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Leo Trotzki 19170904 Der Charakter der russischen Revolution

Leo Trotzki: Der Charakter der russischen Revolution

[Erschienen in „Proletarij" Nr. 8 vom 4. September (22. August) 1917. Nach der Broschüre „Der Charakter der russischen Revolution“, erschienen im Verlag der Arbeiter-Buchhandlung. Wien 1921 als 5. Heft der „Materialien zur Geschichte der proletarischen Revolution in Russland“. S. 40-47. Übersetzt von Sophie Liebknecht. Siehe auch New Yorker Volkszeitung, Sonntagsblatt, 31. Juli 1921, Sektion II, S. 14 f.]

Die liberalen und sozialrevolutionär-menschewistischen Politiker und Schmocks sind sehr besorgt darüber, wie die soziologische Wertung der russischen Revolution zu definieren sei: ist es eine bürgerliche Revolution? Oder wenn nicht, was für eine sonst? Auf den ersten Blick könnte dieses theoretische Interesse rätselhaft erscheinen. Für die Liberalen wäre es doch eigentlich nicht so dringend, den Klassencharakter „ihrer" Revolution aufzudecken. Was aber die kleinbürgerlichen „Sozialisten betrifft, so lassen sie sich in ihrer Tätigkeit im allgemeinen nicht durch theoretische Analyse, sondern durch den „gesunden Menschenverstand" leiten, der jedoch nur ein Pseudonym für Beschränktheit und Prinzipienlosigkeit ist. Der Kern der Sache ist aber der, dass die von Plechanow inspirierten Miljukow-Danschen Erörterungen über den bürgerlichen Charakter der russischen Revolution außer dem Schein nicht ein Milligramm Theorie enthalten. Weder „Jedinstwo", noch „Rjetsch" noch „Djen"1, noch die trauernde „Rabotschaja Gazeta" geben sich die geringste Mühe, festzustellen, was sie unter bürgerlicher Revolution verstehen. Der Zweck ihrer Schreibereien ist ein ganz praktischer: das „Recht" der Bourgeoisie auf den Besitz der Macht zu beweisen. Obwohl die Sowjets die Mehrheit der politisch interessierten Bevölkerung darstellen, obwohl bei allen demokratischen Wahlen in Stadt und Land die kapitalistischen Parteien krachend durchfallen, so will man dennoch, „weil unsere Revolution eine bürgerliche ist", politische Privilegien für die Bourgeoisie sicherstellen und ihr einen Platz in der Regierung sichern, der ihr nach der politischen Gruppierung im Lande nicht im Geringsten zukommt. Würde man entsprechend der Prinzipien des demokratischen Parlamentarismus handeln, so ist es klar, dass die Macht den Sozialrevolutionären allein oder ihnen mit den Menschewiki zusammen gehören musste. Aber weil „unsere Revolution eine bürgerliche ist", so werden die Prinzipien der Demokratie vergessen. Den Vertretern der erdrückenden Mehrheit des Volkes werden in den Ministerien fünf Plätze zugewiesen und den Vertretern einer nichtssagenden Minderheit mehr als doppelt so viel. Zum Teufel die Demokratie – es lebe die Plechanowsche Soziologie.

Kann man denn eine bürgerliche Revolution ohne die Bourgeoisie machen?" fragt mit schmeichelnder Stimme Plechanow, sich auf die Dialektik und auf Engels berufend.

Das ist es eben," fällt ihm Miljukow ins Wort – „wir Kadetten wären bereit, auf die Macht zu verzichten, die uns das Volk nicht geben will, aber gegen die Wissenschaft können wir nicht handeln." Dabei beruft er sich auf den Plechanowschen „Marxismus".

Weil unsere Revolution eine bürgerliche ist, so ist eine Koalition der werktätigen Massen mit den Ausbeutern nicht zu umgehen." erklären Plechanow, Potressow und Dan. Und bei der Beleuchtung einer solchen 'Soziologie" gewinnt der komödiantenhafte Händedruck zwischen Zeretelli und Bublikow2 erst seine historische Bedeutung.

Ärgerlich ist es nur, dass dieselben Menschewiki aus dem bürgerlichen Charakter der Revolution, durch den jetzt die Koalition der Sozialisten mit den Kapitalisten erklärt wird, jahrelang entgegengesetzte Schlussfolgerungen gezogen haben.

Sie sagten: da in einer bürgerlichen Revolution die Staatsmacht keine andere Aufgabe haben kann als die Sicherstellung der Macht der Bourgeoisie, so ist es klar, dass die Sozialdemokraten da nichts zu suchen haben. Ihr Platz ist nicht in der Regierung, sondern in der Opposition. Plechanow meinte, dass Sozialisten unter keinen Bedingungen an einer bürgerlichen Revolution teilnehmen können, und machte Kautsky, dessen Resolution3 in diesem Punkte einige Abweichungen zuließ, die heftigsten Vorwürfe. „Nach der Zeit und dem Gesetz tritt eine Änderung ein," sagten die kleinen bürokratischen Selbstherrscher der alten Zeit. Es scheint, das gleiche geschieht mit den „Gesetzen" der Plechanowschen Soziologie. Wie grundverschieden die vorrevolutionäre und augenblickliche Auffassung der Menschewiki und ihres Inspirators Plechanow auch sein mag, der „Gedanke", dass man die bürgerliche Revolution nicht ohne die Bourgeoisie machen könne, besteht bei ihnen weiter. Auf den ersten Blick kann dieser Gedanke als ein Axiom erscheinen. In der Tat aber ist er nur eine Dummheit.

Die Geschichte der Menschheit fangt nicht mit der Moskauer Beratung an. Es hat auch früher Revolutionen gegeben. Am Ende des 18. Jahrhunderts entrollte sich in Frankreich eine Revolution, die man. nicht ganz grundlos, die „große" nennt. Es war eine bürgerliche Revolution. Die Macht ging zu einer bestimmten Zeit an die Jakobiner über, die sich auf die Sansculotten stützten. Sie errichteten zwischen sich und den Girondisten, das heißt dem liberalen Teil der Bourgeoisie, den damaligen Kadetten, das viereckige Gerüst der Guillotine Nur die Diktatur der Jakobiner verlieh der ersten französischen Revolution ihre Hauptbedeutung, stempelte sie zur großen Revolution. Und trotzdem konnte diese Diktatur nicht ohne die Bourgeoisie verwirklicht werden, sondern nur unmittelbar gegen sie. Robespierre, der nicht dazu gekommen war, sich die Plechanowschen Ideen anzueignen, durchbrach alle Gesetze der Soziologie und, anstatt mit den Girondisten Händedrücke zu wechseln, ließ er sie köpfen. Das war ohne Zweifel überaus grausam. Doch diese Grausamkeit hinderte de französische Revolution nicht, die „große Revolution" zu werden, ohne ihren bürgerlichen Charakter zu überschreiten. Marx, dessen Namen bei uns jeder Schmock missbraucht, schrieb, dass „der ganze französische Terror" nichts anderes gewesen sei, als ein plebejisches Mittel, die Feinde der Bourgeoisie niederzuringen" …

Und da die Bourgeoisie diese plebejischen Methoden, mit den Volksfeinden fertig zu werden, fürchtete, so entfernten die Jakobiner sie nicht nur von der Macht, sondern wandten eiserne Maßnahmen gegen sie selbst an, und zwar jedes Mal, wenn sie versuchte, die Arbeit der Jakobiner lahmzulegen oder zu „mildern“. Es ist klar: die Jakobiner machten die bürgerliche Revolution ohne die Bourgeoisie.

Engels schrieb bezüglich der englischen Revolution von 1648: „Damit die Bourgeoisie jene Früchte erntete, die damals gereift waren, war es notwendig, dass die Revolution über ihr ursprüngliches Ziel weit hinausging, genau so, wie es 1793 in Frankreich und 1848 in Deutschland der Fall gewesen ist. Das scheint in der Tat eines der Gesetze für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zu sein." So sehen wir, dass das Engelssche Gesetz im geraden Widerspruch zur Plechanowschen Weisheit steht, die die Menschewiki für Marxismus halten und ausgeben.

Gewiss kann man einwenden, die Jakobiner selbst hätten zur Bourgeoisie, wenn auch zur kleinen, gehört. Das stimmt vollkommen. Aber ist denn die „revolutionäre Demokratie", die von den Sozialrevolutionären und Menschewisten vertreten wird, etwas anderes? Zwischen den Kadetten, der Partei der großen und mittleren Eigentümer einerseits und den Sozialrevolutionären anderseits hat sich bei allen Wahlen in der Stadt und auf dem Lande keine Zwischenpartei herausgebildet. Daraus geht mit mathematischer Klarheit hervor, dass das Kleinbürgertum seine politische Vertretung in der Partei der Sozialrevolutionäre gefunden hat. Die Menschewiki, deren Politik sich nicht im Geringsten von derjenigen der Sozialrevolutionäre unterscheidet, vertreten ebenfalls die Interessen dieser Klasse. Das steht keineswegs in Widerspruch mit der Tatsache, dass hinter ihnen ein Teil der am meisten zurückgebliebenen oder konservativ-privilegierten Arbeiter steht. Warum konnten aber die Sozialrevolutionäre nicht die Macht ergreifen? In welchem Sinne und warum zwang der „bürgerliche" Charakter (wenn man diese Bezeichnung gelten lassen will) der russischen Revolution die Sozialrevolutionäre und Menschewisten dazu, die plebejischen Methoden der Jakobiner mit den hoffähigen Methoden des Paktierens mit der gegenrevolutionären Bourgeoisie zu vertauschen? Ist es nicht klar, dass die Erklärung dazu nicht im „bürgerlichen" Charakter unserer Revolution zu suchen ist, sondern in den Jammergestalten unserer kleinbürgerlichen Demokratie. Anstatt den Besitz der Macht zur Verwirklichung historischer Aufgaben auszunutzen, hat unsere Pseudodemokratie ihre tatsächliche Ausübung ehrfurchtsvoll den gegenrevolutionären, militärisch-imperialistischen Clique überlassen, und Zeretelli prahlte sogar bei der Moskauer Beratung damit, dass die Sowjets die Macht nicht notgedrungen, nicht nach mutvollem Kampf und darauf folgender Niederlage preisgegeben hatten, sondern freiwillig, als Zeichen des politischen „Sichbeschränkenkönnens". Die Gutmütigkeit des Lämmleins, das, freiwillig seinen Nacken dem Schlächtermesser ausliefert, ist aber nicht jene Tugend, die neue Welten erobert!

Der Unterschied zwischen den Terroristen des Konvents und den Besiegten der Moskauer Beratung gleicht ungefähr dem Unterschied zwischen Tigern und Kälbern im verschiedenen Stadium der Mannbarkeit. Doch das ist von nebensächlicher Bedeutung. Entscheidend dagegen ist der Unterschied zwischen den Klassen, aus denen die Demokratie sich damals und jetzt zusammensetzte. Die Jakobiner stützten sich auf ärmliche und besitzlose Klassen, in denen auch das damalige, noch nicht als Klasse kristallisierte Proletariat einbegriffen war. Bei uns hat sich das Industrieproletariat aus der formlosen Demokratie als selbständiger, historischer Faktor von größter Bedeutung herausgeschält. Die kleinbürgerliche Demokratie hat im selben Masse die kostbaren, revolutionären Eigenschaften eingebüßt, in dem das aus ihr herausgewachsene Proletariat sie in sich entwickelt hat. Diese Erscheinung ist wiederum das Resultat einer unvergleichlich höheren Stufe der kapitalistischen Entwicklung Russlands im Vergleich zum Frankreich des 18. Jahrhunderts. Die revolutionäre Bedeutung des russischen Proletariats, die gewiss nicht nach seiner zahlenmäßigen Größe gemessen werden kann, erklärt sich aus der ungeheuren produktiven Kraft, die besonders deutlich im Laufe des Krieges zutage getreten ist. In unseren Tagen erinnert wiederum die Drohung mit dem Eisenbahnerstreik an die Abhängigkeit des ganzen Landes von der konzentrierten Arbeit des Proletariats. Die kleinbürgerliche Bauernpartei geriet seit den ersten Tagen der Revolution unter das Kreuzfeuer der mächtigen Gruppierungen der imperialistischen Klassen einerseits und des revolutionär-internationalistischen Proletariats anderseits. Um Einfluss auf die Arbeiter zu gewinnen, betonte die kleinbürgerliche Partei mehr ihre „staatsmännische Einsicht", ihren „Patriotismus", und geriet auf diese Weise in sklavische Abhängigkeit vom gegenrevolutionären Kapital. Zugteich verliert sie vollständig die Möglichkeit der tatsächlichen Liquidierung der verschiedenen Formen, selbst der alten Barbarei, die die Volksmassen, die sie noch hinter sich hat, in ihrem Bann halten. Der Kampf der Sozialrevolutionäre und Menschewiki um den Einfluss auf das Proletariat wird immer mehr zurückgedrängt durch den Kampf der proletarischen Partei um die Führung der halbproletarischen Massen des Landes und der Städte. Dadurch, dass sie die Macht „freiwillig" an die Bourgeoisie abtrat, blieb der Sozialrevolutionären und menschewistischen „Demokratie" nichts anderes übrig, als ihre revolutionäre Mission gänzlich an die Partei des Proletariats abzutreten. Das allein zeigt zur Genüge, dass der Versuch, die grundlegenden Fragen der Taktik durch die Bezugnahme auf den „bürgerlichen" Charakter unserer Revolution zu lösen, nur dazu dienen können, um zurückgebliebene Arbeiter zu narren und die Bauern zu betrügen.

In der französischen Revolution von 1848 macht das Proletariat schon heroische Anstrengungen zu einer selbständigen Aktion. Aber es besaß weder eine klare, revolutionäre Theorie, noch eine autoritative Klassenorganisation. Seine Bedeutung im Produktionsprozess war noch unermesslich viel geringer als die wirtschaftliche Bedeutung des russischen Proletariats. Außerdem war den Ereignissen von 1848 schon die große Revolution vorausgegangen, die auf ihre Weise die Agrarfrage gelöst hatte, was sich sofort in der schnellen Isolierung des Stadtproletariats von den Volksmassen bemerkbar machte. Unsere Lage ist in dieser Beziehung unvergleichlich günstiger. Die agrarische Versklavung, die Standesvorurteile, der Kastengeist und die Räubergelüste der Kirche stehen vor der Revolution als Fragen, die eine entschiedene und erbarmungslose Lösung verlangen Die äußerste „Isolierung" unserer Partei von den sozialrevolutionären Menschewiki, selbst die Isolierung in den Gefängniszellen, bedeutet noch keinesfalls die Isolierung des Proletariats von den unterjochten Land- und Stadtmassen. Im Gegenteil: nur die scharfe Gegenüberstellung der Politik des revolutionären Proletariats und des treubrüchigen Verrates der jetzigen Sowjetführer kann die rettende politische Differenzierung (Gliederung) in die Bauernmassen tragen, kann die Dorfarmen aus der Einflusssphäre der festen sozialrevolutionären Bäuerleins befreien und kann das sozialistische Proletariat zum tatsächlichen Führer der „plebejischen" Volksrevolution gestalten

Und schließlich sagen uns die leeren Schwätzereien über den bürgerlichen Charakter der russischen Revolution nichts über ihre internationale Einstellung. Und doch ist das die wichtigste Frage. Die große, jakobinische Revolution hatte neben sich und gegen sich das zurückgebliebene, feudale, monarchistische Europa. Das jakobinische Regime fiel und verwandelte sich in das bonapartistische Regime – unter der Wucht jener übermenschlichen Anstrengung, die es aushalten musste, um sich gegen die vereinigten Mächte des Mittelalters zu wehren. Die russische Revolution dagegen hat gegen sich das ihr weit voran geeilte Europa, das die höchste Stufe der kapitalistischen Entwicklung erklommen hat. Die jetzige Weltschlächterei zeigt, dass Europa die Grenze der kapitalistischen Sättigung bereits erreicht hat und dass es sich nicht weiter auf den Grundlagen des Privateigentums an den Produktionsmitteln entwickeln kann. Dieses blutige, zerstörende Chaos ist die Empörung blinder und dumpfer Kräfte der Produktion, der Aufruhr des Eisens und des Stahls gegen die Macht der Dividenden, der Lohnsklaverei, gegen die dumpfe Gemeinheit menschlicher Beziehungen. Von den Flammen des aus ihm selbst geborenen Krieges umlodert, brüllt der Kapitalismus durch die Schlünde seiner Mörser der Menschheit zu: „Besiege mich, oder ich begrabe dich unter meinen Ruinen". Der Gang der weltgeschichtlichen Ereignisse, die Jahrtausende Entwicklung der Menschheit, des Klassenkampfes, der Ansammlung von Kulturgütern warten auf ihre Lösung: und diese Lösung ist die proletarische Revolution. Es gibt keine andere Entscheidung und keinen anderen Ausweg. Und darin liegt die ungeheure Macht der russischen Revolution. Das ist keine „nationale", keine bürgerliche Revolution mehr. Wer sie so bewertet, lebt in der Gespensterwelt des 18. und 19. Jahrhunderts. Unser „Vaterland" in der Zeitrechnung aber ist das 20. Jahrhundert. Das weitere Schicksal der russischen Revolution hängt unmittelbar vom Verlauf und dem Ende des Krieges, das heißt von dem Charakter der Entwicklung der Klassengegensätze in Europa ab, einer Entwicklung, die durch diesen imperialistischen Krieg zur Katastrophe führen kann.

Die Kerenski und die Kornilow haben zu früh die Töne einander konkurrierender Alleinherrscher angeschlagen. Die Kaledin zücken zu früh das Schwert. Die Renegaten Zeretelli drücken zu früh die ihnen verächtlich entgegen gestreckte Hand der Gegenrevolution. Die Revolution hat vorläufig nur ihr erstes Wort gesprochen. Sie kann noch auf unermessliche Reserven in Westeuropa rechnen. An die Stelle gegenseitiger Freundschaftsversicherungen zwischen reaktionären Schiebern und kleinbürgerlichen Narren wird der große Händedruck der russischen Revolution mit dem europäischen Proletariat treten.

1 „Jedinstwo". Einheit, Organ der Plechanow-Gruppe. „Djen", ein unabhängiges Blatt des Sozialpatrioten Potressow. D[er] H[erausgeber]

2 Bublikow, Vertreter der Großindustrie, Führer der großkapitalistischen Opposition bei der Moskauer Beratung. D[er] H[erausgeber]

3Auf dem internationalen Sozialistenkongress in Amsterdam 1904

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