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Leo Trotzki 19171001 Deklaration der Bolschewistischen Fraktion auf der Demokratischen Beratung

Leo Trotzki: Deklaration der Bolschewistischen Fraktion auf der Demokratischen Beratung

(1. Oktober 1917)

[„Rabotschij Putj", Nr. 15, 3. Oktober (20. September) 1917. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Wien-Berlin 1931, S. 603-607]

Die Revolution ist am kritischen Punkt angelangt. Weiter folgt entweder ein neuer Aufschwung oder ein verhängnisvoller Niedergang. Das Volk ist durch den Krieg erschöpft, aber wohl noch mehr gequält durch die Unentschlossenheit, zermartert durch die Schwankungen in der Politik der führenden politischen Parteien. Mehr als sechs Monate nach dem Sturz des Zarismus, nach einer Reihe von Versuchen zur Bildung einer revolutionären Staatsmacht auf Grund einer Koalition zwischen den Vertretern der Demokratie und den Vertretern der Zensusbourgeoisie, nach der erbärmlichen Wirtschaft des persönlichen Regimes, das unmittelbar zum Kornilow-Abenteuer geführt hat, sind die Triebkräfte der Revolution von Neuem mit aller Schärfe vor die Frage der Macht gestellt.

Jede neue Regierungskombination begann mit der Verkündung eines Programms staatlicher Maßnahmen und erwies sich nach wenigen Wochen als völlig unfähig, auch nur einen ernsten Schritt vorwärts zu tun. Immer neue Abmachungen mit den Zensusbourgeois, nachdem sich die Verderblichkeit der Koalition schon offenkundig erwiesen hat, rufen das größte Staunen, die größte Unruhe und Verwirrung im Bewusstsein der arbeitenden und unterdrückten Klassen des Landes hervor. Nicht nur der städtische Arbeiter, nicht nur der seit drei Jahren in den Schützengräben schmachtende Soldat, auch der Bauer im entlegensten und rückständigsten Dorf kann nicht umhin, zu begreifen, dass die Bodenfrage durch einen Kompromiss mit den Lwow und Rodsjanko nicht zu lösen ist. Es ist unmöglich, die Demokratisierung der Armee den Generalen, den Fronherren des alten Regimes, den Kornilow und Alexejew zu übertragen, die Kontrolle der Industrie durch die Großindustriellen-Minister, die Finanzreformen durch die Bankiers, die Kriegsgewinnler und ihre unmittelbaren Helfershelfer, die Konowalow, Paltschinski, Tretjakow oder Burischkin, zu verwirklichen. Schließlich ist es unmöglich, auch nur eine ernste Maßnahme zur Regelung der Lebensmittelversorgung und des Transportwesens, auch nur eine einzige Reform der Justiz, des Unterrichts usw. durchzuführen, wenn in einer Epoche ungeheurer Erschütterungen zentral und lokal der alte bürokratische Apparat, die Zusammensetzung der Verwaltung mit ihrem volksfeindlichen Geist und dem stumpfsinnigen Amtsschimmel erhalten bleiben.

Trotz allen Anstrengungen der Regierung, die Räte zurückzudrängen und zu schwächen, trotz der selbstmörderischen Politik der offiziellen, auf dem Boden der Vaterlandsverteidigung stehenden Führer der Räte offenbarten diese die ganze Unverwüstlichkeit der in ihnen verkörperten revolutionären Kraft und Initiative der Volksmassen im Verlauf der Niederwerfung der Kornilow-Meuterei, als die Provisorische Regierung sich vor dem Gericht des Volkes und der Geschichte für immer mit Schande bedeckte, dadurch dass sie zu einem Teil Kornilow geradezu Vorschub leistete, zum andern bereit war, die Errungenschaften der Revolution Kornilows Händen auszuliefern. Nach dieser neuen Prüfung, die aus dem Bewusstsein der Arbeiter, Soldaten und Bauern durch nichts mehr ausgelöscht werden kann, ist der ganz zu Anfang der Revolution von unserer Partei erhobene Schlachtruf: „Alle Macht den Räten, in den Hauptstädten und in der Provinz" zur Stimme des ganzen revolutionären Landes geworden.

Nur eine Regierung, die sich unmittelbar auf das Proletariat und die armen Bauern stützt, eine Regierung, die allen materiellen Reichtum, alle wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes berücksichtigt und in ihren Maßnahmen nicht haltmacht an der Schwelle der eigennützigen Interessen der Besitzenden, die alle wissenschaftlich vorgebildeten, technisch wertvollen Kräfte zu sozialwirtschaftlichen Zwecken mobilisiert, kann die unter den jetzigen Umständen größtmögliche Planmäßigkeit in die zerfallende Wirtschaft bringen, die Bauern und Landarbeiter bei der möglichst fruchtbaren Ausnützung der vorhandenen landwirtschaftlichen Produktionsmittel unterstützen, die Profite einschränken, die Löhne festsetzen, entsprechend der geregelten Produktion eine echte, auf der Selbstbestimmung der Werktätigen und der durch sie ausgeübten zentralisierten Kontrolle der Produktion fußende Arbeitsdisziplin und die möglichst reibungslose Demobilisierung der gesamten Wirtschaft sicherstellen.

In Anbetracht dessen, dass die konterrevolutionäre Kadettenpartei, die die Machtübernahme durch die Räte über alles fürchtet, die weniger bewussten Elemente der Demokratie fortwährend mit dem Gespenst des bewaffneten Aufstands der Bolschewiki schreckt, halten wir es für notwendig, hier für das ganze Land hörbar erneut zu erklären, dass unsere Partei, die zur Verwirklichung ihres Programms um die Macht kämpft, nie danach gestrebt hat und nicht danach strebt, die Macht gegen den organisierten Willen der Mehrheit der Werktätigen Massen im Lande zu ergreifen. Die Übergabe der gesamten Macht an die Räte würde weder den Klassenkampf noch den Kampf der Parteien im Lager der Demokratie beseitigen. Aber unter Voraussetzung einer vollständigen, unbeschränkten Agitationsfreiheit und einer ständigen Erneuerung der Räte von unten würde sich der Kampf um den Einfluss und die Macht innerhalb des Rahmens der Räteorganisationen entfalten. Demgegenüber muss die Fortsetzung der jetzigen gegen die Arbeiterklasse, gegen die revolutionären Elemente der Armee und der Bauernschaft gerichtete, die Verhinderung einer weiteren Entwicklung der Revolution bezweckende Gewalt- und Unterdrückungspolitik unvermeidlich und ganz unabhängig vom Willen der revolutionären Organisationen zu einem grandiosen Zusammenstoß führen, wie es in der Geschichte nur wenige gegeben hat.

Unter den gegebenen Umständen ist eine Koalitionsregierung unvermeidlich eine Regierung der Gewalt und der Unterdrückung der unteren Schichten durch die oberen. Nur wer um jeden Preis den Bürgerkrieg entfesseln will, um dann die Verantwortung dafür den Arbeitermassen und unserer Partei in die Schuhe zu schieben, kann nach allen vorhergegangenen Erfahrungen der Demokratie den Abschluss eines neuen Bündnisses mit der konterrevolutionären Bourgeoisie empfehlen.

Das Volk lechzt nach Frieden. Eine Koalitionsregierung bedeutet die Fortsetzung des imperialistischen Krieges. Die Zusammensetzung der provisorischen Regierung war bisher den Forderungen der alliierten Imperialisten angepasst, die der russischen revolutionären Demokratie todfeind sind. Die verhängnisvolle Offensive des 18. Juni, vor der unsere Partei so eindringlich gewarnt hat, die Kornilowschen Methoden zur Zügelung der Armee, die unter unmittelbarer Mitwirkung der kompromisslerischen Minister durchgeführt wurden – all dies war direkt oder indirekt von den alliierten Imperialisten inspiriert. Auf diesem Wege hat die russische Revolution bereits einen großen Teil ihrer moralischen Autorität eingebüßt, ohne auch nur im geringsten ihre physische Macht gefestigt zu haben. Es wird immer klarer, dass die alliierten Imperialisten, wenn einmal die innere Kraft der russischen Revolution gebrochen ist, keineswegs davor zurückscheuen würden, einen Frieden auf Kosten des russischen Volkes zu schließen. Zugleich gibt die willenlose weitere Verlängerung des Krieges – ohne das Vertrauen des Volkes zu den Kriegszielen und zu der kriegführenden Provisorischen Regierung – einen ungeheuren Trumpf in die Hände der Konterrevolution, die den Versuch machen kann, ihre Karte auf einen Separatfrieden mit dem räuberischen deutschen Imperialismus zu setzen. Die Schaffung einer Rätemacht bedeutet vor allem das unmittelbare, offene und entschiedene Angebot eines ehrlichen gerechten, demokratischen Friedens an alle Völker. Die revolutionäre Armee könnte die Unvermeidlichkeit des Krieges nur dann anerkennen, wenn ein solcher Frieden abgelehnt würde. Doch alles spricht dafür, dass ein Angebot der revolutionären Regierung einen so mächtigen Widerhall bei den zermarterten Arbeitermassen aller kriegführenden Völker finden würde, dass eine weitere Fortführung des Krieges unmöglich wäre. Die Rätemacht bedeutet den Frieden.

Genug der Schwankungen! Genug der Politik der Willenlosigkeit und des Kleinmutes! Man kann nicht ungestraft die Bauern ein halbes Jahr quälen und martern, ihnen Land und Freiheit versprechen und in Wirklichkeit die sofortige entschädigungslose Aufhebung des Privateigentums am grundherrlichen Boden und dessen sofortige Übergabe in die Verwaltung der örtlichen Bauernkomitees bis zur Konstituierenden Versammlung verweigern.

Genug der Schwankungen! Genug der Politik der Zweideutigkeiten, die die Führer der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki bisher getrieben haben. Genug der Verschleppungen! Genug der Worte, die letzte Stunde der Entscheidung ist gekommen.

Als Grundlage für die Tätigkeit der revolutionären Regierung müssen folgende, von vielen einflussreichen revolutionären Organisationen, mit den Petrograder und Moskauer Arbeiter- und Soldatendeputiertenräten an der Spitze, vorgeschlagenen Maßnahmen dienen:

1. Aufhebung des Privateigentums am grundherrlichen Boden ohne Ablösung und dessen Übergabe an die Bauernkomitees bis zur Regelung durch die Konstituierende Versammlung, wobei die ärmsten Bauern mit Inventar zu versorgen sind.

2. Einführung einer Arbeiterkontrolle über Produktion und Distribution im Reichsmaßstabe; Zentralisation des Bankwesens; Kontrolle über die Banken und Nationalisierung der wichtigsten Industriezweige, wie z.B. Naphtha-, Steinkohlen- und Hüttenindustrie; allgemeine Arbeitsdienstpflicht; sofortige Maßnahmen zur Demobilisierung der Industrie und Organisierung der Versorgung des flachen Landes mit Industrieprodukten zu festgesetzten Preisen. Rücksichtslose Besteuerung des Großkapitals und der Großvermögen, Beschlagnahme der Kriegsgewinne zur Rettung des Landes vor der wirtschaftlichen Zerrüttung.

3. Annullierung der Geheimverträge, sofortiges Angebot eines allgemeinen demokratischen Friedens an alle Völker der kriegführenden Staaten.

4. Sicherstellung des Selbstbestimmungsrechtes aller Russland bewohnenden Völker. Sofortige Aufhebung aller Repressivmaßnahmen gegen Finnland und die Ukraine.

Als sofortige Maßnahmen sind zu verfügen:

1. Einstellung aller Repressivmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse und ihre Organisationen. Abschaffung der Todesstrafe an der Front, Wiederherstellung der vollen Agitationsfreiheit und aller demokratischen Organisationen in der Armee. Säuberung der Armee vom konterrevolutionären Offizierskorps

2. Wählbarkeit der Kommissare und sonstigen beamteten Personen durch die örtlichen Organisationen.

3. Allgemeine Bewaffnung der Arbeiter und Organisierung einer roten Garde.

4. Auflösung des Staatsrates und der Reichsduma. Sofortige Einberufung der Konstituierenden Versammlung.

5. Abschaffung aller Standes- (Adels- usw.) Vorrechte, volle Gleichberechtigung aller Bürger.

6. Festsetzung des achtstündigen Arbeitstages und Einführung einer allseitigen Sozialversicherung.

Als unerlässliche Sondermaßnahmen zur Gesundung der politischen Atmosphäre und zur Aufdeckung der Fäulnis der Justiz verlangen wir die sofortige Einsetzung einer für die Demokratie autoritativen Untersuchungskommission zur allseitigen Aufklärung der Ereignisse des 3.–5. Juli und zur Prüfung des Vorgehens aller Justizbehörden, die Agenten des alten Regimes sind und in deren Händen jetzt die Untersuchung gegen das Proletariat konzentriert ist.

Sofortige Freilassung aller verhafteten Revolutionäre und möglichst rasche Ansetzung der öffentlichen Verhandlung aller laufenden Verfahren.

Wir halten es für nötig, zu sagen, dass der Einberufung der gegenwärtigen Beratung völlig willkürliche Kriterien für die Vertretung zugrunde gelegt worden sind, die in ihrer Gesamtheit den am wenigsten revolutionären, kompromisslerischen Elementen der Demokratie einen Platz einräumen, den sie ihrer wirklichen politischen Rolle nach keineswegs beanspruchen können. Die Organisationen der Armee sind völlig unzulänglich vertreten, und dazu nur durch ihre den Soldatenmassen fern stehende und seit einem halben Jahr nicht mehr neugewählten Spitzen. Die nur zur Hälfte reformierten Dumas und Semstwos widerspiegeln schon allein kraft ihrer speziellen Bestimmung die revolutionär-politischen Erfahrungen der Demokratie und ihre Ansichten höchst unvollkommen. Dasselbe gilt in gesteigertem Maße für die Genossenschaften, wo die Auswahl der leitenden Persönlichkeiten mit den politischen Auffassungen der demokratischen Massen und der Entwicklung ihrer Stimmungen in einem äußerst losen Zusammenhang steht. Im Vergleich zu den Dumas, Semstwos und Genossenschaften ist die Vertretung der Räte bis zum äußersten beschnitten, obwohl gerade diese Organisationen den politischen Willen der Arbeiter, Soldaten und Bauern am richtigsten widerspiegeln. Gerade die Räte sind es, die in den kritischen Tagen des Kornilowaufstandes die ganze Lage beherrschten und an manchen Orten auch die ganze Macht in die Hände nahmen. Aus diesem Grunde sind wir der Ansicht, dass nur jene auf die völlige Beseitigung des persönlichen Regimes Kerenskis gerichteten Beschlüsse der gegenwärtigen Beratung den Weg zur Verwirklichung finden können, die vom allrussischen Kongress der Arbeiter-, Bauern-und Soldatendeputiertenräte anerkannt werden. Die unverzügliche Einberufung eines solchen Kongresses ist jetzt die wichtigste Aufgabe.

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