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Leo Trotzki 19140209 Tschukowski

Leo Trotzki: Tschukowski

[Nach Literatur und Revolution. Berlin 1968, S. 305-316, s. auch den kompletten russischen Text]

Herr Tschukowski beendet seinen Aufsatz über die Futuristen, der so marktschreierisch und fratzenschneiderisch ist wie alles, was er schreibt, mit einem nach der Anlage des Aufsatzes unerwarteten Lobgesang auf die Demokratie. Er sagt – richtiger wäre stattdessen: er singt – von dem wunderbaren, einzigartigen Wort, von dem titanischen Wort, von der neuen Sonne an neuen Himmeln, von der Demokratie.

Als ich den Aufsatz des Herrn Tschukowski im letzten Almanach des offensichtlich dahinwelkenden „Schipownik“1 las, habe ich mich mit neuer Klarheit und mit einer – ich will es nicht verheimlichen – Freude, die sie auch Schadenfreude nennen können, wieder davon überzeugt, wie endgültig jene noch gar nicht ferne und doch schon so entfernt scheinende Epoche dahingegangen ist, als der sich in aller Öffentlichkeit kratzende Rosanow für einen genialen Philosophen gehalten wurde, Struwe seine „Wegzeichen“ für die Entwicklung der Gesellschaft setzte, Tschukowski, der Rosanow Blicke des heimlichen Einverständnisses zuwarf, die Bewegung der Literatur dirigierte, während „Schipownik“ die Lorbeeren erntete oder wenigstens deren kapitalistisches Äquivalent. Eine hässliche Zeit, der Teufel soll sie holen, eine gemeine Zeit!

Hatte diese Zeit wenigstens Geschmack? Vielleicht ja, aber es war eine Art zweitrangiger Geschmack, der sich auf Kleinigkeiten, auf Ausdrücke, auf Lautverbindungen beschränkte, ein unsicherer und brüchiger Geschmack, der einer synthetischen Zusammenfassung entbehrte.

Der geniale Philosoph“ jener Zeit endete übel: selbst aus ziemlich tolerante Häusern jagte man ihn mit dem Besen davon: als gar zu niedrig hat er sich erwiesen. Und der „führende“ Literaturkritiker, Herr Tschukowski, betet jetzt die „neue Sonne an neuen Himmeln“, die Demokratie an. Aber nicht retten kann ihn sein Gebet, weil es nicht aus der Seele kommt, sondern aus einem oberflächlichen Gefühl, und aus dem Aufsatz wird erkennbar, dass sein Flehen um Demokratie nur der Schlussakkord seines Referates ist, den er mit Absicht bis zum Aktschluss aufgehoben hat, um zusätzlichen Beifall zu ernten.

Ich habe zwei Büchlein Tschukowskis durchgeblättert, die mir zufällig in die Hände geraten waren: „Von Tschechow bis zu unseren Tagen“ und „kritische Erzählungen“, und obwohl ich sie seinerzeit gelesen habe, konnte ich es jetzt abermals nicht fassen: soll das wirklich „führende“ Kritik sein? Sind diese Büchlein tatsächlich ernst genommen worden und in mehreren Auflagen erschienen? Ja, man hat sie ernst genommen und gekauft. Der Deckel passt halt auf den Topf.2

Noch nie, ganz entschieden niemals hat auf dem Posten eines „verantwortlichen“ Kritikers ein so ungebildeter Mensch gestanden wie Herr Tschukowski. Er ist in so hohem Maße theoretisch unzurechnungsfähig, dass er sich auch nicht im Entferntesten den Umfang seiner Unwissenheit vorstellen kann: er verfügt nicht nur auf seinem eigenen Gebiet über keinerlei Kenntnisse, sondern ihm fehlt vor allem jedes methodische Denken, und gerade die Methode des Denkens ist es, die den Menschen zum Gebildeten macht. Tschukowski hat allerdings einmal erklärt – ebenso unerwartet wie jetzt hinsichtlich der Sonne der Demokratie – dass er „bis zum i-Tüpfelchen die Methode des historischen Materialismus akzeptiere". Aber lesen sie weiter „Tschechow und Gorki haben sich als Erscheinungen des gegenwärtigen Lebens in der Illusion des freien Willens realisiert und erst als sie in die Vergangenheit eingegangen waren, konnten sie der Kausalitätskategorie unterworfen werden". Deshalb ist die „sozial-genetische“ Methode des Marxismus bei ihnen nicht anwendbar. Dies hat ein Kritiker erster Klasse geschrieben und keineswegs etwa ein Schüler der ersten Klasse. Das läuft darauf hinaus, dass man gegenüber den Erscheinungen des täglichen Lebens, nicht nur bei den literarischen, sondern auch bei den politischen, eine kapitalistische Methode nicht anwenden darf, denn sie alle, um in der Gymnasiastensprache Tschukowskis zu reden, „realisieren sich in der Illusion des freien Willens". Man muss sie vorher „abtreten lassen". Was bedeutet das? Nichts. „In die Vergangenheit abtreten“ – von wem wird eigentlich gesprochen: von Gorki oder von dessen Werken? Denn offensichtlich kann ein Werk erst dann Gegenstände einer kritischen Untersuchung werden, wenn es „in der Illusion des freien Willens“ geschrieben wurde, das heißt, nachdem es „in die Vergangenheit abgetreten“ ist. Oder muss man Herrn Tschukowski in dem Sinne verstehen, dass der sozialkritische Standpunkt nur gegenüber denjenigen Autoren anwendbar ist, denen es schon von allein gelungen ist „abzutreten“, das heißt, ausschließlich gegenüber den Toten, die sich radikal von der Illusion des freien Willens, wie übrigens auch von allen anderen Illusionen freigemacht haben. … Diese wenigen Zeilen, in denen Marxismus, freier Wille und Kausalitätskategorie in so junkerhafter Unbeschwertheit mit den Schädeln aufeinanderprallen, zeigen das volle Maß theoretischer Unbedarftheit des Herrn Tschukowski.

Die unmittelbare ästhetische Intuition ist eine wunderbare Sache, wenn sie echt und nicht vorgetäuscht ist. Aber ein Kunstkritiker braucht, wie dem auch sei, Methode. Ohne Methode an die zeitgenössische Literatur heranzugehen, ist etwa dasselbe, wie wenn man versucht, ein Haus in der Stadt mit bloßen Händen zu erbauen. Herr Tschukowski, der sich auf dem Gebiet der Literaturkritik so gerne als „begabter Junge“ aufspielt, führt in methodologischem Sinn eine rein parasitäre Existenz. Er hat ständig in reichlichem Maße die Marxisten plagiiert – in der Frage der Rolle der Stadt, der Herrenklasse und des Kleinbürgertums oder des Schicksals der Intelligenzler. Da er aber dies alles aus dem lebendigen theoretischen Gewebe herausgerissen hat, verwandelten sich bei ihm die sozialen Verallgemeinerungen in ein ziemlich hilfloses Produkt seiner eigenen Phantasie.

Die Intelligenz ist tot“, verkündete er im Jahre 1908, „und niemand ahnt etwas von ihrem Tode“, – niemand! Aber ich, Tschukowski, „nehme es auf mich, dieses durch objektive Tatsachen zu beweisen". Aber das, was er „beweisen“ will, mit „objektiven“, von den Marxisten entlehnten „Tatsachen“ – das heißt jene sozial-psychische Umwandlung, die die Intelligenzler in den Nachrevolutionsjahren durchgemacht haben, war neben Tschukowski nicht nur von manch anderem erkannt worden, sondern war bereits in Zeiten vorausgesagt als Herr Tschukowski noch nicht einmal geplant war. Die Stirn in Denkerfalten gelegt, erzählte Herr Tschukowski in Bezug auf Balmont, dass „das Absterben des Dorfes sich für Russland vollzogen habe als es unwiderruflich das Gebiet der verarbeitenden Industrie betreten hatte". Hier wird die Differenzierung des Dorfes aus irgendeinem Grund als „Absterben“ und der Kapitalismus als irgendein „Gebiet der verarbeitenden Industrie bezeichnet, wobei zuerst das Dorf abstirbt und dann das Gebiet der „verarbeitenden Industrie“ betreten wird – ganz wie einer Sammlung von Kuriositäten entnommen. Und als Krönung alles dessen wird aus diesem auf unsicheren Füßen stehenden kausalen Zusammenhang „sozialgenetisch“ nur dazu noch ohne alle Umschweife der Lyriker Balmont ausgeschaltet, obwohl er, wie es scheinen könnte, noch gar nicht „abgetreten“ ist, sondern fortfährt, sich „in der Illusion des freien Willens zu realisieren". Nachdem Tschukowski irgendwo irgendwas über die Ideologie des Lumpenproletariats herausgelesen hat, zweifelt er nicht im Geringsten daran, dass es sich hierbei um das Industrieproletariat, um den „vierten Stand“ handelt während das Wort Lumpen hier nur der künstlerischen Wirkung halber hinzu gefügt ist, denn wer wüsste noch nicht, dass der arbeitende Mensch keinen Smoking trägt, sondern Lumpen! Tschukowski verwechselt den Vagabunden mit dem Proletarier, und auf der Grundlage dieser Verwechslung zeichnet er in aller Gemütsruhe seine kritischen Arabesken.

Indem Tschukowski die materialistische Methode – und zwar „bis aufs i-Tüpfelchen“ anerkennt, schließt er sich zur selben Zeit, ohne die Feder zu wechseln, und ebenfalls bis aufs i-Tüpfelchen, dem verunglimpfenden Art des Herrn Filosofow über den Marxismus an, den er als eine dumpfe, selbstgefällige bürgerliche Maske bezeichnet, die man über „das heilige Antlitz des Proletariats“ gestülpt habe. Warum „Antlitz“, warum „heilig“ (was für eine scheinheilige Geschmacklosigkeit strömen diese Herren doch aus!), warum und wie es gelungen ist, dem Proletariat die stumpfsinnige Maske des Marxismus überzustülpen, das sind alles Fragen, deren Beantwortung man von Tschukowski nicht erwarten darf. Wenn er aber die Methode des Marxismus, zudem bis aufs i-Tüpfelchen, übernimmt, wie konnte er dann die „wundervolle Antwort“ des Herrn Filossofow gutheißen? Und wenn er, wie dieser scheinheilige Weise den Marxismus für eine stumpfsinnige bürgerliche Maske hält, wie kann er dann den Marxisten sagen: „wir haben ein und dieselbe Methode“? Man braucht sich gar nicht zu wundern: er sagt es eben – und damit basta!

In allen seinen Büchern gibt es wohl nur ein einziges „gelehrtes“ Darwinzitat, und selbst dieses ist bedeutungslos – nur so, als flüchtiger Vergleich. Aber diesem einzigen Zitat ist eine viereinhalbzeilige Angabe des englischen Originaltitels in Klammern hinzugefügt. Armer talentierter Bursche

Die Geschichte des Begriffes „Kleinbürgertum“ in der russischen Literatur zu schreiben, bedeutet, die Geschichte einiger Jahrzehnte der russischen Intelligenzler zu schreiben. Aber, wenn vor Zeiten durch diesen sozial-historischen Begriff eine ideelle Grenze zwischen zwei Intelligenzlergruppen verlief, die später auf verschiedenen Seiten der Klassengrenze hätten erscheinen müssen, so ist in den letzten Jahren nicht ein einziger talentierter Bursche übriggeblieben, der diesem endgültig ausgehöhlten Begriff nicht auf diese oder jene Art seine eigene geistige Armut angepasst hätte. Es ist klar, dass der Begriff „Kleinbürgertum“ eigens zur Rettung Tschukowskis geschaffen war, übrigens auch zu seinem Untergang …

Um uns Tschechow zu erklären, erzählt Tschukowski, wie er „in der Gesellschaft der Kleinbürger auftauchte“ und wie die Gesellschaft aus Ekel vor dem Kleinbürger begann, ihm ständig entgegenzuwirken (jawohl, stellen Sie sich das mal vor!) und wie Tschechow gerade diese Haltung ausgedrückt hat. Aber, was war denn das für eine „anti-kleinbürgerliche, Gesellschaft in den achtziger Jahren? Aus wem bestand sie? Was waren das für Handlungen, mit denen sie dem Kleinbürger „entgegenwirkte“? Wer gibt die Antwort? Wer die Erklärung? Nun, belassen wir es einmal dabei, betrachten wir einen Augenblick diese Bagatellen als tatsächlich gegeben … Was war denn eigentlich am Kleinbürger, was die russische „Gesellschaft der achtziger Jahre“ so abstieß? Die Antwort lautet: sein Utilitarismus. Tschechow „hat das tiefste und urewige(!) Wesen der kleinbürgerlichen Kultur untergraben: den Utilitarismus". Es erweist sich, dass die kleinbürgerliche (bourgeoise) Kultur nicht die Kultur einer bestimmten historischen Epoche und einer bestimmten Klasse war, sondern dass sie ein „urewiges Wesen“ besitzt. Eine bedauernswerte „sozial-ethische Methode“, die vom talentierten Burschen bis aufs i-Tüpfelchen übernommen wurde! Aber lassen wir auch das gelten! Was ist Utilitarismus? Wenn er das Prinzip der Einsparung von Kräften ist, dann liegt er der ganzen Menschheitskultur zugrunde, nicht nur der kleinbürgerlichen Kultur. Aber in welchem Sinne konnte sich Tschechow gegen dieses Prinzip auflehnen, wenn es doch selbst dem Kunstschaffen zugrunde liegt? Oder ist der Utilitarismus einfach nur die kleinbürgerliche Habsucht, die Jagd nach dem Profit? Dann hat Herr Tschukowski eine allzu eng-krämerhafte Vorstellung vom Kleinbürgertum Das wäre übrigens noch halb so schlimm. Aber wie entschließt er sich bei einer derartigen Auffassung vom Kleinbürgertum, Gorki zu den Kleinbürgern zu rechnen? Er tut es aber.

Die große soziale Bedeutung Tschechows“ liegt darin, dass er die Gesellschaft zum Hass gegen das Kleinbürgertum erzogen hat. Dabei ist das wichtigste Merkmal der Literatur nach Tschechow – ebenfalls nach Tschukowski – ihre Kleinbürgerlichkeit. Schon Gorki ist „ein Kleinbürger vom Scheitel bis zur Sohle“. Wo bleibt dann aber mit Gottes Hilfe die große soziale Bedeutung Tschechows? Kaum fangen wir an, uns von dieser logischen Ausschweifung zu erholen, da stürzt eine neue, überaus schwere Prüfung über uns herein. Es stellt sich heraus, dass Andrejew am vollkommensten in sich den Geist der Literatur nach Tschechow verkörpert und – man höre! – „wenn andere dem Kleinbürgertum gegenüber feindlich eingestellt sind, so ist Andrejew dessen bösester Feind". Schwarz auf weiß. Was charakterisiert denn eigentlich die Literatur nach Tschechow: die Kleinbürgerlichkeit oder die Anti-Kleinbürgerlichkeit? Nun – das kommt ganz darauf an, welche Seite sie bei Tschukowski aufschlagen: eine mit gerader oder eine mit ungerader Zahl. Das glauben Sie nicht? Ja, in der Tat, es ist unglaublich. Aber sozusagen eine Tatsache!

Tschukowski kämpft gegen das Vorurteil (und äußert dabei platteste Banalitäten, er wähnt sich immer paradox), als sei „der Individualismus ein sicheres Merkmal des Anti-Kleinbürgertums". Und umgekehrt: „Der Individualismus erscheint zur Zeit gerade als die dem russischen(!) Kleinbürgertum gemäßeste Form". Herrgott! Ist denn nicht die ganze bürgerliche Kultur auf dem Prinzip des Individualismus gewachsen? War nicht die kleinbürgerliche lutherische Reformation eine Individualisierung des Christentums? Hat nicht die große kleinbürgerliche Revolution die Rechte des Menschen und Bürgers verkündet? Ist nicht der Begriff Persönlichkeit in seinem heutigen Sinn ein Produkt der bürgerlichen Kultur?

Doch kaum haben wir uns mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass unsere Literatur nach Tschechow kleinbürgerlich und individualistisch ist, so erfahren wir plötzlich, dass das kennzeichnendste Merkmal unserer neuen Literatur – was denken sie wohl? – „das Vergessen des Individualismus“ ist.

Somit: 1. Tschechow, der das Wesen des Kleinbürgertums untergraben hat, ist der Stammvater der neuesten russischen Literatur. 2. Die neueste russische Literatur ist von Kleinbürgerlichkeit ganz und gar durchdrungen. 3. Andrejew, der das Wesen der neuesten russischen Literatur am vollkommensten ausdrückt, ist durch und durch von Feindseligkeit gegenüber dem Kleinbürgertum erfüllt. 4. Das Hauptmerkmal des („gegenwärtigen russischen“) Kleinbürgertums ist der Individualismus. 5. Unsere kleinbürgerliche Literatur nach Tschechow zeichnet sich vor allem durch das vergessen des Individualismus aus.

Da lachen doch die Hühner! Bedauernswerter talentierter Bursche …

Aber warten sie ab! Das sind erst die Blüten. Die Früchtchen kommen noch. Hören sie sich mal an, wie Tschukowski – „die proletarische Ideologie“ – vor Nachahmungen schützt.

Anatoli Kamenski (der heute, scheint mir, nicht mehr gelesen wird) „zieht seine Heldinnen aus, schickt seine Helden in fremde Wohnungen und träumt von einem Bordell mit Stiftsfräulein". Mit einem Wort: „wenn man hinhört, was Herr Kamenski sagt, kommt es einem (wem? wem?) vor, als hätte es nie jemanden gegeben, der die kleinbürgerliche Kultur derart abgelehnt hätte". Buchstäblich! Aber: da Herr Kamenski von „dem Haus, mit „außerordentlicher Vorsicht“ träumt, da sein Stil „durchdacht-berechnend“ ist – so kommt unser scharfsinniger Kritiker sofort dahinter, dass das schaffen Kamenskis gerade im Schoße der kleinbürgerlichen Kultur begonnen hat und dass Herr Kamenski – man stelle sich nur vor – ein „Quasiproletarier“ ist.

Wenn Leda, die vergessen hatte sich anzuziehen, Äpfel an Männer verteilt, dann erklärt der hierbei anwesende Tschukowski, dass dies zwar wie „Individualismus“ aussehe, trotzdem aber nicht die echte „proletarische Ideologie“ sei. Wirklich? Ja, es ist nicht die echte, weil Leda ihre Nacktheit mit viel zu langen, langweiligen und daher kleinbürgerlichen Kommentaren erklärt. Ja, wenn es ohne Kommentare ginge… Sind ihnen jetzt die Vorteile der neuen kritischen Methode klar? Eine nackte Dame verteilt an die Gäste Obst – und natürlich sind sich alle darüber einig: da haben wir sie, die Idee des vierten Standes in natura. Kommentar überflüssig. Aber es kam Tschukowski, fühlte den Puls des Stils und stellte die Diagnose: fade, riecht nach Mittelstand Der Leser jedoch schämt sich irgendwie, nicht seinetwegen oder Ledas oder gar ihres armen Autors wegen, sondern wegen des scharfsinnigen Kritikers, der Ledas Kleinbürgerlichkeit unbestechlich bloßgestellt hat. Von Sanin wollen wir gar nicht erst reden: es genügt zu sagen, dass Herr Tschukowski auch ihm die Toga des Sozialrevolutionärs herunter gerissen hat.

Man kann höchstens noch in der Zeitung „Nowoje Wremja“ in den von fünfzigjährigem Gebelfer heiser gewordenen Feuilletons Burenins, ein so erbarmungsloses Durcheinander von Sozialismus, Landstreichertum, Kleinbürgertum, Anarchismus, Individualismus finden wie in den Aufsätzen von Tschukowski, dem führenden Kritiker dieser Zeit. Schämen Sie sich, mein Herr! Sie sollten lieber selbst gute, von klugen Leuten geschriebene Bücher lesen, bevor sie in nacktem Zustand vor die Öffentlichkeit treten. Das ist doch anstößig. Sie sind doch Kritiker, ein Führer sozusagen und nicht irgendeine Leda! Bei ihnen geht es nicht ohne Kommentare

Was für ein übler Witz war das geräuschvolle Eintreten des Herrn Tschaikowsky für die bürgerliche Kultur gegen den Ansturm des Hottentotten – des Massenlesers der Pinkerton-Literatur und des Besuchers kinematografischer Melodramen.

Man beschimpft das Kleinbürgertum, entehrt die Bourgeoisie, klagte Tschukowski, aber das Kleinbürgertum hat doch Darwin, Mill und Spencer hervorgebracht, es hat doch „unsere menschliche Kultur so geliebt“, während der kompakte und apokalyptische Hottentotte in der ganzen Welt alles dies erdrosseln und zertrampeln wird! Und in einem vorgetäuschten Anfall jener Hanswursterei, mit der er gewöhnlich seine geistige Blöße bedeckt, pflegte Tschukowski, sich an das Kleinbürgertum wendend, auszurufen: „Oh, kehr zurück! Du warst so schön!“

Müßig, hier nach einem sozialen Sinn zu suchen. Warum soll dieses Kleinbürgertum zurückkehren? Von wo? Ist denn dessen Zeit vorbei? Und was soll man sich unter diesem Hottentotten vorstellen? Es stellt sich heraus, dass es die städtische Masse ist. Sie also rückt als kompakte Mauer gegen die Kultur vor… welch grob-reaktionäre Verleumdung! Wenn die erstmals zum Leben erwachten unteren Volksschichten gierig falsche Romantik und Margarine-Sentimentalität verschlingen und die ästhetische Evolution, die die besitzenden Klassen in den vorhergehenden Jahrzehnten und Jahrhunderten in üppigen Formen durchgemacht haben, in gekürzter, armseliger und abgewirtschafteter Form durchmachen müssen, so ist dies kein Ansturm von Hottentotten gegen die Kultur, sondern es sind die ersten Schritte der unteren Volksschichten zur Eingliederung in die Kultur. Dies ist keine Bedrohung, sondern eine Festigung der Kultur. Hier gibt es keine Gefahr der Rückkehr von Shakespeare zu Pinkerton, vielmehr handelt es sich hier um einen Aufstieg aus dem Unbewussten – über Pinkerton – zu Shakespeare. Hinter dem Hang zum Detektivheldentum und der Kino-Melodramatik verbirgt sich ein sehr tiefer, wenn auch noch halbblinder sozialer Idealismus. Morgen wird er sehend werden. Pinkerton wird überwunden sein, und für Millionen, die zum ersten Male zu bewusstem geistigem Leben erwacht sind, wird das Fundament für eine unvergleichlich viel breitere und menschlichere Kunst als die unsere gelegt werden … Aber was gehen Tschukowski die großen Probleme, die aufeinanderfolge von Kulturepochen und die historischen Perspektiven an! …

Auch das ist noch nicht alles. Nachdem er das Kleinbürgertum so gepriesen hat und versucht hat, jedermann wegen des Hottentotten-Ansturms in Todesangst zu versetzen („eine Rettung gibt es nicht – wir alle sind Wasserleichen!“), wirft er plötzlich auf den letzten zwanzig Zeilen einen Rettungsring aus … den der „proletarischen Ideologie". Und mit schmeichlerischer und zugleich böser Grimasse endet er: „ich glaube fest daran, und möge Gott meinem Unglauben gnädig sein". Und dieses Gebet für die proletarische Ideologie ist so abgeschmackt, unmotiviert und mit vorbedacht „an den Aktschluss“ gesetzt, dass man durch die Züge des talentierten Burschen hindurch ganz deutlich die parasitäre Physiognomie des Schmarotzers an fremden Ideologien, des „Foma Fomitsch Opiskin der Kritik“ erkennt. Der charakteristischste Zug an Tschukowski ist sein Hass auf Gorki. Tschukowski brüstet sich damit, dass die Kritiker (das heißt er selbst) jetzt bei uns nicht „eine Idee durchführen“, sondern „ein Buch tatsächlich kritisieren“ und dass vor dem Angesicht Tschukowskis wie vor dem Apolls alle Ideen und Themen gleich sind: die Kunst kennt nur die Form. Aber das redet er nur so daher. In Wirklichkeit hat Herr Tschukowski am allerwenigsten ästhetische Unvoreingenommenheit. Seine Sympathien und Antipathien verteilte er stets in höchstem Grade tendenziös. Er kritisierte nicht einfach, nein, er verstand es immer, daneben auch seine „Idee“ einzuflechten: kämpfte für die Rechte der Ideenlosigkeit, erleichterte einer ganzen Generation von Intelligenzlern die Arbeit an der Liquidation moralischer Verpflichtungen – darin besteht ja seine ganze Bedeutung. Er verstand, zu verfolgen, nicht etwa vernichtend, denn seine Schärfe hat noch niemandem tiefe Wunden geschlagen, aber mit einer Hartnäckigkeit, die, wie es scheinen könnte, sehr wenig seiner vom Wind getriebenen Beweglichkeit entsprach. Seine Schläge richtete er hauptsächlich gegen den einen Hauptfeind, der für seine Ästhetik unerträglich war: gegen jene Ideologie, an die er (kurz vor Aktschluss) „glaubt“, die er aber gemeinsam mit Filosofow eine stumpfe, der heiligen Antlitz übergestülpte Maske nennt. Mit offenem Visier gegen eine Weltbetrachtung aufzutreten hat er nie gewagt: auf dem Boden allgemeiner Ideen, Methoden, Verallgemeinerungen und logischer Argumente fühlte er seine Schwäche und Lahmheit allzu deutlich; hier beschränkt er sich auf Gekicher und auf Nadelstiche Aber er fand für seine Vorführung eine große Zielscheibe: Maxim Gorki, der ihm verhasst war als Sozialist und verständlich als Künstler.

Als die Wellen der Sintflut zurückwichen und verschiedene Leute mit gekränkter Eigenliebe auf dem vereinsamten Ufer hinreichend erkennbar wurden, entschieden sie, dass nunmehr die Geschichte ein neues, ein echtes Kapitel beginnen würde und dass jeder Absatz mit ihren Initialen beginnen würde. Neben vielem anderen wurde damals mit einem Seufzer der Erleichterung erklärt: „Mit Gorki ist es aus". Herr Tschukowski aber, der damals besonders talentiert Rad schlug, stimmte sofort mit ein: was? mit Gorki ist es aus? Das kann nicht sein. Er „hat ja nie angefangen". Das heißt, es hat niemals einen Gorki gegeben, sondern nur ein literarisches Missverständnis Gorki – ein Kämpfer? Nichts dergleichen. Er ist ein höchst sorgfältiger „Sohn eines Konsistorialbeamten“ und „jetzt ein Kandidat für de Justizdienst". Und nach einigen Jahren: er ist ja ein General Pfuel österreichischer Schule, ein blind geborener Fabrikant von Abstraktionen. Der Anlage nach sollte das sehr boshaft sein, aber sowohl in der Anlage als auch in der Ausführung war etwas echt smerdjakowsches3. „Alle seine Schöpfungen sind wie geometrische Figuren … haben keine Farbe, sind nur Linien". Und nach ein, zwei Jahren: „Gorki ist ein gewaltiges dekoratives Talent – er verstand es immer, alle seine Sünden mit den grellsten Flicken zu verbergen.“ Keine Farben, nur Geometrie – dekoratives Talent und grelle Farben: ist das nicht einerlei – Hauptsache, man kann den Künstler für erledigt erklären.

Wenn wir nicht sagen, mit Gorki sei es aus, so nur, weil er nach unseren Begriffen niemals angefangen hat". Und nach weiteren ein, zwei Jahren: „man sagt, mit Gorki sei es aus, und dabei ist sein letzter Roman („Okurow“) wesentlich besser und ernster als die voraufgegangenen.“ – Wie ist das möglich? Dieses Lob war, wie wir gleich sehen werden, notwendig, um es gegen Gorki zu richten. Es ist gegen den Glauben des Dichters gerichtet. Tschukowski musste zeigen, dass Gorki im Grunde genommen keinen Glauben hat, sondern Abstraktionen wechselt. Zuerst hat Gorki den Individualismus „besungen“, dann hat er gegen die Persönlichkeit den Bannfluch geschleudert und die Rettung im Kollektiv erblickt, in der beseelten Masse („die Beichte“) und anschließend hat er angeblich die Masse und seinen Glauben an sie geschmäht („Okurow“). Für dieses letztere wird ihm eine ästhetische Amnestie versprochen.

Tatsächlich aber gibt es zwischen dem Individualismus und dem Kollektivismus Gorkis einen tiefen inneren Zusammenhang, und Gorki wäre sich selbst untreu geworden, wenn er diese Evolution nicht durchlaufen hätte, in der oberflächliche Menschen einzig formale Widersprüche erblicken. Gorki erhob das Banner des heroischen Individualismus, als sich im Lande der Befreiungs-Prozess der Persönlichkeit aus den Tiefen der Rückständigkeit vollzog, die nicht allein im Bauern, sondern auch im Arbeiter und im Intelligenzler noch als schreckliches Beharrungsvermögen steckte. Der Individualismus gegen die „heilige“ Unpersönlichkeit, gegen die Traditionen und ererbten Autoritäten war eine ungeheure fortschrittliche Kraft, und Gorki hat sich nicht psychologisch dem Volk gegenübergestellt und sich ihm nicht egoistisch entfremdet – im Gegenteil – er hat in seinem Werk dem in den Volksmassen erwachten Bedürfnis nach persönlicher Selbstbestätigung lediglich einen romantisch gefärbten Ausdruck verliehen. Aber in dem Maße, in dem der Individualismus in bestimmten Gesellschaftskreisen nicht nur gegen die Rückständigkeit gerichtet, sondern auch allgemein antisozial egoistisch-beschränkt und bürgerlich-egoistisch wurde, wandte sich Gorki voller Hass von ihm ab – mit seiner Seele blieb er bei der Volkspersönlichkeit, die die alten geistigen Fesseln von sich abwarf, um sich frei und bewusst in den Rahmen eines neuer kollektiven Schaffens einzufügen. So scharf auch der Bruch bei Gorki vom Landstreicher-Nietzscheanischen Individualismus zum Kollektivismus scheinen mochte, die psychologische Grundlage ist hier die gleiche.

In „Okurow“ zeichnet Gorki die furchtbare russische Rückständigkeit auf dem Lande, die Schichten des Karatajewtums, der sozialen Barbarei. Gorki sucht mit den Methoden, die einem Künstler zur Verfügung stehen, die Ursache für das Scheitern der großen Erwartungen, an deren schließlichem Triumph er nicht im Geringsten zweifelt. Hier gibt es weder Buße noch Abschwören, sondern einen moralischen und künstlerischen Mut, der seinen Glauben vor den Prüfungen nicht verheimlicht, sondern ihnen entgegen geht. Tschukowski dagegen steckt bei dieser Gelegenheit zwei Finger in den Mund und pfeift gellend und grölt: Gorki „brandmarkt seine jüngste Betätigung!“ – und versucht hinter dem Rücken des Dichters, die ganze revolutionäre Bewegung als kleinbürgerlich-rowdyhaft zu entehren …

Ekelhaft sind in ihrer inneren Verlogenheit diese schadenfroh-gönnerhaften Seiten, die er dem vermeintlichen gorkischen Abschwören widmet. Hier offenbart sich der ganze Tschukowski und seine ganze Zeit! Eine hässliche Zeit, der Teufel soll sie holen, eine gemeine Zeit!

Kiewskaja Mysl, [18. Mai 1912 und] 9. Februar 1914

1 „Schipownik“ = – eine Zeitschrift. Bezeichnung abgeleitet von „Schip“ = der Dorn, der Stachel – schipownik = Heckenrose.

2 Eine wörtlich nicht übersetzbare volkstümliche Redewendung: „die Mütze passte Senka“.

3 Smerdjakow – Gestalt aus Dostojewski» Roman „Die Bruder Karamasow“

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