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Leo Trotzki 19171214 An die arbeitenden, unterdrückten und verblutenden Völker Europas

Leo Trotzki: An die arbeitenden, unterdrückten und verblutenden Völker Europas

[Nach Die Aktion, 9. Jahrgang 1919, Heft 35/36, 6. September 1919, Spalte 601-604

Als der Waffenstillstand mit Deutschland unterzeichnet war (Dezember 1917!), wandte sich der Genosse Trotzki mit folgendem Aufruf an das europäische Proletariat. Die aufmerksame Durchsicht dieses Aufrufes zeigt, wie international und sozialistisch die ganze Politik der russischen Kommunisten gewesen ist im Gegensatz zu den Sozialpatrioten, die jetzt mit dem Aufwande aller Gewaltmittel bemüht sind, die von den Arbeitermassen begonnene revolutionäre Bewegung im Keime zu ersticken. Und nun wagen diese Wichte noch zu jammern, die Entente-Imperialisten hätten anstatt eines „Verständigungsfriedens" den Diktat- und Gewaltfrieden durchgedrückt. Jetzt wagen diese Totengräber der II. Internationale darüber zu klagen, das Proletariat der Ententeländer zeige zu wenig Entschlossenheit und Kampfesmut. Nichts anderes hat die Revolution in den Ententeländern so geschwächt, als das nationalistische Treiben der Scheidemänner, als ihr Abwürgen der proletarischen Revolution in Deutschland. – Redaktion der Aktion]

Der Waffenstillstand in Brest-Litowsk ist unterzeichnet. Auf die Dauer von 28 Tagen sind die Kriegsoperationen an der Ostfront eingestellt. Allein schon diese Tatsache ist eine kolossale Errungenschaft für die Menschheit. Nach 42 Monaten ununterbrochenen Schlachtens, aus dem kein Ausweg zu sehen war, eröffnete die Revolution der Arbeiter und Bauern in Russland den Weg zum Frieden.

Wir veröffentlichten die Geheimverträge. In den nächsten Tagen werden wir mit dieser Veröffentlichung fortfahren. Wir erklärten, dass diese Verträge in keiner Weise für die Politik der Räteregierung bindend sind. Wir machten allen Völkern den Vorschlag, den Weg der offenen Verständigung einzuschlagen auf der Grundlage der Anerkennung des Rechtes eines jeden Volkes, mag es groß oder klein, fortschrittlich oder rückständig sein, über seine Geschicke selbst zu bestimmen. Wir haben kein Hehl daraus gemacht, dass wir die heutigen kapitalistischen Regierungen nicht für fähig halten,' einen demokratischen Frieden zu schließen. Nur der revolutionäre Kampf der Arbeitermassen gegen die heutigen Regierungen vermag Europa einem derartigen Frieden zu nähern. Eine volle Verwirklichung eines solchen Friedens wird nur durch eine siegreiche proletarische Revolution in allen kapitalistischen Ländern gesichert.

Der Kampf um den wirklich demokratischen Völkerfrieden steht erst bevor. Die erste Etappe dieses Kampfes findet überall mit der Ausnahme Russlands die alten monarchischen und kapitalistischen Regierungen am Ruder, auf denen die Verantwortung für den jetzigen Krieg lastet und die ihren betrogenen Völkern noch keine Rechenschaft abgelegt haben für das vergossene Blut und das vergeudete Gut. Wir sind gezwungen, in Verhandlungen mit den momentan noch bestehenden Regierungen einzutreten. Wie auch andererseits die monarchischen und reaktionären Regierungen der Mittelmächte sich gezwungen sehen, mit Vertretern der Sowjetregierung zu verhandeln, denn das russische Volk hat sie vor die Tatsache einer Arbeiter- und Bauernregierung in Russland gestellt. In den Friedensverhandlungen stellt sich die Räteregierung eine doppelte Aufgabe; erstens, die möglichst baldigste Einstellung des schändlichen und verbrecherischen Mordens herbeizuführen, das Europa zugrunde richtet; zweitens, mit allen uns zugänglichen Mitteln der Arbeiterklasse aller Länder zu helfen, das Joch des Kapitals abzuwerfen und zwecks eines demokratischen Friedens und eines sozialistischen Umbaus Europas und der gesamten Menschheit die Staatsgewalt ergreifen zu helfen.

Der Waffenstillstand an der Ostfront ist unterzeichnet. Aber an den anderen Fronten wird das Morden fortgesetzt. Die Friedensverhandlungen beginnen erst. Den Sozialisten aller Länder und vor allem den Sozialisten Deutschlands muss es klar sein, dass zwischen dem Friedensprogramm der russischen Arbeiter und Bauern und dem Programm der Kapitalisten, der Grundbesitzer und der Generale ein unversöhnlicher Gegensatz besteht. Wenn nur diese beiden Programme gegeneinanderprallen würden, wäre ein Frieden ganz unmöglich, denn nicht dazu streifte das russische Volk das Joch der Monarchie und der Bourgeoisie seines eigenen Landes ab, um sich den Monarchen und Kapitalisten anderer Länder zu beugen. "Der Frieden kann nur in dem Fall beschleunigt, verwirklicht und gesichert werden, wenn auch seitens Deutschlands und seiner Verbündeten sich die entschiedene und wuchtige Stimme des arbeitenden Volkes erhebt. Die deutschen, österreichischen, bulgarischen und türkischen Arbeiter müssen dem imperialistischen Programm ihrer herrschenden Klassen ihr revolutionäres Programm der Verständigung und des Zusammenschlusses der arbeitenden und unterdrückten Klassen aller Länder aufzwingen.

Der Waffenstillstand ist nur an einer Front geschlossen worden … An der französischen, der italienischen und an allen anderen Fronten wird der Krieg fortgesetzt. Der Waffenstillstand bleibt unvollständig. Die kapitalistischen Regierungen haben Angst vor dem Frieden, denn sie werden ihren Völkern Rechenschaft ablegen müssen. Sie sind bestrebt, die Stunde ihres endgültigen Bankrotts hinausschieben. Ob die Völker einverstanden sind, das verbrecherische Treiben der Börsencliquen Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und der Vereinigten Staaten zu dulden? Hinter Phrasen von ewiger Gerechtigkeit und dem zukünftigen Völkerbund verbergen die kapitalistischen Herrscher dieser Länder niederträchtige und habsüchtige Ausbeutungspläne. Sie wollen keinen Waffenstillstand. Sie kämpfen gegen den Frieden. Ihr aber, Völker Europas, ihr aber, Proletarier Frankreichs, Italiens, Englands, Serbiens, Belgiens, ihr, unsere Brüder in Kampf und Leid, wollt ihr zusammen mit uns den Frieden, einen ehrlichen, demokratischen Völkerfrieden? Diejenigen, die euch sagen, ein solcher Frieden könne nur durch den Sieg gesichert werden, betrügen euch. Erstens waren sie während 42 Monaten nicht imstande, euch den Sieg zu bringen. Zweitens würde der Sieg, wenn ein solcher dem einen oder dem anderen Lande möglich sein sollte, nur neue Vergewaltigung von Schwachen durch Starke bedeuten und würde somit die Keime neuer Kriege in sich tragen.

Belgien, Serbien, Rumänien, Polen, Ukraine, Griechenland, Persien und Armenien können nicht durch die siegreichen Imperialisten eines der Koalitionen befreit werden, sondern nur durch die revolutionären Arbeiter aller kriegführenden und neutralen Staaten in ihrem siegreichen Kampfe gegen ihre eigenen Imperialisten.

Zu diesem Kampfe fordern wir euch auf, Arbeiter aller Länder. Einen anderen Weg gibt es nicht. Die herrschenden, ausbeutenden Klassen haben sich in diesem Kriege durch unzählige Verbrechen belastet. Diese Verbrechen schreien nach revolutionärer Vergeltung. Die arbeitende Menschheit würde sich selbst und ihre Zukunft verleugnen, wollte sie auch weiter das Joch der imperialistischen Bourgeoisie, ihres Militarismus, ihrer Regierungen und Diplomatie geduldig ertragen. Wir, der Rat der Volkskommissare, wir, die Beauftragten der russischen Arbeiter und Arbeiterinnen, der Bauern und Bauernfrauen, der Soldaten und Matrosen, der Witwen und der Waisen — wir fordern euch auf zu einem gemeinsamen Kampfe mit uns für sofortige Einstellung des Krieges an allen Fronten. Möge die Nachricht von dem in Brest-Litowsk unterzeichneten Waffenstillstände ein Sturmgeläute sein für die Soldaten und Arbeiter aller kriegführenden Länder. Nieder mit dem Krieg! Nieder mit den an diesem Kriege Schuldigen! Die Regierungen, die gegen den Frieden auftreten, müssen ebenso hinweggefegt werden, wie auch die Regierungen, die hinter ihren Friedensreden Vergewaltigungsabsichten verbergen. Die Arbeiter und Soldaten müssen die Entscheidung über Krieg und Frieden aus den verbrecherischen Händen der Bourgeoisie reißen und in ihre eigenen Hände nehmen. Wir haben das Recht, dies von euch zu fordern, denn wir haben es bei uns vollbracht. Dies ist der einzige Weg des Heils für euch und für uns. Schließt denn eure Reihen, Proletarier aller Länder, unter der Fahne des Friedens und der sozialen Revolution.

14. Dezember 1917.

L. Trotzki,

Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten.

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