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Leo Trotzki 19171220 An die werktätigen, unterdrückten und ausgebluteten Völker Europas

Leo Trotzki: An die werktätigen, unterdrückten und ausgebluteten

Völker Europas

[„Iswestija“ Nr. 244, 6./21 Dezember 1917. Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 3, часть 2. Москва-Ленинград, 1925]

Der Waffenstillstand in Brest-Litowsk ist unterzeichnet. An der Ostfront werden militärische Operationen für 28 Tage ausgesetzt.1 Diese Tatsache allein ist eine große Errungenschaft der Menschheit. Nach 42 Monaten andauerndem Gemetzel, aus dem es keinen Ausweg gab, eröffnete die Revolution der Arbeiter und Bauern in Russland den Weg zum Frieden.

Wir haben Geheimverträge veröffentlicht. In den kommenden Tagen werden wir diese Veröffentlichung fortsetzen. Wir stellten fest, dass diese Verträge die Politik der Sowjetmacht in keinem Fall binden. Wir haben allen Völkern den Weg einer offenen Übereinkunft vorgeschlagen auf der Grundlage der Anerkennung des Rechts jedes Volkes, groß oder klein, fortschrittlich oder rückständig, sein eigenes Schicksal frei zu bestimmen. Wir verhehlen niemandem, dass wir die gegenwärtigen kapitalistischen Regierungen nicht für fähig zu einem demokratischen Frieden halten. Nur der revolutionäre Kampf der arbeitenden Massen gegen die gegenwärtigen Regierungen kann Europa einem solchen Frieden näher bringen. Die vollständige Umsetzung wird nur durch eine siegreiche proletarische Revolution in allen kapitalistischen Ländern sichergestellt.

Der Rat der Volkskommissare, der Verhandlungen mit den gegenwärtigen Regierungen führt, die auf beiden Seiten von imperialistischen Tendenzen durchdrungen sind, weicht nicht eine Minute vom Weg der sozialen Revolution ab. Jetzt muss man für einen echten demokratischen Völkerfrieden kämpfen. Die erste Phase dieses Kampfes findet überall außer in Russland die alten monarchischen und kapitalistischen Regierungen, die für den gegenwärtigen Krieg verantwortlich sind und die von ihren getäuschten Völkern noch nicht für das vergossene Blut und den vergeudeten Reichtum zur Verantwortung gezogen worden sind. Wir sind gezwungen, Verhandlungen mit den noch bestehenden Regierungen aufzunehmen, andererseits sind die monarchistischen und reaktionären Regierungen der Mittelmächte gezwungen, mit Vertretern der Sowjetmacht zu verhandeln, weil das russische Volk sie vor der Tatsache der Arbeiter- und Bauernregierung in Russland gestellt hat. In den Friedensverhandlungen hat sich die Sowjetmacht eine doppelte Aufgabe gestellt: erstens, so bald wie möglich die Einstellung der schändlichen und verbrecherischen Gemetzels zu erreichen, das Europa zerstört; zweitens, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, der Arbeiterklasse aller Länder zu helfen, die Herrschaft des Kapitals zu stürzen und die Staatsmacht mit den Zielen eines demokratischen Friedens und des sozialistischen Wiederaufbaus Europas und der gesamten Menschheit zu ergreifen.

Der Waffenstillstand an der Ostfront ist unterzeichnet. Aber an den anderen Fronten geht das Gemetzel weiter. Friedensgespräche sind nur eröffnet. Den Sozialisten aller Länder und vor allem den Sozialisten Deutschlands muss klar sein, dass ein unversöhnlicher Widerspruch zwischen dem Friedensprogramm der russischen Arbeiter und Bauern und dem Programm der deutschen Kapitalisten, Gutsherren und Generale besteht. Wenn nur diese beiden Programme kollidierten, dann wäre der Frieden eindeutig unmöglich, weil das russische Volk die Monarchie und die Bourgeoisie ihres eigenen Landes nicht stürzte, um sich vor Monarchen und Kapitalisten anderer Länder zu beugen. Der Friede lässt sich nur näher bringen, umsetzen und sichern, wenn aus Deutschland und seinen Verbündeten die entschlossene und feste Stimme des werktätigen Volkes gehört wird. Die deutschen, österreichisch-ungarischen, bulgarischen und türkischen Arbeiter müssen dem Programm des Imperialismus ihrer herrschenden Klassen, ihr revolutionäres Programm der Vereinbarungen und der Zusammenarbeit zwischen den Werktätigen und den ausgebeuteten Klassen aller Länder zu entgegensetzen.

Der Waffenstillstand ist nur an einer Front abgeschlossen. Unsere Delegation erreichte nach langem Kampf bei den Waffenstillstandsbedingungen die Zustimmung der deutschen Regierung, Truppen nicht an andere Fronten zu verlegen. So haben die deutschen Regimenter, die sich zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee befinden, eine Ruhepause von dem blutigen Albtraum erhalten. Die rumänische Armee wurde auch gegen den Willen der rumänischen Regierung in den Waffenstillstand einbezogen. Aber an den französischen, italienischen und allen anderen Fronten geht der Krieg weiter. Der Waffenstillstand bleibt partiell. Die kapitalistischen Regierungen haben Angst vor dem Frieden, weil sie den Völkern Rechenschaft ablegen müssen. Sie versuchen, die Stunde ihres letzten Bankrotts zu verschieben. Sind die Völker bereit, geduldig die verbrecherische Arbeit der Börsencliquen Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und der Vereinigten Staaten zu dulden?

Unter den Phrasen über die ewige Gerechtigkeit und den zukünftigen Völkerbund verbergen die kapitalistischen Herrscher dieser Länder die niedrigen und eigennützigen Berechnungen der Ausbeuter. Sie wollen keinen Waffenstillstand. Sie kämpfen gegen den Frieden, aber ihr, die Völker Europas, ihr, die Proletarier Frankreichs, Italiens, Englands, Belgiens, Serbiens, ihr, unsere Brüder im Leiden und im Kampf wollt ihr mit uns Frieden, einen ehrlichen und demokratische Völkerfrieden? Diejenigen, die euch sagen, dass ein solcher Friede nur durch Sieg gesichert werden kann, täuschen euch. Erstens waren sie seit zweiundvierzig Monaten nicht in der Lage, euch einen Sieg zu bringen, und haben nicht bewiesen, was ihn bringen würde, wenn der Krieg noch viele Jahre andauerte. Zweitens würde der Sieg, wenn er für das eine oder andere Land möglich wäre, nur eine neue Gewalt der Starken über die Schwächeren bedeuten und somit die Saat neuer Kriege säen.

Belgien, Serbien, Rumänien, Polen, die Ukraine, Griechenland, Persien und Armenien befreien können nicht die siegreichen Imperialisten der einen oder anderen Koalition, sondern nur die revolutionären Arbeiter aller kriegführenden und neutralen Staaten in ihrem siegreichen Kampfe gegen ihre eigenen Imperialisten.

Zu diesem Kampf rufen wir euch, die Arbeiter aller Länder, auf. Einen anderen Weg gibt es nicht. Die herrschenden, ausbeutenden Klassen bedeckten sich in diesem Krieg mit unzähligen Verbrechen. Diese Verbrechen schreien nach revolutionärer Vergeltung. Die Werktätigen der Menschheit würden auf sich selbst und ihre Zukunft verzichten, wenn sie weiterhin das Joch der imperialistischen Bourgeoisie, ihres Militärs, ihrer Regierung, ihrer Diplomatie tragen würden.

Wir, der Rat der Volkskommissare, die wir von russischen Arbeitern, Bauern, Arbeiterinnen, Bäuerinnen, Soldaten, Matrosen, Witwen und Waisen bevollmächtigt sind, fordern euch auf, euch mit uns zusammenzuschließen, um den Krieg an allen Fronten sofort zu beenden. Mögen die Nachrichten über den in Brest-Litowsk unterzeichneten Waffenstillstand wie ein Alarmruf für Soldaten und Arbeiter aller kriegführenden Länder ertönen.

Nieder mit dem Krieg! Nieder mit den Schuldigen des Krieges! Regierungen, die sich dem Frieden widersetzen, müssen ebenso weggefegt werden wie Regierungen, die mit ihren Reden über den Frieden ihre Raubansprüche verbergen. Arbeiter und Soldaten müssen die Angelegenheit von Krieg und Frieden den verbrecherischen Händen der Bourgeoisie entreißen und in die eigenen Hände nehmen. Wir haben das Recht, dies von euch zu verlangen, weil wir es selbst getan haben. Dies ist die einzige Art der Erlösung für euch und für uns. Schließt eure Reihen, Proletarier aller Länder, unter dem Banner des Friedens und der sozialen Revolution!

Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten L. Trotzki

1 Auf der Konferenz am 22. November waren auf der österreichisch-deutschen Seite nur Militärdelegierte vertreten, die auf die Erklärung der Friedensziele unserer Delegation antworteten, dass sie nur über militärische Waffenstillstandsbedingungen verhandeln dürften. Militäroperationen wurden für 28 Tage ausgesetzt.

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