Persönlichkeit der Abstraktion zum Opfer! Er ruiniert die Jugend, dieser verantwortungslose Demagoge! Haut ihm, dem Verfluchten, den Kopf ab! brüllt von rechts irgendein Rindvieh aus den Wäldern von Brynsk. Es lebe die unsterbliche Persönlichkeit, der Glaube an die drei Walfische1 und sonstigen uns erhebenden betrug!

Jedoch die Sache erweist sich als gar nicht so einfach. Wo der Syllogismus einmal mit seinem Besen durchgezogen ist, dort ist eine natürliche Rückkehr zur alltäglichen Unmittelbarkeit, zum biologischen Kreislauf von Geburt, Ehe und Tod unmöglich. Die tatsächliche Kapitulation vor der gewichtigen Tatsache muss sich ästhetisch verbrämen, ästhetisch verschönern, um die Individualität zu durchlaufen und sich in die „freiwillige“ Resignation der Persönlichkeit vor der gleichen Schweinerei zu verwandeln, die vor dem Aufstand des Syllogismus schon vorhanden war. Diese Aufgabe ist es, die in der Zeit der Reaktion dem ideologischen Schaffen vorwiegend Inhalt verleiht. Wie verschieden und sogar gegensätzlich der Inhalt des Gesellschaftsgedankens in den verschiedenen Schichten und Gruppen auch sein mag – die unvermeidliche Färbung der Zeit breitet sich mehr oder weniger intensiv auf alle Schichten aus. Die feindselige Einstellung gegenüber der ideellen Klarheit und Exaktheit verbreitet sich wie ein Ölfleck nach oben und nach unten. Die grundlegenden Gesetze und deren Interpreten weichen der Frage aus: Konstitution oder Alleinherrscher? Der staatsrechtliche Syllogismus wird durch formlose Berufung auf nationale Besonderheiten verdrängt. Die „führenden“ und „verantwortlichen“ politischen Parteien bauen ihre Politik auf Unklarheit auf. überall werden die scharfen Ecken abgeschnitten, die Kanten abgerundet und die Grenzgräben wie die Marksteine zerstört. Es breitet sich eine Abneigung gegen jegliche positive Doktrin aus, weil sie bindet, und – eine Zuneigung zu jeglicher Skepsis, nur, weil sie „befreit"...

Das treueste Ideenlaboratorium dieses Geistes der Zeit war unzweifelhaft „Russkaja Mysl“, die reaktionärste Zeitschrift auf russischem Boden Das ist kein paradox. Nicht eine einzige der Veröffentlichungen Samyslowskis, Wolodimerows und des übersynodalen Skworzow lässt sich ihrer reaktionären Bedeutung nach auch nur im entferntesten mit den Veröffentlichung des Zirkels ehemaliger Marxisten ersten Aufgebots vergleichen. Irgendein „Gerader weg“2 (zu einem Subsidium, versteht sich) ist von der Demokratie durch einen Abgrund getrennt; die Zuhörerschaft, an die er appelliert, wir ohnehin nie zulassen, dass ihre geistigen Ansprüche sich höher als das Bauchfell erheben. Die ins Budget übernommenen Veröffentlichungen der Schwarzen Hundertschaft3 stellen insgesamt eine geistige Kloake sozialparasitärer Elemente dar, die in aller eile irgendwelchen Dreck ausscheiden, der im Grunde genommen einer Ideologie ganz und gar nicht ähnlich ist.

Russkaja Mysl“ hat aber einen ganz anderen Stammbaum. Genetisch genommen ist sie ein Seitentrieb aus den alten Wurzeln des russischen Liberalismus und sogar Radikalismus Die Purischkewitsche beleidigen den russischen gesellschaftlichen Gedanken einfach tätlich, während die Herren Struwe ihn von innen her mit dem Gift der Skepsis und der Feigheit vergiften, ihm Schwäche und die Bereitschaft einimpfen, jede durch Verstand und Mut eroberte Position dem Feind preiszugeben. Das einzige, was die Leute von „Russkaja Mysl'. wirklich hassen, ist die klare und bestimmte Idee einer russischen Demokratie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Religion, Philosophie, Ästhetik, Himmel und Hölle, alles beuten sie für sich aus, um ihren einzigen wahren Glauben zu säen: die soziale Gleichgültigkeit, die Versöhnung mit dem historischen Übel jeglicher Art. „Wenn du kämpfst – so erkennst du damit den Gegner an und glaubst an ihn“, lehrt auf den Seiten der Zeitschrift „Russkaja Mysl“ irgendein W. Murawjow, ein anmaßender und sehr gesprächiger junger Mann, dem vom Schicksal beschieden war, seinen Lehrmeister nicht zu übertreffen. In salbungsvoll-frechem Ton rügt Herr Murawjow alle diejenigen, die zweierlei Russland unterscheiden, die Samysslowski und Gorki nicht in einer Klammer zusammenfassen, weil „überhaupt alle, die spalten – Feinde des Lebens sind". Die Rettung findet man in der Richtung des russischen Gedankens, die nicht spaltet, sondern „verbindet“ (Struwe). „Die Kraftlosigkeit jeder Abstraktion“ verkündend, kämpfen diese Leute in Wirklichkeit nur gegen die „Abstraktionen der Demokratie“. Aber sie verstopfen bedenkenlos die gähnenden Löcher ihres eigenen „Idealismus“ mit den formlosesten Abstraktionen wie „großes Russland, oder „das nationale Gesicht“, weil sie nur auf diesem Wege die direkte Verbindung zum Lager der schwarzen Reaktion herzustellen hoffen.

Wir müssen uns vor dem Leser entschuldigen und unseren eigenen intellektuellen Ekel unterdrücken, wenn wir aus dem Artikel des Herrn Murawjow ein weiteres Zitat anführen: „ich frage die russischen Menschen, ganz gleich welchen Berufes, welcher Partei, welchen Lebenszuschnittes, ob Ackermann oder Intelligenzler, ob Herr oder Knecht – welcher Art das Leben ist, das sie jetzt in sich spüren? Was bewegt sie, und wohin sind sie gerichtet? Was spricht in ihnen, wenn in der Stille der Einsamkeit ihre Seele sich an das Unerforschte wendet, sich weitend Gott sucht? Finden sie dann Ruhe und Hoffnung? Haben sie einen Glauben? Zu jener Stunde, wenn es Abend wird, wenn die laute der alltäglichen Morgenarbeit verstummen – (bei Herrn Murawjow endet der Morgen „zu jener Stunde, wenn es Abend wird“!) – was erfüllt dann ihr Herz, womit beruhigt es sich zur Nacht, worauf ist es konzentriert, um dem unbekannten Schicksal zu begegnen?“ Solche frommen Litaneien ziehen sich über eine lange Reihe von Seiten hin … Bemerkenswert ist in unserer ideellen Entwicklung die persönliche Rolle Struwes, dieser Wanderniere im Organismus des russischen Gemeinwesens! Er hat seine Karriere im Lager des Marxismus begonnen – und, noch dort verweilend, hat er bereits die ideellen Waffen für den Liberalismus vorbereitet. Ins liberale Lager überwechselnd, sah er sich kaum darin um und begann unverzüglich europäisierte Waffen für die soziale Reaktion zu schmieden. Fraglos war diese ganze Arbeit auf ihre Weise historisch notwendig. Sowohl der bürgerliche Liberalismus als auch die soziale Reaktion benötigen sozusagen ein geistiges Schwert, und irgend jemand musste es schmieden Aber warum brauchte die Geschichte diese Doppelrolle? Ein Mensch, der 1898 den russischen Arbeitern die Idee der sozialen Revolution predigte, erzieht jetzt du jungen Reaktionäre, denen selbst Herr Mereschkowski als extremer „Spalter und Feind des Lebens“ erscheint. Das ist doch die reinste Verführung. Aber auch diese Verführung ist historisch fest begründet: so jämmerlich und so nichtig sind die politischen Parteien der Besitzenden, dass sie sich die Ideologie für den Liberalismus von den Renegaten der Sozialdemokratie und die Ideologie für die Reaktion von den Renegaten des Liberalismus liefern lassen müssen.

Kiewskaja Mysl, 19. Februar 1914

1 Anspielung auf einen alten russischen Volksglauben, nach dem die Welt auf drei Walfischen ruht.

2 „Prjamoj put“ – „Gerader Weg“, Zeitschrift

3 „Tschornaja Sotnja“ = „Schwarze Hundertschaft“, eine erzreaktionäre antisemitische Organisation der „wahrhaft russischen Menschen". Ihr geistiger Führer war der Duma-Abgeordnete Purischkewitsch.

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