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Leo Trotzki 19170907 Der Charakter der russischen Revolution

Leo Trotzki: Der Charakter der russischen Revolution

Ergebnisse und Aussichten

[Nach der Broschüre, erschienen im Verlag der Arbeiter-Buchhandlung. Wien 1921 als 5. Heft der „Materialien zur Geschichte der proletarischen Revolution in Russland“. Übersetzt von Sophie Liebknecht. Siehe auch New Yorker Volkszeitung, Sonntagsblatt, 17. Juli 1921, Sektion II, S. 14 f., 24. Juli 1921, Sektion II, S. 14 f. und 31. Juli 1921, Sektion II, S. 14-16.]

Vorbemerkung

Die vorliegende Publikation bedarf keiner besonderen Empfehlung, sowohl des Inhalts wie des Verfassers wegen. Aus dem Inhalte ist klar zu ersehen, dass diese Broschüre in der Zeit nach dem Juli-Aufstand 1917 und in der Periode der Moskauer Staatskonferenz, die im August denselben Jahres stattgefunden hat. verfasst worden ist. Sie ist zusammengesetzt aus Artikeln, die Trotzki vom Gefängnis aus – er wurde in den Julitagen verhaftet und nach einigen Wochen in Freiheit gesetzt – in dem Zentralorgan der Partei der Bolschewiki, das damals unter dem Namen „Der Proletarier" erschien, veröffentlicht hat. Später wurden die meisten dieser Artikel von Trotzki selbst zusammengefasst und in russischer Sprache unter dem Titel „Was nun?" herausgegeben.

Diese Broschüre, die zum ersten Mal in deutscher Sprache erscheint, gibt eine Analyse des kritischen Moments dar manchen Revolution zwischen dem Juli-Aufstand und dem Kornilow Putsch, und als solche ist sie für die richtige Erkenntnis der russischen Revolution unersetzlich. Der glänzende Stil Trotzkis musste selbstverständlich in der Übersetzung viel einbüßen, aber die scharfe Pointierung der Probleme und die schlagfertige und sicher treffende Polemik mit den Gegnern aus dem kleinbürgerlich-sozialistischen Lager ist auch für Westeuropa von größtem Interesse, weil diese Gattung der bankrottes Politiker, dank der Zähigkeit, mit der der zum Tode verurteilte Kapitalismus um seine Existenz kämpft, noch die Möglichkeit hat, ihren Bankrott vor den Massen zu verschleiern und ihre Existenz weiter zu fristen.

Mai 1921.

M. J. B.

Statt eines Vorworts

Seit dem Beginn der Offensive auf der äußern Front, das heißt seit dem 18. Juni d. J. begann der Rückzug der Revolution auf der inneren Front, der von der offiziellen „Demokratie“ geleitet wurde. Dieser Rückzug hatte nach den Tagen vom 3. bis 5. Juli einen geradezu katastrophalen Charakter angenommen. Seitdem nahm er wohl etwas geordnetere Formen an, jedoch ohne auch nur eine Stunde lang zum Stillstand zu kommen. Vor unseren Augen frisst der Krieg die Revolution, und seine Generäle haben es verstanden, auch die politische Macht an sich zu reisten.

Wie wird das alles enden? Um über den mutmaßlichen Verlauf der Dinge ein Urteil zu bekommen, müssen wir uns vor allem über das Wesen jener Kräfte klar werden, die auf der politischen Bühne kämpfen oder auch kampflos auf ihr kapitulieren. Das ist der Zweck der vorliegenden Arbeit.

Die ersten beiden Kapitel dieser Broschüre wurden schon vor der Moskauer Beratung1 geschrieben Wir lassen sie hier unverändert. Bei dem Versuch, die Bedeutung und die Folgen jener Bet-Übung in Moskau zu erraten, gingen wir nicht von den Beteuerungen der Führer und den Deklamationen der Zeitungen aus – niemals, scheint es, haben Führer und Zeitungen so gelogen wie jetzt – sondern von den grundsätzlich unterschiedenen Klasseninteressen und politischen Aktionen. Diese von Marx empfohlene Methode ist viel sicherer.

Die Provisorische Regierung wagte es nicht, selbst nachdem sie das revolutionäre Petrograd entwaffnet und die Kosakenlanze über dem roten Banner aufgepflanzt hatte, die Petrograder Arbeiter durch das Schauspiel einer Zusammenkunft zu provozieren, die man eine „staatliche'* hieß, um sie nicht eine volksfeindliche zu nennen. Vielmehr wurden die „lebendigen Kräfte" nach dem ehrwürdigen und ruhigen Moskau geladen. Doch das Moskauer Proletariat zeigte den ungebetenen Gästen seine Verachtung durch einen Proteststreik und rächte so seine Petersburger Brüder, die an jenem Tage erleichtert aufatmeten.

Mit Erlaubnis der Moskauer Arbeitergenossen widme ich ihnen diese Broschüre.

(September 1917.)

L. T.

I.

Was ist vorgefallen?2

Kein Mensch kann mit Bestimmtheit sagen, zu welchem Zweck die Moskauer Konferenz stattfindet. Ja, bevor sie noch anfingt, behaupten schon amtliche Teilnehmer, selbst nicht zu wissen. wozu man sie eigentlich nach Moskau eingeladen habe. Zugteich äußern sich fast alle über die Beratung in verächtlichen oder misstrauischen Worten. Und doch reisen sie hin. Wie ist dies alles an verstehen?

Lässt man das Proletariat, das eine besondere Stellung einnimmt, beiseite, so zerfallen die Teilnehmer der Moskauer Konferenz in drei Teile: die Vertreter der kapitalistischen Klassen, die Organisationen der kleinbürgerlichen Demokratie und die Regierung.

Die besitzenden Klassen sind am stärksten durch die Partei der Kadetten vertreten. Hinter ihr stehen die Junker, die Organisationen des Handels- und Industriekapitals, die Finanzcliquen und die Professorenverbände. Obgleich jede dieser Gruppen sonst ihre eigenen Interessen und politischen Hoffnungen hat, schweißt sie nun die gemeinsame Gefahr seitens der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenmassen in einen gegenrevolutionären Block zusammen. Natürlich verzichten deshalb die adlig-bürokratische Clique und die Generalstabskreise keineswegs auf ihre monarchischen Intrigen und Verschwörungen, doch halten sie es für notwendig, noch eine Zeitlang die Kadetten zu unterstützen. Die bürgerlichen Liberalen ihrerseits schielen zwar voller Verdacht auf die monarchistischen Cliquen, erkennen aber deren Bedeutung für die Unterstützung der Gegenrevolution an. Auf diese Weise wird die Kadettenpartei zur allgemeinen Repräsentantin des großen und mittleren Besitzes jeder Herkunft. Alle Ansprüche der Besitzenden, alle Hoffnungen der Ausbeuter vereinigen sich jetzt in dem kapitalistischen Zynismus und der imperialistischen Schamlosigkeit Miljukows3, dessen Politik darin besteht, allen Misserfolgen und allen Irrungen der revolutionären Bewegung aufzulauern, der bis auf weiteres die „Mitarbeit" der Menschewiki und Sozialrevolutionäre in Anspruch nimmt, sie durch diese Mitarbeit kompromittiert und bei alledem ruhig abwartet, bis seine Stande schlägt. Und hinter Miljukows Rücken wartet Hurko4 auf seine Stunde.

Die sozialrevolutionäre, menschewistische Pseudodemokratie stützt sich auf die Bauernmassen, auf die kleinen Leute unter der Stadtbevölkerung und auf die zurückgebliebenen Arbeiter. Dabei wird es immer klarer, dass die Hauptmacht in den Händen der Sozialrevolutionäre liegt, die Menschewiki aber nur so nebenbei geduldet werden. Die Sowjets, die durch den elementaren Drang der Massen auf eine ungeheure Höhe gehoben waren, verlieren unter der Leitung dieser beiden Parteien jede Bedeutung. Aus welchem Grunde? Marx meinte, dass die kleinen „großen Männer" des Kleinbürgertums, wenn sie von den Geschichtsereignissen genarrt werden, die Ursache ihrer Misserfolge niemals im eigenen Unvermögen erblicken, sondern unbedingt irgend jemandes Intrigen wittern. Wie sollte nur Zeretelli5 sich nicht an die „Verschwörung" vom 3. bis 5. Juli klammern, um das jämmerliche Fiasko seiner Politik erklären zu können. Als die Liber6, die Gotz und die Woitinski das Gebäude der Ordnung vor der „Anarchie," von der es, nebenbei gesagt, nicht im geringsten bedroht wurde, gerettet hatten, glaubten diese Herren aufrichtig, dass sie wie die Gänse, die einst das Kapitol retteten, Belohnung verdienten. Und als sie merkten, dass die Missachtung der Bourgeoisie gegen sie in demselben Maße wuchs wie ihre mit Eifer betriebene Zähmung des Proletariats, waren sie voller Staunen. Zeretelli selbst, er, der große Kenner platt getretener Wahrheiten, wurde über Bord geworfen als ein zu revolutionärer Ballast. Es leuchtet einem ja auch ein: durch eine Maschinengewehrkompanie wurde die Revolution „erledigt."7

Und wenn Zeretelli mit seiner Partei nun im Lager der Gegenaktion auftauchte, im Lager Polowtsows8 und der Junker, und sie im Interesse der Gegenrevolution bei der Entwaffnung der Arbeiter unterstützte, so trägt daran die Schuld nicht die Politik Zeretellis, sondern das Auftreten der durch die Bolschewiki verführten Maschinengewehrkompanie. So lautet die Geschichtsphilosophie des politischen Kleinbürgertums.

In der Tat wurden die Tage vom 3. bis 5. Juli insofern zum Wendepunkt in der Entwicklung der Revolution, als sie bei den leitenden Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie die völlige Unfähigkeit, die Macht zu ergreifen, offenbarten. Nach dem jämmerlichen Zusammenbruch der Koalitionsregierung gab es offensichtlich keinen anderen Ausweg, als die ganze Macht den Sowjets zu überlassen. Dazu konnten sich die Menschewisten und Sozialrevolutionäre jedoch nicht entschließen. Sich die Macht aneignen, hieße. sich mit den Bankiers und den Diplomaten verkrachen, und das wäre Abenteurertum – so argumentierten sie. Ungeachtet der schicksalsschweren Bedeutung der Ereignisse vom 3. bis 5. Juli liefen also die Führer der Sowjets noch weiter den Führern der besitzenden Klassen nach. Es wurde absolut klar, dass vor diesen die Sowjetpolitiker so standen wie der kleine Budiker vor dem Bankier: mit dem Hut in der Hand. Und das gab der Gegenrevolution neuen Mut.

Die ganze vorangegangene Periode der Revolution steht unter dem Zeichen der sogenannten Doppelregierung. Diese von den Liberalen ausgehende Charakteristik ist im Grunde genommen aber sehr oberflächlich. Wichtig ist nicht die Tatsache allein, dass neben der Regierung die Sowjets bestanden, die eine ganze Anzahl Regierungsfunktionen ausübten; viel wichtiger ist es, dass sich in den Sowjets und der Regierung zwei Regimes verkörperten, die sich auf verschiedene Klassen stützten.

Hinter den Sowjets standen die Arbeiterorganisationen, die in jedem Betrieb die Alleinherrschaft der Kapitalisten verdrängt hatten, und die in jedem Unternehmen das republikanische Regime einführten, das die kapitalistische Anarchie ausschloss und schleunigst die Staatskontrolle der Produktion forderte. Um ihre Eigentümerrechte zu verteidigen, suchten die Kapitalisten Unterstützung bei der Regierung, stachelten diese mit immer wachsender Energie gegen die Sowjets auf und brachten ihr die Überzeugung bei, dass es ihr an Werkzeugen zur Unterdrückung der Arbeiterklasse mangelte. So erklärt sich das Jammern über die „Doppelregierung".

Hinter den Sowjets standen die gewählten Organisationen der Armee und überhaupt das ganze Gewicht der Soldatendemokratie. Die Provisorische Regierung, die Hand in Hand mit Lloyd George, Ribaut und Wilson arbeitete, die die alten zaristischen Verträge und Methoden der Geheimdiplomatie weiter anerkannte, musste bei der neuen Soldatenmacht auf Widerstand stoßen. Dieser Widerstand in den höheren Sphären trat – allerdings nur geschwächt – in den Sowjets zu Tage. Daher die Beschwerden, besonders seitens der Generalität, über die „Doppelregierung."

Endlich stand auch der Sowjet der Bauern, trotz des kümmerlichen Opportunismus und des groben Chauvinismus seiner Führer, unter dem immer wachsenden Druck von unten, wo die Landverteilung einen immer drohenderen Charakter annahm, je mehr die Regierung gegen sie vorging. Bis zu welchem Grade die letztere ein Werkzeug des Großkapitals geworden war, ist am besten daraus ersichtlich, dass das letzte polizeiliche Rundschreiben Zeretellis sich durch nichts von dem Rundschreiben des Fürsten Lwow unterschied. Und wenn irgendwo die Sowjets und die Bauernkomitees eine neue Agrarordnung aufstellen wollten, gerieten sie in schärfsten Widerspruch zu der „revolutionären" Macht, die immer mehr zum treuen Hund des Privateigentums wurde.

Eine weitere Entwicklung der Revolution konnte nicht anderes als den Übergang der gesamten Macht an die Sowjets und ihre Ausnützung im Interesse der Werktätigen gegen die Eigentümer bedeuten. Bei der Vertiefung des Kampfes gegen die kapitalistischen Klassen musste unbedingt die erste Rolle der exponiertesten Klasse der werktätigen Massen, das heißt dem industriellen Proletariat, zukommen. Für die Einführung der Kontrolle über die Produktion und die Verteilung hatte das Proletariat sehr wertvolle Vorbilder in Westeuropa, vor allem in dem sogenannten „Kriegssozialismus" Deutschlands. Aber da bei uns diese organisatorische Arbeit nur auf Grund einer Agrarrevolution und unter der Leitung einer wirklich revolutionären Macht vor sich gehen konnte, so wäre schon die Kontrolle über die Produktion und allmähliche Organisation der Kontrolle ganz und gar gegen die Interessen des Kapitals gerichtet gewesen. Zur selben Zeit, als die besitzenden Klassen danach strebten, durch die provisorische Regierung eine „starke" kapitalistische Republik zu gründen, hätte die Allmacht der Sowjets, schon ohne den „Sozialismus" verwirklicht zu haben, in jedem einzelnen Fall den Widerstand der Bourgeoisie brechen können und – je nach der Lage der vorhandenen produktiven Kräfte und der allgemeinen Situation im Westen – das ökonomische Leben im Interesse der werktätigen Massen von Grund auf umgestalten können. Hätte die Revolution sich nur der Ketten der kapitalistischen Macht entledigt, dann wäre sie zur permanenten, das heißt ununterbrochenen Revolution geworden, und sie hätte dann die Staatsmacht dazu verwenden können, das Regime der kapitalistischen Ausbeutung zu überwinden und nicht dazu, dieses Regime noch zu verstärken. Ihr endgültiger Erfolg auf diesem Wege musste natürlich von den Erfolgen der proletarischen Revolution in Europa abhängen. Anderseits wäre eine russische Revolution imstande, der Bewegung im Westen einen um so größeren Stoß nach vorwärts zu versetzen, je entschiedener und tatkräftiger sie selbst die Widerstände der eigenen Bourgeoisie zu überwinden sucht. Das ist und bleibt auch heute noch die einzige reale Hoffnung der weiteren revolutionären Entwicklung.

Den Phantasten des Philistertums aber erschien diese Perspektive „utopisch." Was sie aber selbst erstrebten, haben sie noch nie einleuchtend formulieren können. Von jeher sprach Zeretelli von der „revolutionären Demokratie," offensichtlich ohne selber zu verstehen, was er damit meinte. Doch nicht nur die Sozialrevolutionäre, die es nun schon gewohnt waren, auf den Wellen der demokratischen Phraseologie zu schwimmen, sondern auch die Menschewiki ließen das Klassenkriterium beiseite; bei der Benutzung dieses Begriffes kam ihnen wohl zu deutlich der kleinbürgerliche Charakter ihrer Politik zum Bewusstsein. Das Regime der „revolutionären Demokratie" erklärt und entschuldigt eben alles. Und wenn die alten Mitglieder der Ochrana ihre schmutzigen Finger den Bolschewiki in die Taschen stecken, so geschieht das im Namen der „revolutionären Demokratie." – Doch greifen wir nicht vor.

Die sozialrevolutionär-menschewistische Demokratie köpfte tatsächlich die Revolution dadurch, dass sie die Macht der Bourgeoisie zur Verfügung stellte, beziehungsweise diese Macht durch eine Koalition „neutralisierte." Anderseits verteidigte allerdings die kleinbürgerliche Demokratie die Sowjets als ihre eigenen Organe und hinderte dadurch die Regierung, einen Verwaltungsapparat im Lande zu schaffen. Die Regierung erwies sich eben nicht nur machtlos, Gutes zu tun, sondern auch Böses. Die Sowjets, die ziemlich große Pläne verwirklichen wollten, konnten nicht einen einzigen praktisch durchsetzen. Das von oben dekretierte Regime der kapitalistischen Republik und das von unten sich formierende Regime der Arbeiterdemokratie lähmten einander gegenseitig. Und überall, wo die beiden Strömungen aneinander prallten, entstanden zahllose Konflikte. Der Minister und die Kommissare zähmten das Organ der revolutionären Selbstverwaltung, die Befehlshaber rasten vor Wut gegen die Soldatenkomitees, die Sowjets schwankten zwischen den Massen und der Regierung hin und her. Eine Krise folgte der anderen, die Minister kamen und gingen. Die Gereiztheit unten wurde um so größer, je verwirrter und systemloser der Druck der Macht von oben war. Und von oben erschien das ganze Leben wie ein Überhandnehmen der „Anarchie“.

Es ist klar, dass das mutlos-zwitterhafte Regime der kleinbürgerlichen „Demokratie" keinen inneren Halt hatte Und je tiefer die Probleme waren, die auf eine Lösung durch die Revolution harrten, desto krankhafter trat diese Haltlosigkeit zutage. Der ganze Staatsbau stützte sich auf einen oder höchstens zwei, drei Köpfe. Durch eine unvorsichtige Geste von Miljukow, Kerenski oder Zeretelli drohte immer alles zusammenzustürzen. Und je mehr Zeit verging, desto schärfer wurde die Alternative: entweder ergreifen die Sowjets die Macht oder die kapitalistische Regierung musste die Sowjets vernichten. Es bedurfte nur noch eines Stoßes von außen, um das ganze Gebäude aus dem Gleichgewicht zu bringen. Einen solchen bedeuteten die Ereignisse vom 3. bis 5. Juli. Die kleinbürgerliche Idylle, begründet auf dem „friedlichen" Zusammenleben von zwei einander ausschließenden Systemen, wurde ins Herz getroffen. Und Zeretelli hatte nun die Möglichkeit, in seinen Memoiren aufzuzeichnen, dass sein Plan. Russland zu retten, durch eine Maschinengewehrkompanie vereitelt wurde

II.

bonapartistische Elemente.9

Der kleine Budiker ist ein nüchterner Kerl, mehr als alles andere fürchtet er das „Risiko." Zur selben Zeit aber ist er auch der größte Phantast, denn jeder kleine Budiker hofft, ein Rothschild zu werden. Diese Vereinigung anämischer Nüchternheit mit unfruchtbaren Phantastereien macht das Wesen der kleinbürgerlichen Politik aus. Man soll nicht glauben, schrieb Marx, dass die Vertreter der kleinen Bourgeoisie geizige Händler sein müssen. Nein, ihrer Intelligenz nach könnten sie das unterdrückte Kleinbürgertum weit überragen. Doch „was sie zu Vertretern der Ideen der kleinen Bourgeoisie macht, das ist die Tatsache, dass ihr Denken nicht aus jenem Rahmen herausgeht, in dem ihr Leben eingeschlossen ist, und dass sie deshalb theoretisch zu denselben Problemen und denselben Lösungen gelangen, zu welchen der Kleinbürger auf dem Wege der Praxis kommt."

Sancho Pansa verkörpert in sich die banale Nüchternheit. Doch die Romantik ist ihm nicht fremd, denn sonst würde er Don Quichotte nicht folgen. Die Nüchternheit der kleinbürgerlichen Politik wird auf eine vollendetere und deshalb abstoßendere Weise durch Dan verkörpert. In Zeretelli verschmilzt diese Nüchternheit mit Romantik. „Nur ein Narr fürchtet nichts", hat Zeretelli zu Martow gesagt. Der ehrwürdige kleinbürgerliche Politiker dagegen fürchtet alles. Er fürchtet den Zorn seiner Gläubiger, er fürchtet die Diplomaten könnten seinen „Pazifismus" für Ernst halten, und mehr als alles andere fürchtet er die Macht. Da nur „der Narr nichts fürchtet", so glaubt der kleinbürgerliche Politiker, dass er sich durch vielseitige Ängstlichkeit vor Dummheit sichert. Und zu gleicher Zeit hofft er auch, ein Rothschild zu werden und meint, durch die Einfügung von zwei, drei Worten in eine diplomatische Note Tereschtenkos den Friedensschluss zu beschleunigen und beim Fürsten Lwow seine unfehlbaren Mittel gegen den Bürgerkrieg absetzen zu können. Und das Ende vom Lied ist, dass der große kleinbürgerliche Friedensbringer die Arbeiter entwaffnet, nur Polowtsow oder Kaledin, die „entwaffnet" er nicht. Und wenn diese ganze Politik durch den ersten Stoß zusammenstürzt, so erzählen Zeretelli und Dan allen, die es hören wollen, dass die Revolution nicht durch die Unfähigkeit der kleinbürgerlichen Demokratie, die Macht zu ergreifen, vereitelt worden ist, sondern durch den „Aufruhr" einer Maschinengewehrabteilung.

Im Laufe der vieljährigen Diskussionen über den Charakter der russischen Revolution suchte der Menschewismus zu beweisen, dass die Trägerin der revolutionären Macht bei uns die kleinbürgerliche Demokratie sein würde. Wir hingegen suchten zu beweisen, dass die kleinbürgerliche Demokratie diesen Problemen nicht mehr gewachsen sei, und dass nur das Proletariat, gestützt auf die Volksmassen, die Revolution zum siegreichen Ende bringen könne. Jetzt hat die Geschichte die Sachen so gestaltet, dass der Menschewismus zum politischen Vertreter der kleinbürgerlichen Demokratie geworden ist, um am eigenen Beispiel seine vollkommene Unfähigkeit zu demonstrieren, mit dem Problem der Staatsmacht fertig zu werden und die führende Rolle in der Revolution zu übernehmen.

In der „Rabotschaja Gazeta" (Arbeiterzeitung) diesem Organ des gefälschten, danisierten „Marxismus“ wird der Versuch gemacht, uns mit dem Namen „Männer des 3. Juli" zu bezeichnen. Dass wir in der Bewegung des 3. Juli mit allen unseren Sympathien auf der Seite der Arbeiter und Soldaten und nicht auf der Seite der Junker, der Polowtsow, der Liber und der Reaktion standen, unterliegt keinem Zweifel. Wir hätten nur Verachtung verdient, wenn es anders gewesen wäre. Doch die Bankrotteure der „Rabotschaja Gazeta" sollten sich hüten, zu viel vom 3. Juli zu sprechen, denn das ist der Tag, an dem sie sich politisch ausgeschaltet haben. Die Benennung „Männer des 3. Juli“ kann sich leicht mit dem anderen Ende gegen sie selber wenden. Am 3. Juni 1906 haben die gierigen Cliquen des zaristischen Russland einen Umsturz geplant, um sich der Staatsgewalt zu bemächtigen. Am 3. Juli 1917, im Augenblick der tiefsten Krisis der Revolution, haben die kleinbürgerlichen Demokraten laut verkündet, dass sie weder die Fähigkeit noch den Willen besitzen, die Macht zu ergreifen. Hasserfüllt wandten sie sich von den revolutionären Arbeitern und Soldaten ab, die von ihnen die Erfüllung der elementaren revolutionären Pflicht verlangten, und schlossen, sie, die „Männer" des 3. Juli, einen Bund mit den echten „Männern des 3. Juni," um die sozialistischen Arbeiter und Bauern zu zähmen, zu entwaffnen und einzukerkern. Der Verrat der kleinbürgerlichen Demokratie, ihre schmachvolle Kapitulation vor der gegenrevolutionären Bourgeoisie – das ist es, was das Kräfteverhältnis verschoben hat, wie Ähnliches schon öfters in der Geschichte der Revolution vorgekommen ist.

Unter diesen Bedingungen wurde das letzte Ministerium aufgebaut, das Skobelew mit der dankerfüllten Ehrfurcht, wie sie einem Lehrling dem Meister gegenüber ziemt, „die Regierung Kerenskis" nannte. Das willenlose, impotente, schwammige Regiment der kleinbürgerlichen Demokratie geriet in die Sackgasse der persönlichen Diktatur.

Unter dem Namen der sogenannten Doppelregierung wurde der Kampf zweier unversöhnlicher Klassentendenzen ausgefochten, der imperialistischen Republik und der Arbeiterdemokratie. Solange der Ausgang unentschieden war, lähmte dieser Kampf die Revolution und gebar unvermeidliche Erscheinungen der „Anarchie." Geleitet von Politikern, die alles fürchteten, wagten die Sowjets nicht, die Macht zu ergreifen Die Vertreterin aller Cliquen des Privatbesitzes, die Kadettenpartei, konnte die Macht noch nicht ergreifen. Es blieb nur übrig, den großen Versöhner, den Vermittler, den Schiedsrichter zu suchen.

Schon Mitte Mai wurde Kerenski in der Sitzung des Petersburger Rates „der mathematische Punkt der russischen Bonapartismus" genannt. Schon diese körperlose Charakteristik zeigt, dass es sich nicht um die Persönlichkeit Kerenskis, sondern um seine historische Funktion (Tätigkeit. Rolle) handelt. Es wäre eine Unbedachtsamkeit, zu behaupten, dass Kerenski aus demselben Stoff gemacht sei wie der erste Bonaparte; jedenfalls muss das als unbewiesen gelten. Doch seine Popularität ist gewiss kein Zufall. Kerenski war dem russischen Michel am nächsten und verständlichsten. Ein fortschrittlicher Advokat, „Sozialist-Revolutionär." der an der Spitze der Trudowiki10 stand, ein Radikaler ohne irgendwelche sozialistische Schulung, verkörperte er in sich die erste Epoche der Revolution, ihre „nationale“ Formlosigkeit, den unterhaltenden Idealismus ihrer Hoffnungen und Erwartungen. Er sprach vom Bauernland, von der Freiheit, der Ordnung, dem Völkerfrieden, der Vaterlandsverteidigung, dem Heroismus Liebknechts, davon, dass die russische Revolution die Welt durch ihre Großzügigkeit in Erstaunen setzen musste. und schwenkte dabei ein rotes seidenes Tüchlein. Der halb erwachte Bürger hört ihm mit Entzücken zu; es war ihm. als spräche er selbst von der Tribüne. Die Armee empfing Kerenski als Befreier von Gutschkows11 Herrschaft. Die Bauern hatten von ihm gehört, als von einem Trudowik. einem Freund der Bauern. Die Liberalen wurden durch die äußerste Mäßigung seiner Ideen unter dem formlosen Schwall radikaler Phrasen bestochen. Nur die radikalen Arbeiter waren auf der Hut. Doch wurden sie erfolgreich in den Sowjets der „revolutionären Demokratie" aufgelöst.

Das Fehlen doktrinärer Vorurteile erlaubte Kerenski als erstem „Sozialisten" in die bürgerliche Regierung einzutreten. Er war es, der zuerst die verschärfte soziale Wachsamkeit der Massen als „Anarchie" brandmarkte. Im Mai drohte er den Finnländern mit Skorpionen und warf mit der großsprecherischen Phrase von den „aufständischen Sklaven" um sich, einer Phrase, die wie Balsam die betrübten Herzen der Besitzenden beruhigte. So erwies sich seine Popularität als ein Knäuel von Widersprüchen, in denen sich die Formlosigkeit der ersten und die Ausweglosigkeit der zweiten Periode der Revolution spiegelte. Und als die Zeit nach einem Schiedsrichter verlangte, fand sich dazu kein geeigneter Mann als Kerenski

Die „historische Nachtsitzung im Winterpalais"12 war nur eine Probevorstellung zu jener politischen Erniedrigung, die die „revolutionäre" Demokratie sich jetzt bei der Moskauer Beratung bereitet hat. Alle Trumpfe konnten bei diesen Verhandlungen von den Kadetten ausgespielt werden: Es kam so weit, dass die Sozialrevolutionäre und menschewistischen Demokraten, die bei allen demokratischen Wahlen den Sieg davon trugen und denen ihre eigenen Siege einen Todesschreck einjagten, privilegierte Liberale demütig um Mitarbeit in der Regierung baten. Da die Kadetten keine Angst hatten, am 3. Juli die Staatsmacht den Sowjets zu unterschieben, und da anderseits die Liberalen keine Angst hatten, die ganze Macht zu ergreifen, so ist et klar, dass sie die Herren der Situation waren.

Wenn Kerenski der letzte Ausdruck der kraftlosen Sowjethegemonie war, so soll er jetzt das erste Wort der Befreiung von dieser Hegemonie sein. „Wir haben bis auf Weiteres Kerenski akzeptiert, aber nur unter der Bedingung, dass er das Band zerreißt, das ihn mit den Sowjets verbindet." so lautet das Ultimatum der Bourgeoisie.

Leider zeichneten sich die Diskussionen im Winterpalais nicht durch inhaltlichen Reichtum aus" – so klagte Dan, der „Berichterstatter der Erniedrigung" in der Sitzung des Exekutivkomitees.

Es ist schwer, den ganzen Tiefsinn dieser Klage seitens eines Anhängers der „revolutionären" Demokratie zu bewerten, der das Taurische Palais13 abends noch als Träger der Macht verließ. um am nächsten Morgen mit leeren Händen zurückzukehren. Die Führer der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki legten ehrfurchtsvoll ihren Anteil an der Staatsmacht zu Füßen Kerenskis nieder … Die Kadetten nahmen diese Gabe gnädigst auf – sie betrachteten jedenfalls Kerenski nicht als den großen Schiedsrichter, sondern als eine vermittelnde Instanz. Sich die ganze Macht umgehend anzueignen, wäre für sie angesichts des unvermeidlichen revolutionären Widerstandes der Massen zu gefährlich gewesen. Sie fanden es viel vernünftiger, dem von jetzt an „unabhängigen" Kerenski zu überlassen, unter Mitarbeit der Awksetiew, Sawinkow und anderer den Weg für eine rein bürgerliche Regierung zu bahnen, mit Hilfe eines Systems von immer zügelloseren Repressalien..

Das neue Koalitionsministerium – „die Regierung Kerenskis" – wurde gebildet. Auf den ersten Blick unterschied sie sich durch nichts von jener Koalition, die so ruhmlos am 3. Juli zerfallen war. Schingarew war gegangen, Kokoschnin gekommen: Zeretelli war ausgetreten – Aksentjew eingetreten. Aus der Zusammensetzung konnte man schließen, dass beide Seiten das Kabinett als ein vorübergehendes betrachteten. Doch von äußerster Wichtigkeit ist hierbei die grundlegende Veränderung der „Bedeutsamkeit" beider Gruppen. Früher waren wenigstens der Idee nach, die „sozialistischen" Minister dem Sowjet verantwortliche Vertreter der Sowjets; die bürgerlichen Minister sollten ihnen nur als Deckung gegenüber den Alliierten und der Börse dienen. Nun kehrt sich das Verhältnis um: die bürgerlichen Minister treten als untergeordnete Organe in den Bestand der offenen gegenrevolutionären Blocks der Besitzenden (Kadettenpartei. Handels- und Industriekapital. Agrarierverband, provisorisches Komitee der Duma, Kosakenbund, Diplomatie der Alliierten …) ein, und die sozialistischen Minister dienen nur als Deckung gegenüber den Volksmassen. Die Exekutivkomitees empfingen Kerenski mit eisigem Schweigen; trotzdem gelang es ihm, Ovationen zu erringen durch Abgabe des Versprechens, die Wiederherstellung der Monarchie nicht zuzulassen. So tief waren die Ansprüche der kleinbürgerlichen Demokratie gesunken. Aksentjew ruft alle mit dem philosophischen Pathos eines Psalmlesers zur „Opferung" auf, und wie es sich für einen machthabenden Philosophen gehört, wirbt er eifrig um die Hilfe der Kosaken und Junker für den kategorischen Imperativ. Und die Bauerndelegierten, die ihn gewählt haben, sehen einander mit Staunen an, um zu bemerken, dass, bevor sie Zeit gehabt haben, die Großgrundbesitzer zu enteignen, jemand ihnen selbst ihren Einfluss auf die Staatsmacht enteignet hat.

Die gegenrevolutionären Stäbe verfolgen auf jede erdenkliche Weise die Soldatenkomitees und benutzten sie gleichzeitig zu Repressalien gegen die Massen, untergraben auf diese Art ihre Autorität und bereiten ihren Fall vor. Für dieselben Ziele hat die bürgerliche Gegenrevolution „sozialistische" Minister zur Verfügung, die bei ihrem Sturze die Sowjets mit sich ziehen, von denen sie selbst zwar nicht mehr abhängen, die aber nach wie vor mit ihrem Schicksal verknüpft sind.

Haben die demokratischen Organisationen auf die Ausübung der Macht verzichtet, so müssen sie eben auch ihre Ansprüche auf Autorität fallen lassen Auf diese Weise wird alles für das Nahen Miljukows vorbereitet. wahrend hinter seinem Rücken schon Gurko auf seine günstige Stunde wartet.

Diese Moskauer Beratung erhält ihre Bedeutung nur im Zusammenhang mit dieser allgemeinen Beleuchtung der politischen Entwicklung in den oberen Sphären.

Die Kadetten verhielten sich der Beratung gegenüber bis zuletzt nicht nur gleichgültig, sondern direkt misstrauisch.

Mit Feindseligkeit wird die Reise nach Moskau auch vom „Djelo Naroda" besprochen, einem Organ derjenigen Partei, die in der Regierung durch Kerenski. Aksentjew, Sawinkow, Tschernow und Lebedew vertreten ist. „Soll gefahren werden. dann fahren wir halt," stöhnt auch die „Rabotschaja Gazeta", dabei an jenen Papagei erinnernd, den die Katze am Schwanz zog. Die Reden der Rjabuschinski. Aleksiew. Kaledin und anderer über die regierende „Abenteurerbande" sind noch lange kein Beweis dafür, dass diese Herren nach Aufopferungsumarmungen mit Aksentjew lechzen. Schließlich misst auch die Regierung nach Zeitungsmeldungen der Moskauer Beratung keine „entscheidende Bedeutung" zu. Zu wessen Nutzen also? Wer braucht diese Beratung und wozu? Es ist klar wie der helle Tag. dass sie nur gegen die Sowjets gerichtet ist. Denn diese gehen nicht freiwillig zur Beratung, sie werden dahin am Lasso geschleppt. Die gegenrevolutionären Klassen brauchen die Moskauer Beratung als Stutze für die endgültige Vernichtung der Sowjets.

Warum aber klingt die Stimme der verantwortlichen Organe der Bourgeoisie in diesem Falle so gedämpft? Weil Miljukow fürchtet, dass Kerenski aus der Beratung sehr gestärkt hervorgehen und dass dann seine, Miljukows, politische Ferien sich zu sehr in die Länge ziehen könnten. Und jeder Patriot hat, wie bekannt, Eile, das Vaterland auf seine Art zu retten.

Das Resultat der „historischen" Nacht im Winterpalais war das Kerenski-Regiment. Bonapartismus eines Sextaners. Die Moskauer Beratung aber, ihrem Bestand und ihren Zielen nach, ist eine Wiederholung der historischen Nacht sozusagen bei Tageslicht. Zeretelli wird noch einmal ganz Russland erklären müssen, dass der Übergang der Macht zur revolutionären Demokratie den Untergang der Revolution bedeuten würde. Nach dieser feierlichen Verkündung des eigenen Bankrotts werden die Vertreter der revolutionären Demokratie eine scharfe, gegen sie gerichtete Anklage zu hören bekommen, eine Anklage, die schon im Voraus von Rodsjanko, Rjabuschinski, Miljukow. dem General Aleksiew und anderen „lebendigen Kräften" des Landes vorbereitet ist Unsere imperialistische Clique, der von der Regierung auf der Beratung der Paradeplatz reserviert ist, wird mit der Parole „Alle Macht uns“' hervortreten. Die Sowjetführer werden angesichts des unübersehbaren Appetits der besitzenden Klassen diesen mit der Empörung jener selben Arbeiter und Soldaten drohen, die von Zeretelli entwaffnet worden sind unter der Parole: „Alle Macht den Räten". Kerenski wird, als Vorsitzender, nur das Vorhandensein „verschiedener Meinungen" konstatieren und die Aufmerksamkeit der „interessierten Kreise" darauf lenken, dass sie unter keinen Umständen ohne Schiedsrichter auskommen können. Was zu beweisen war.

Wenn ich in der Regierung säße" – gestand in der Sitzung des Zentralexekutivkomitees der Menschewik Bogdanow – „hätte ich diese Beratung nicht einberufen, denn die Regierung wird dabei nicht das erzwingen, wonach sie strebt: de Verstärkung und Vertiefung ihrer Grundlage." Man muss zugeben, dass diese „Realpolitiker" absolut nicht begreifen, was unter ihrer direkten Beteiligung vor sich geht. Nach dem Zerfall der Koalition des J Juli hat die Weigerung der Sowjets, die Macht zu übernehmen, die Möglichkeit einer Regierung auf breiter Grundlage ausgeschlossen. Die keiner Kontrolle unterstehende Regierung Kerenski ist dem Prinzip nach eine Regierung ohne soziale Grundlage. Sie hat sich bewusst zwischen die beiden in Betracht kommenden Grundlagen gestellt: zwischen das werktätige Volk und die imperialistischen Klassen. Darin besteht ihr Bonapartismus. Die Aufgabe der Moskauer Beratung besteht darin, die besitzenden Klassen und die demokratischen Parteien aufeinander zu hetzen und die persönliche Diktatur zu stärken, die mittels einer hemmungslosen Abenteurer-Politik alle Eroberungen der Revolution untergräbt.

Hierfür ist die Opposition von links genau so notwendig wie die Opposition von rechts. Notwendig ist nur, dass die beiden sich ungefähr die Waagschale halten und dass dieses Gleichgewicht von den sozialen Bedingungen getragen wird. Aber gerade das fehlt.

Der alte Cäsarismus ist aus dem Kampf der Klassen mitten in einer freien Gesellschaft entstanden, aber die sichere Grundlage aller kämpfenden Fraktionen und ihres Cäsars war die Arbeit. Der neue Cäsarismus hingegen ist aus dem Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie entstanden und sucht die ihm notwendige Stutze in der geduldigen Standhaftigkeit der Bauern. Dabei ist die Hauptwaffe des Bonapartismus eine gut disziplinierte Armee. Bei uns aber ist noch keine von diesen Bedingungen vorhanden. Die ganze Gesellschaft ist durchbohrt von schneidenden, entblößten Antagonismen, die den höchsten Grad der Spannung erreicht haben. Der Kampf zwischen den Arbeitern und den Kapitalisten, den Bauern und den Junkern, den Soldaten und der Generalität, den unterdrückten Nationalitäten und der Zentralmacht lässt den letzteren keinen einzigen Stützpunkt, wenn die Regierung sich nicht entschließen wird, ihr Schicksal mit einer der kämpfenden Seiten zu verbinden Zur Durchführung der Agrarrevolution werden die Versuche der „Überklassendiktatur" immer nur ephemer, das heißt, schnell vorübergehend bleiben.

Miljukow. Rodsjanko, Rjabuschinski wünschen, dass die Macht sich absolut in ihnen verkörpern möge, das heißt, dass sie sich in eine gegenrevolutionäre Diktatur der Ausbeuter über die revolutionären Arbeiter. Bauern und Soldaten verwandle. Kerenski will die Demokratie mit der Gegenrevolution erschrecken und die Gegenrevolution mit der Demokratie, um darauf die Diktatur der persönlichen Macht aufzubauen, von der die Massen nichts Gutes erben werden. Doch all das sind Rechnungen ohne den Wirt. Die revolutionären Massen haben noch nicht ihr letztes Wort gesagt.

III.

Die Armee in der Revolution.14

In der Frage über Krieg und Frieden wurde seit den ersten Tagen der Revolution derselbe Kampf geführt: zwischen der Arbeiter- und Bauerndemokratie, die sich von unten formierte, und der imperialistischen Republik, die die besitzenden Klassen von oben aufzubauen versuchten.

Die Herren Generäle beeilten sich, die Republik „anzuerkennen", wenigstens bis auf Weiteres, im festen Glauben, dass die Republik ihre Vorzugsrechte anerkennen und sie sogar noch erhöhen werde, nachdem die großfürstlichen Nichtstuer beiseite geschoben waren. Die „nationale" Revolution bedeutete in ihren Augen eine Palastrevolution. – Nikolaus und sein Alice sollten entfernt, die Klassendisziplin aber und die militärische Ranganbetung bestehen bleiben. Vor einigen Tagen verkündete der Telegraph, dass der griechische „Führer" Venizelos Griechenland als eine Republik mit dem König an der Spitze proklamiert habe. Die Brussilow. Gutschkow. Rodsjanko und Miljukow wollten dagegen Russland als eine vom Zaren befreite Monarchie herstellen. Doch die Bewegung entwickelte sich durchaus anders und ging tiefer. Der Februaraufstand der Petersburger Regimenter war nicht die Folge einer Verschwörung, sondern das Resultat der unruhigen Stimmung der ganzen Armee und der Volksmassen überhaupt. Und die Empörung der Arbeiter und Soldaten richtete sich nicht nur gegen den stupiden und angefaulten Zarismus, der nicht imstande war, den von ihm angezettelten Krieg weiter zu führen, sondern gegen den Krieg selbst. Die gewaltige Änderung, die die Revolution im Gemüt und Benehmen der Soldaten verursacht hatte, drohte nicht nur die unmittelbaren imperialistischen Kriegsziele zu gefährden, sondern auch das Werkzeug dieser Ziele, die alte Armee, zu vernichten, die ohne ihre Grundbedingungen, Befehle von oben und Kadavergehorsam von unten, nicht mehr lebensfähig war.

Heute wüten und rasen Generäle. Regimentskommandeure, Politiker des 3. Juni und bürgerliche Schmocks gegen den Befehl Nr. 115. Ihrer Meinung nach ist nicht der Befehl eine Folge der tiefsten Gärung in der Armee, sondern, im Gegenteil, ist die Gärung eine Folge des Befehls. In der Tat: noch bis zum gestrigen Tage gehorchten die Soldaten ihren Befehlen, und heute tun sie es nicht mehr; ist es nun nicht klar, dass sie sich irgendeinem neuen „Befehl" unterworfen haben, der nun als Nr. 1 gebucht wird? Dieser Kretinismus ersetzt jetzt den historischen Standpunkt bei den weitesten bürgerlichen Kreisen.

Die sogenannte Zersetzung der Armee äußerte sich in der Gehorsamsverweigerung gegen die Vorgesetzten und in der Nichtanerkennung des Krieges als ihres Krieges seitens der Soldaten. Gerade angesichts dieser Symptome schleuderte Kerenski der erwachenden Armee seine „aufständischen Sklaven" entgegen. Wenn die Bourgeoisie dachte, es würde genügen, Suchomlinow16 mit Gutschkow zu vertauschen, um die Armee wieder in den Wagen des Imperialismus zu spannen, so glaubte Kerenski in seiner kleinbürgerlichen Oberflächlichkeit und Selbstverliebtheit, dass, wenn er an die Stelle von Gutschkow treten würde, die Armee wieder zum gehorsamen Werkzeug in den Händen der Regierung werden würde. Wahrlich, naive Träumereien!

Die Revolution ist. wenn man sie vom Standpunkt der Massenpsychologie betrachtet, eine Verstandesrevision der ererbten Einrichtungen und Traditionen. Alle Leiden, Erniedrigungen und Entbehrungen, die der Krieg dem Volke und besonders der Armee gebracht hat. waren die Folgen des Willens des Zaren. Wenn man in Petersburg den Zaren selbst gestürzt hat, wie hätten dann die Soldaten nicht jene Offiziere stürzen sollen, die die eifrigsten und verbrecherischsten Durchführer des Systems des Zarismus waren! Wie hätten es die Soldaten unterlassen können, sich die Frage über den Sinn und den Zweck des Krieges zu stellen, wenn jener gestürzt war, von dem früher Krieg und Frieden abhing

Der Sowjet der Arbeiter- und Bauerndelegierten wandte sich am 14 März mit einem Manifest an die Volker Europas, das sie zum Kampf für einen demokratischen Frieden aufrief. Das war auch so ein „Befehl Nr. 1" auf dem Gebiete der Weltpolitik. Dieses Manifest war der Versuch, eine Antwort auf die brennende und unaufschiebbare Frage der Armee und des Volkes zu erhalten: soll der Krieg weiter geführt werden und wofür? Die Imperialisten aber stellen die Sache so dar, als ob ohne das Manifest diese Fragen in den doch schon vom Donner der Revolution erweckten Soldatenkopf nicht gekommen wären!

Miljukow sah wohl voraus, dass die Revolution die Kritikfähigkeit und die Selbständigkeit in der Armee wecken würde, was folglich eine Bedrohung für die imperialistischen Ziele des Krieges bedeutet hätte. Deshalb erklärte er sich in der vierten Duma offen gegen die Revolution. Und wenn Miljukow jetzt über den Befehl der Sowjets, das Friedensmanifest und Zimmerwald wütet, die die Armee vergiftet haben sollen, so ist das bei ihm eine bewusste Lüge. Miljukow versteht ausgezeichnet. dass das „Hauptgift" sich nicht in dem oder jenem „Befehl" der Sowjets versteckt hält, sondern in der Revolution selbst, die die leidenden Massen zu Protesten. Forderungen und Kampfbereitschaft zusammengeschlossen hat.

Der Prozess des innerlichen Umbaues der Armee und der politischen Orientierung der Soldatenmassen entlud sich an der Front in Form einer furchtbaren Katastrophe. Ihr unmittelbarer Anlass bestand im Widerspruch zwischen der imperialistischen Politik der provisorischen Regierung und dem Drang der Massen nach einem schnellen und „gerechten" Frieden. Die neue Disziplin und der echte Enthusiasmus in der Armee konnten sich nur aus der Revolution selbst entwickeln, aus der mutvollen Lösung ihrer inneren Probleme und aus ihrem Zusammenprall mit den äußeren Hindernissen. Die Massen und die Armee mussten fühlen und überzeugt sein, dass diese Revolution ihre eigene Revolution ist, dass die Regierung ihre Regierung ist, dass diese Regierung vor nichts zurückschreckt, um ihre Interessen gegen die Ausbeuter zu verteidigen, dass sie sich keine räuberischen äußeren Ziele setzt, dass sie vor den „alliierten Börsenjobbern" nicht den Nacken beugt und dass sie den Völkern den sofortigen Frieden auf demokratischer Grundlage anbietet. Dann würden die werktätigen Massen und die Armee durch das Gefühl unlöslicher Einigkeit verbunden sein, und wenn die deutsche Revolution uns nicht zeitig zu Hilfe kommen sollte, würde die russische Armee mit demselben Enthusiasmus gegen die Hohenzollern kämpfen, mit dem die russischen Arbeiter bereit sind, die Eroberungen des Volkes gegen die Attentate der Gegenrevolution zu schützen.

Die Imperialisten fürchteten diesen Weg wie den Tod, und sie hatten recht. Die plumpen Politiker des Kleinbürgertums glaubten nicht an diesen Weg. wie der kleine Budiker nicht an die Möglichkeit der Expropriierung der Banken glaubt. Dadurch, dass sie sich von den „Utopien", das heißt, von der Politik der weiteren Entwicklung der Revolution lossagten, trieben die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki gerade jene Politik der Zwitterhaftigkeit, die zur Katastrophe geführt hat.

Man hatte dem Soldaten gesagt, und mit Recht gesagt, dass es sich auf beiden Seiten um einen imperialistischen Krieg handelt und dass die russische Regierung durch finanzielle, diplomatische und militärische Verträge gebunden sei (die den Völkern aller Länder den größten Schaden zufügen); man sagte das dem Soldaten und fügte hinzu: „Bis auf Weiteres sollst du auf der Grundlage der alten Verträge kämpfen, Hand in Hand mit den früheren Verbündeten." Also der Soldat, der ins Feuer geht, geht „bis auf Weiteres" dem Tode entgegen. Dieses höchste Opfer kann aber nur der Soldat bringen, der von der Atmosphäre des Kollektiventhusiasmus getragen wird, und dieser ist nur möglich unter der Bedingung tiefster Durchdrungenheit von der Richtigkeit der eigenen Sache. Die Revolution hat die Psychologie des gedankenlosen „geheiligten Viehs" vernichtet. Kein Kornilow, kein Kaledin wird die Geschichte rückwärts bewegen und die Henkerdisziplin wieder herstellen können, selbst für kurze Zeit nicht, ohne die furchtbarsten Strafen einzuführen, die eine Ausdehnung des blutigen Chaos bedeuten würden. Die Armee hätte als kampffähige Einheit nur in dem Falle erhalten werden können, wenn neue Ziele, neue Methoden, neue Organisationsformen sie innerlich regeneriert hätten. Es war eben unbedingt notwendig, aus der Revolution alle Konsequenzen zu ziehen. Jene Geschäftsführung der Halbheit und der Doppelzüngigkeit, die für die Armee von der Provisorischen Regierung unter Anteilnahme der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki geschaffen wurde, trug den Keim zur unvermeidlichen Katastrophe in sich. Man hatte die Armee kritikfähig gemacht und ihr die Möglichkeit öffentlicher Aussprache gegeben. Zur gleichen Zeit stellte man ihr ein Ziel, das die revolutionäre Kritik nicht aushielt und verlangte von ihr, der erschöpften, hungrigen und nackten Masse, eine übermenschliche Anstrengung. Konnte man denn an dem Resultat zweifeln, umso mehr als einige Stabsgeneräle bewusst eine „Niederlagentaktik" verfolgten?

Doch die provisorische Regierung berauschte sich an pathetischen Schönredereien. Die Herren Minister hielten die Soldatenmassen, die sich im Zustand tiefster Gärung befanden, für Material, aus dem man alles machen konnte, was den das unglückliche. zerstörte Land umgarnenden eigenen und fremden Imperialisten genehm war. Kerenski beschwor, drohte, warf sich auf die Knie, küsste den Boden und gab dabei den Soldaten nicht eine einzige Antwort auf alle sie quälenden Fragen. Er betrog sich selbst durch billige Effekte, er versicherte sich der Unterstützung des Sowjetkongresses, auf dem trotz aller „Vorsicht" ein leichtsinniger kleinbürgerlicher Geist herrschte und kommandierte die Offensive. Das war im vollen Sinne des Wortes der „Befehl Nr. 1" der russischen Gegenrevolution.

Am 4. Juni gaben wir, die Internationalisten, auf dem Sowjetkongress eine Deklaration über die geplante Offensive ab, in der wir neben prinzipieller Kritik klar zu machen suchten, dass bei dem gegebenen Zustand der Armee diese Offensive ein militärisches Abenteuer sei. das die Existenz der Armee bedrohte. Es stellte sich heraus, dass wir nur allzu sehr recht hatten. Die Regierung hat nichts berechnet, nichts vorausgesehen – Die Regierungsparteien der Menschewisten und Sozialrevolutionäre hetzten gegen uns auf, anstatt auf unsere Worte zu hören. Als die von den Bolschewiki vorausgesehene Katastrophe eintraf, beschuldigte man die – Bolschewiki. Nach der durch Leichtsinn und Verantwortungslosigkeit hervorgerufenen Tragödie entrollte sich vor uns ein Bild der widerwärtigsten Feigheit. Alle Schicksalslenker des Landes beeilten sich, die Schuld auf einen dritten zu wälzen. Die offiziösen Reden und Zeitungsartikel jener Tage werden für immer Denkmäler menschlicher Erbärmlichkeit bleiben.

Das dumpfe Bürgertum kann natürlich eine Zeitlang durch die Bolschewistenhetze benebelt werden. Dadurch wird aber die Verantwortung der Regierung weder verdrängt noch geschwächt. Mögen die Bolschewiki schuld sein oder nicht, wieso aber hat die Regierung nichts vorausgesehen? Folglich hatte sie selbst keine Ahnung von der Armee, die sie in den Kampf geschickt hat. Ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, ob die Armee zur Offensive übergehen konnte, schickte man sie ins Feuer. An der Spitze der Regierung standen keine Bolschewiki. Wie sich also die Sache mit diesen auch verhalten haben mag. so fällt doch die ganze Wucht der Verantwortung für das tragische Abenteuer auf die Regierung Kerenski-Zeretelli-Tschernow zurück.

Diese Verantwortung wird noch dadurch verstärkt, dass die Warnungen nicht nur von den Internationalisten ausgingen. Die „Nowoje Wremja", die in engster Fühlung mit dem reaktionären Generalsstab stand, plauderte am 5. August folgendes über die Vorbereitung der Offensive aus.

Der vorsichtige Alexejew, der nicht gewillt war, für Schlachten unvorbereitete Männer in den Tod zu schicken, der das schon Eroberte nicht riskieren wollte, um neue, problematische Erfolge zu suchen – Alexejew ist entlassen. Die trügerische Vorstellung des Sieges, der Drang nach baldigem Frieden, den Deutschland aus den Händen der Petersburger Führer annehmen „musste", haben Brussilow emporgetragen, der von der zurück flutenden Welle wieder weggespült wurde."

Diese vielsagenden Zeilen erklären und bestätigen die Meldung der „Rjetsch" im Moment der Demission Alexejews über den Weggang des „vorsichtigen Strategen", der von einem von Bedenken nicht angekränkelten „Kavalleristen" ersetzt wurde. Die Kadetten erzwangen die Offensive, verstanden es aber gleichzeitig, sich von der „kavalleristischen" Politik und Stratege zu trennen, um so ihren demonstrativen Austritt aus dem Ministerium am 2. Juli vorzubereiten. Die „sozialistischen" Minister aber erklärten die Ablösung der Oberbefehlshaber, die durch die Bedürfnisse des Offensivabenteuers notwendig geworden war, dadurch, dass, wie sie der „revolutionären Demokratie" ins Ohr flüsterten, der Monarchist Alexejew durch den „echten Demokraten" Brussilow ersetzt wäre. So wird Weltgeschichte gemacht.

Nachdem man „für Schlachten unvorbereitete Männer in den Tod geschickt hatte" (nach dem Ausdruck der „Nowoje Wremja) und fürchterliche Folgen eintrafen, blieb nichts anderes übrig, als Dan, Liber und anderen patriotischen Phraseuren nahe zu legen, eine Pogromhetze gegen die Bolschewiki zu entfalten. Das ist jener Teil der „schöpferischen Arbeit", der Vaterlandsverteidigung. die solchen „Führern". wie den genannten ziemt. Mit der äußersten Anstrengung, alle bürgerlichen Hetzer zu überschreien, enthüllten die Dan und die Liber jene „Demagogen", die in die „dunklen Soldatenmassen" Parolen geworfen hätten, wie die Notwendigkeit, die Geheimverträge zu veröffentlichen, mit den Imperialisten zu brechen usw. „Das stimmt alles, wiederholten nach ihnen die bürgerlichen Hetzer, aber das bezieht sich ja alles sowohl auf den Befehl Nr. 1 als auch auf das Manifest vom 14. März17, das ihr selbst demagogisch in die dunklen Soldatenmassen geworfen habt." Daraufhin geben sich die Dan und die Liber, den kalten Schweiß sich von der Stirn wischend, die größte Muhe, sich an das Alphabet des revolutionären Denkens zu erinnern, um mit Entsetzen zu bemerken, dass sie untere eigenen Worte wiederholen müssen. Und das ist eine fatale Sache: denn unsere Parolen entsprangen nur logisch der Entwicklung der Revolution, auf deren Weg der Befehl und das Manifest der Sowjets nur die ersten Wegweiser waren …

Aber das Allermerkwürdigste ist auf den ersten Blick, dass trotz der fürchterlichen Folgen der Offensive, die „sozialistischen" Minister fortfahren, sie als etwas Positives zu betrachten und in den Unterhandlungen mit der Bourgeoisie auf die Offensive wie auf ein großes patriotisches Verdienst hinzuweisen.

Ich frage." rief in Moskau Zeretelli aus. „wem es leichter fiel, die Armeen des russischen revolutionären Staates in Bewegung zu bringen: dem Kriegsminister Gutschkow oder dem Kriegsminister Kerenski?" („Bravo!" Händeklatschen!).

Zeretelli prahlt auf diese Weise offen damit, dass Kerenski dieselbe Armee vernichtete, die eigentlich Gutschkow hatte vernichten müssen, eine Arbeit, der er Gutschkow, der nicht den Kredit der „revolutionären Demokratie" besaß, eben nicht gewachsen war. Und die Bourgeoisie erkannte die Verdienste Kerenskis gern an, trotz der durch die Offensive hervorgerufenen Katastrophe.

Wir wissen, und wir erinnern uns – erklärte in Moskau der Kadett Nabokow – dass vor zwei Monaten jener große Elan der russischen Armee, der einen hellen Schein in diese furchtbare Zeit wirft, durch den Mann inspiriert wurde, der an der Spitze der Provisorischen Regierung steht. Die Weltgeschichte wird ihm das nicht vergessen."

Es wird daraus klar ersichtlich, dass der „helle Schein" der Offensive des 18. Juni in keinerlei Beziehung zur Landesverteidigung stand, denn die militärische Lage Russlands hatte sich nach der Offensive nur verschlechtert. Wenn die Bourgeoisie trotzdem die Anerkennung über die Offensive spricht, so gerade deshalb, weil der grausame Schlag, den unsere Armee erlitt, günstige Bedingungen für gegenrevolutionäre Experimente schuf. Die ganze Autorität der sozialrevolutionären und menschewistischen Demokratie wurde auf die Erzwingung der Offensive gerichtet, und diese traf dann in der Wurzel jenes widerspruchsvoll-schwankende Regime, auf deren Unterstützung die kleinbürgerlichen Führer so viele kleinliche Erfindungskraft verschwendet hatten.

Sowohl die Offensive wie auch die Friedensfrage werden augenblicklich von der Bourgeoisie und ihren Generälen vom Standpunkt der inneren Politik, das heißt der weiteren Entwicklung der Gegenrevolution, betrachtet. Das hat am klarsten General Kornilow auf der Moskauer Beratung ausgesprochen. „Der Frieden kann jetzt schon aus dem Grunde nicht erlangt werden.“ sagte er, „weil wir nicht imstande sind, die Demobilisierung durchzuführen. – Es ist notwendig, das Prestige der Offiziere zu heben." In der Armee sind zu viel vom Staate bewaffnete Männer konzentriert, die an den Staat radikale Forderungen stellen. Nur die Fortführung des Krieges wird, von den militärischen Chancen durchaus abgesehen, die Möglichkeit geben, das Prestige der Offiziere zu heben, die Soldatenmassen zum Gehorsam zu zwingen und eine solche Demobilisierung durchzuführen, bei der die Soldaten nicht imstande sein werden, die Rechte des Besitzes und des imperialistischen Staates zu bedrohen, und wenn man auf diesem Wege den Separatfrieden gebrauchen kann, wird ihn die Bourgeoisie schließen. ohne mit der Wimper zu zucken.

Seit dem 18. Juni marschiert die Gegenrevolution mit voller Sicherheit vorwärts. Und sie wird nicht zum Stehen kommen, bis sie nicht einen wuchtigen Faustschlag vor die Brust erhalten hat.

VI.

Was nun weiter?18

Wenn diese Zeilen den Leser erreichen, wird die Moskauer Beratung schon vorüber sein. Es unterliegt beinahe keinem Zweifel, dass die jetzige Regierung, in der sich die schwankende und boshafte Unzulänglichkeit verkörpert, den Moskauer Stoß nicht aushalten und neue Veränderungen erfahren wird. Nicht umsonst erklärt der General Kornilow, dass man eine neue Krise der Macht nicht zu fürchten brauche. Diese Krisis kann im nächsten Augenblick sehr leicht durch eine Verschiebung nach rechts gelöst werden. Wird dabei Kerenski eine Zusatzration zu der Unabhängigkeit von der organisierten Kontrolle der Demokratie erhalten, eine Kontrolle, die durch jene wirkungsvollere versteckte Kontrolle der imperialistischen Cliquen ersetzt werden wird: wird die neue Regierung in bestimmte Beziehungen zu jenem Generalstab der besitzenden Klassen, der ohne Zweifel durch die Moskauer Beratung entstehen wird, treten. Wie wird sich der Zusatz der „sozialistischen" Bonapartisten in der neuen Regierungskoalition zusammensetzen? – All das sind Fragen untergeordneter Bedeutung. Aber selbst wenn der Ansturm der Bourgeoisie zurückgeschlagen und die Moskauer Beratung mit dem abermaligen Weggang der Kadetten aus der Regierung enden würde, selbst dann wurde die der „revolutionären" Demokratie aufgebürdete Macht noch keine revolutionär-demokratische Macht bedeuten. An Händen und Füßen durch ihre Verpflichtungen gegen die Börse und die Diplomatie der Alliierten gebunden und behangen mit dem Ballast der Repressalien gegen Arbeiter und Bauern, wurden die offiziellen Sowjetführer ihre Politik des Zwiespalts und des Ausweichens weiterführen. Konowalow übertrug nur nach Verlassen des Ministeriums seine Mission auf Suchelew. Das Ministerium Kerenski-Zeretelli wurde auch ohne die Kadetten das Halbkadettenprogramm durchführen. Ihr Weggang allein genügt nicht. Man braucht den Zustrom neuer Kräfte und neuer Methoden.

Die Moskauer Beratung bedeutet jedenfalls den Abschluss einer ganzen Revolutionsepoche. in der die führende Rolle der sozialrevolutionären und menschewistischen Taktik zufiel. Diese Taktik des Paktierens mit der Bourgeoisie führte zum Verzicht auf die selbständige Losung der Aufgaben der Revolution, die der Idee der Koalition mit den Feinden der Revolution unterworfen wurden.

Die russische Revolution ist unmittelbar aus dem Krieg emporgewachsen. Der Krieg hat für sie die geeignete Form einer allgemeinen Volksorganisation geschaffen: die Armee. Die Hauptmasse der Bevölkerung, das Bauerntum, erwies sich im Moment des Ausbruchs der Revolution zwangsorganisert. Die Sowjets der Soldatendelegierten riefen die Armee zur politischen Arbeit auf, und die Bauernmassen schickten automatisch in die Sowjets halb liberale Intellektuelle, die die Formlosigkeit der Erwartungen und Hoffnungen des Bauerntums in jämmerliches, kriecherisches Anpassungsgestammel kleideten. Die kleinbürgerliche Intelligenz, selbst durch und durch von der großen Bourgeoisie abhängig, bekam die Führung der Bauern in die Hände. Die Sowjets der Soldaten-Bauerndelegierten bekamen ein numerisches Übergewicht über die Arbeitervertretung. Die Petersburger proletarische Avantgarde wurde eine dunkle Masse genannt. Als Blüten der Revolution prangten die März-Sozialrevolutionäre und die menschewistischen Intellektuellen aus der Provinz, die sich auf die Bauern stützten. Auf diesem Fundament erhob sich auf dem Wege der Zwei- und Dreistufenwahlen das Zentralexekutivkomitee. Der Petersburger Sowjet, dessen Arbeit in der ersten Periode sich auf ganz Russland erstreckte, stand immerhin noch unter dem unmittelbaren Druck der revolutionären Massen. Das Zentralkomitee dagegen schwebte auf revolutionär-bürokratischen Höhen, getrennt von den Petersburger Arbeitern und Soldaten und feindlich gegen sie gesonnen.

Es genügt, daran zu erinnern, dass das Zentralkomitee es für notwendig hielt, Militär von der Front herbeizurufen, um die Petersburger Demonstration zu liquidieren, die im Moment des Herannahens des Militärs, schon de facto von den Demonstranten selbst erledigt war Die kleinbürgerlichen Führer haben sich politisch dadurch vernichtet, dass sie Aufruhr, Anarchie und Unruhestiftung dann erblickten, wo nur ein aus der ganzen Situation erklärliches Streben, die Revolution mit einem Machtapparat auszurüsten, vorhanden war. Durch die Entwaffnung der Petersburger Arbeiter und Soldaten haben Zeretelli, Dan und Tschernow die Avantgarde der Revolution entwaffnet und dem Einfluss ihres eigenen Exekutivkomitees eine unheilbare Wunde geschlagen. Jetzt, angesichts der sie bedrängenden Gegenrevolution, sprechen diese Politiker über de Wiederherstellung der Autorität und der Bedeutung der Sowjets. Als aktuelle Lösung proklamieren sie die Sammlung der Massen um die Sowjets. Doch diese inhaltslose Stellungnahme ist tief reaktionär. Durch den formalen Aufruf zur Sammlung soll die Frage über die politischen Aufgaben und Kampfmethoden umgangen werden. Die Massen unter der Parole der „Hebung der Sowjetautorität" zu organisieren, ist eine kümmerliche und unfruchtbare Idee. Jene glaubten an die Sowjets, folgten ihnen und hoben sie auf eine unglaubliche Höhe. Nachher konnten sie die Kapitulation der Sowjets vor ihren schlimmsten Feinden beobachten. Es wäre aber eine Kinderei, anzunehmen, dass die Masse schon einmal erprobte historische Erfahrungen wiederholen konnte oder möchte. Damit das Schwinden ihres Vertrauens zu den jetzigen führenden Zentren der Demokratie sich nicht in ein Schwinden des Vertrauens zur Revolution selbst verwandle, ist es unbedingt notwendig, der Öffentlichkeit eine kritische Bewertung der gesamten politischen Arbeit in der Revolution zu unterbreiten, und das kann nur eine erbarmungslose Verurteilung alles dessen sein, was die sozialrevolutionären und menschewistischen Führer unternahmen.

Wir sagen den Massen: die anderen Parteien beschuldigen die Bolschewiki; warum sind sie aber machtlos gegen die Bolschewiki? Sie hatten für sich nicht nur die Mehrheit in den Sowjets, sondern auch die Regierungsgewalt und wurden nichtsdestoweniger ein Opfer der imaginären „Verschwörung" eines sogenannten kleinen Häufleins Bolschewisten.

Nach den Ereignissen des 3. bis 5. Juli sind die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki in Petersburg noch schwächer – die Bolschewiki noch stärker geworden. Auch in Moskau verhält es sich so. Daraus geht hervor, dass der Bolschewismus in seiner Politik die tatsächlichen Bedürfnisse der fortschreitenden Revolution zum Ausdruck bringt, während die Sozialrevolutionär-menschewistische „Mehrheit" höchstens die geistige Hilflosigkeit und Zurückgebliebenheit der Massen festhält. Und heute durchaus schon nicht mehr festhält, denn sie arbeitet mit den zügellosesten und brutalsten Repressalien. Diese Leute kämpfen gegen die innere Logik der Revolution und sind eben deshalb in einem Lager mit ihren Klassenfeinden zu finden. Wir sind verpflichtet, das Vertrauen zu ihnen zu untergraben, gerade um das Vertrauen zu der Revolution zu erhalten.

Wie inhaltslos die nackte Parole von der Unterstützung der Sowjets ist. wird am deutlichsten aus den gegenseitigen Beziehungen des Zentralexekutivkomitees und des Petersburger Sowjets ersichtlich. Der letztere stützt sich auf die Avantgarde der Arbeiterklasse und der mit ihr verbundenen Soldaten und entwickelt sich immer entschiedener zur unzweideutigen revolutionären Sozialdemokratie, und nur deshalb untergräbt das Zentralexekutivkomitee systematisch seine Autorität. Monatelang beruft man ihn nicht ein, und man hat ihn seines Organs „Iswestija" tatsächlich beraubt. Die rasende bürgerliche Presse erniedrigt und bespeit tatsächlich die Führer des Petersburger Proletariats, und „Iswestija" sieht und hört nichts davon. Was kann unter diesen Umständen die Parole bedeuten, die Sowjets zu unterstützen? Nur das eine: die Unterstützung des Petersburger Sowjets gegen das bürokratisierte, in seinem Bestand unveränderliche Zentralexekutivkomitee. Man muss dem Petersburger Sowjet die vollständige Unabhängigkeit der Organisation, seiner Schutzmacht und seiner politischen Handlungen wieder erkämpfen.

Dies ist das allerwichtigste Problem, das in der nächsten Zukunft gelöst werden muss. Der Petersburger Sowjet muss das Zentrum der neuen revolutionären Mobilisation der Arbeiter. Soldaten und Bauernmassen für den Kampf um die Macht sein.

Man muss mit allen Kräften die Initiative der Fabrikkomitees unterstützen für die Zusammenberufung des Allrussisches Kongresses der Arbeiterdelegierten. Damit das Proletariat für seine Politik die armen Bauern und Soldaten zu gewinnen vermag, muss seine Politik scharf und unversöhnlich der Taktik des Zentralexekutivkomitees gegenübergestellt werden.* Das kann jedoch nur dann erreicht werden, wenn das Proletariat als Klasse sich seine eigene zentralisierte Organisation im Reichsmaßstabe schafft. Wir können gewiss nicht alle Abweichungen und Zickzacke des historischen Weges voraussehen. Als politische Partei sind wir für den Gang der Geschichte nicht verantwortlich. Um so größer ist unsere Verantwortlichkeit vor dem Proletariat, als es unsere grundlegende Pflicht ist, es fähig dazu zu machen, seine Aufgaben allen Zickzacks des historischen Weges zum Trotz zu lösen. Das ist unsere politische Pflicht und Schuldigkeit.

Die regierenden Klassen tun zusammen mit der Regierung der „Rettung" alles, was von ihnen abhängt, um unfreiwillig das politische Problem in aller Schärfe nicht nur vor die Augen der Arbeiter, sondern auch der Soldaten und der Bauern zu stellen. Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki tun alles, um die Unzulänglichkeit ihrer Politik vor den breitesten Schichten der werktätigen Bevölkerung bloßzustellen. Von unserer Partei, ihrer Energie, Ausdauer und Beharrlichkeit hängt es jetzt ab, alle nötigen Konsequenzen aus der Lage zu ziehen und an der Spitze der gepeinigten und unglücklichen Massen den entscheidenden Kampf für ihre revolutionäre Diktatur aufzunehmen.

Der Charakter der russischen Revolution.19

Die liberalen und sozialrevolutionär-menschewistischen Politiker und Schmocks sind sehr besorgt darüber, wie die soziologische Wertung der russischen Revolution zu definieren sei: ist es eine bürgerliche Revolution? Oder wenn nicht, was für eine sonst? Auf den ersten Blick könnte dieses theoretische Interesse rätselhaft erscheinen. Für die Liberalen wäre es doch eigentlich nicht so dringend, den Klassencharakter „ihrer" Revolution aufzudecken. Was aber die kleinbürgerlichen „Sozialisten betrifft, so lassen sie sich in ihrer Tätigkeit im allgemeinen nicht durch theoretische Analyse, sondern durch den „gesunden Menschenverstand" leiten, der jedoch nur ein Pseudonym für Beschränktheit und Prinzipienlosigkeit ist. Der Kern der Sache ist aber der, dass die von Plechanow inspirierten Miljukow-Danschen Erörterungen über den bürgerlichen Charakter der russischen Revolution außer dem Schein nicht ein Milligramm Theorie enthalten. Weder „Jedinstwo", noch „Rjetsch" noch „Djen"20, noch die trauernde „Rabotschaja Gazeta" geben sich die geringste Mühe, festzustellen, was sie unter bürgerlicher Revolution verstehen. Der Zweck ihrer Schreibereien ist ein ganz praktischer: das „Recht" der Bourgeoisie auf den Besitz der Macht zu beweisen. Obwohl die Sowjets die Mehrheit der politisch interessierten Bevölkerung darstellen, obwohl bei allen demokratischen Wahlen in Stadt und Land die kapitalistischen Parteien krachend durchfallen, so will man dennoch, „weil unsere Revolution eine bürgerliche ist", politische Privilegien für die Bourgeoisie sicherstellen und ihr einen Platz in der Regierung sichern, der ihr nach der politischen Gruppierung im Lande nicht im Geringsten zukommt. Würde man entsprechend der Prinzipien des demokratischen Parlamentarismus handeln, so ist es klar, dass die Macht den Sozialrevolutionären allein oder ihnen mit den Menschewiki zusammen gehören musste. Aber weil „unsere Revolution eine bürgerliche ist", so werden die Prinzipien der Demokratie vergessen. Den Vertretern der erdrückenden Mehrheit des Volkes werden in den Ministerien fünf Plätze zugewiesen und den Vertretern einer nichtssagenden Minderheit mehr als doppelt so viel. Zum Teufel die Demokratie – es lebe die Plechanowsche Soziologie.

Kann man denn eine bürgerliche Revolution ohne die Bourgeoisie machen?" fragt mit schmeichelnder Stimme Plechanow, sich auf die Dialektik und auf Engels berufend.

Das ist es eben," fällt ihm Miljukow ins Wort – „wir Kadetten wären bereit, auf die Macht zu verzichten, die uns das Volk nicht geben will, aber gegen die Wissenschaft können wir nicht handeln." Dabei beruft er sich auf den Plechanowschen „Marxismus".

Weil unsere Revolution eine bürgerliche ist, so ist eine Koalition der werktätigen Massen mit den Ausbeutern nicht zu umgehen." erklären Plechanow, Potressow und Dan. Und bei der Beleuchtung einer solchen 'Soziologie" gewinnt der komödiantenhafte Händedruck zwischen Zeretelli und Bublikow21 erst seine historische Bedeutung.

Ärgerlich ist es nur, dass dieselben Menschewiki aus dem bürgerlichen Charakter der Revolution, durch den jetzt die Koalition der Sozialisten mit den Kapitalisten erklärt wird, jahrelang entgegengesetzte Schlussfolgerungen gezogen haben.

Sie sagten: da in einer bürgerlichen Revolution die Staatsmacht keine andere Aufgabe haben kann als die Sicherstellung der Macht der Bourgeoisie, so ist es klar, dass die Sozialdemokraten da nichts zu suchen haben. Ihr Platz ist nicht in der Regierung, sondern in der Opposition. Plechanow meinte, dass Sozialisten unter keinen Bedingungen an einer bürgerlichen Revolution teilnehmen können, und machte Kautsky, dessen Resolution22 in diesem Punkte einige Abweichungen zuließ, die heftigsten Vorwürfe. „Nach der Zeit und dem Gesetz tritt eine Änderung ein," sagten die kleinen bürokratischen Selbstherrscher der alten Zeit. Es scheint, das gleiche geschieht mit den „Gesetzen" der Plechanowschen Soziologie. Wie grundverschieden die vorrevolutionäre und augenblickliche Auffassung der Menschewiki und ihres Inspirators Plechanow auch sein mag, der „Gedanke", dass man die bürgerliche Revolution nicht ohne die Bourgeoisie machen könne, besteht bei ihnen weiter. Auf den ersten Blick kann dieser Gedanke als ein Axiom erscheinen. In der Tat aber ist er nur eine Dummheit.

Die Geschichte der Menschheit fangt nicht mit der Moskauer Beratung an. Es hat auch früher Revolutionen gegeben. Am Ende des 18. Jahrhunderts entrollte sich in Frankreich eine Revolution, die man. nicht ganz grundlos, die „große" nennt. Es war eine bürgerliche Revolution. Die Macht ging zu einer bestimmten Zeit an die Jakobiner über, die sich auf die Sansculotten stützten. Sie errichteten zwischen sich und den Girondisten, das heißt dem liberalen Teil der Bourgeoisie, den damaligen Kadetten, das viereckige Gerüst der Guillotine Nur die Diktatur der Jakobiner verlieh der ersten französischen Revolution ihre Hauptbedeutung, stempelte sie zur großen Revolution. Und trotzdem konnte diese Diktatur nicht ohne die Bourgeoisie verwirklicht werden, sondern nur unmittelbar gegen sie. Robespierre, der nicht dazu gekommen war, sich die Plechanowschen Ideen anzueignen, durchbrach alle Gesetze der Soziologie und, anstatt mit den Girondisten Händedrücke zu wechseln, ließ er sie köpfen. Das war ohne Zweifel überaus grausam. Doch diese Grausamkeit hinderte de französische Revolution nicht, die „große Revolution" zu werden, ohne ihren bürgerlichen Charakter zu überschreiten. Marx, dessen Namen bei uns jeder Schmock missbraucht, schrieb, dass „der ganze französische Terror" nichts anderes gewesen sei, als ein plebejisches Mittel, die Feinde der Bourgeoisie niederzuringen" …

Und da die Bourgeoisie diese plebejischen Methoden, mit den Volksfeinden fertig zu werden, fürchtete, so entfernten die Jakobiner sie nicht nur von der Macht, sondern wandten eiserne Maßnahmen gegen sie selbst an, und zwar jedes Mal, wenn sie versuchte, die Arbeit der Jakobiner lahmzulegen oder zu „mildern“. Es ist klar: die Jakobiner machten die bürgerliche Revolution ohne die Bourgeoisie.

Engels schrieb bezüglich der englischen Revolution von 1648: „Damit die Bourgeoisie jene Früchte erntete, die damals gereift waren, war es notwendig, dass die Revolution über ihr ursprüngliches Ziel weit hinausging, genau so, wie es 1793 in Frankreich und 1848 in Deutschland der Fall gewesen ist. Das scheint in der Tat eines der Gesetze für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zu sein." So sehen wir, dass das Engelssche Gesetz im geraden Widerspruch zur Plechanowschen Weisheit steht, die die Menschewiki für Marxismus halten und ausgeben.

Gewiss kann man einwenden, die Jakobiner selbst hätten zur Bourgeoisie, wenn auch zur kleinen, gehört. Das stimmt vollkommen. Aber ist denn die „revolutionäre Demokratie", die von den Sozialrevolutionären und Menschewisten vertreten wird, etwas anderes? Zwischen den Kadetten, der Partei der großen und mittleren Eigentümer einerseits und den Sozialrevolutionären anderseits hat sich bei allen Wahlen in der Stadt und auf dem Lande keine Zwischenpartei herausgebildet. Daraus geht mit mathematischer Klarheit hervor, dass das Kleinbürgertum seine politische Vertretung in der Partei der Sozialrevolutionäre gefunden hat. Die Menschewiki, deren Politik sich nicht im Geringsten von derjenigen der Sozialrevolutionäre unterscheidet, vertreten ebenfalls die Interessen dieser Klasse. Das steht keineswegs in Widerspruch mit der Tatsache, dass hinter ihnen ein Teil der am meisten zurückgebliebenen oder konservativ-privilegierten Arbeiter steht. Warum konnten aber die Sozialrevolutionäre nicht die Macht ergreifen? In welchem Sinne und warum zwang der „bürgerliche" Charakter (wenn man diese Bezeichnung gelten lassen will) der russischen Revolution die Sozialrevolutionäre und Menschewisten dazu, die plebejischen Methoden der Jakobiner mit den hoffähigen Methoden des Paktierens mit der gegenrevolutionären Bourgeoisie zu vertauschen? Ist es nicht klar, dass die Erklärung dazu nicht im „bürgerlichen" Charakter unserer Revolution zu suchen ist, sondern in den Jammergestalten unserer kleinbürgerlichen Demokratie. Anstatt den Besitz der Macht zur Verwirklichung historischer Aufgaben auszunutzen, hat unsere Pseudodemokratie ihre tatsächliche Ausübung ehrfurchtsvoll den gegenrevolutionären, militärisch-imperialistischen Clique überlassen, und Zeretelli prahlte sogar bei der Moskauer Beratung damit, dass die Sowjets die Macht nicht notgedrungen, nicht nach mutvollem Kampf und darauf folgender Niederlage preisgegeben hatten, sondern freiwillig, als Zeichen des politischen „Sichbeschränkenkönnens". Die Gutmütigkeit des Lämmleins, das, freiwillig seinen Nacken dem Schlächtermesser ausliefert, ist aber nicht jene Tugend, die neue Welten erobert!

Der Unterschied zwischen den Terroristen des Konvents und den Besiegten der Moskauer Beratung gleicht ungefähr dem Unterschied zwischen Tigern und Kälbern im verschiedenen Stadium der Mannbarkeit. Doch das ist von nebensächlicher Bedeutung. Entscheidend dagegen ist der Unterschied zwischen den Klassen, aus denen die Demokratie sich damals und jetzt zusammensetzte. Die Jakobiner stützten sich auf ärmliche und besitzlose Klassen, in denen auch das damalige, noch nicht als Klasse kristallisierte Proletariat einbegriffen war. Bei uns hat sich das Industrieproletariat aus der formlosen Demokratie als selbständiger, historischer Faktor von größter Bedeutung herausgeschält. Die kleinbürgerliche Demokratie hat im selben Masse die kostbaren, revolutionären Eigenschaften eingebüßt, in dem das aus ihr herausgewachsene Proletariat sie in sich entwickelt hat. Diese Erscheinung ist wiederum das Resultat einer unvergleichlich höheren Stufe der kapitalistischen Entwicklung Russlands im Vergleich zum Frankreich des 18. Jahrhunderts. Die revolutionäre Bedeutung des russischen Proletariats, die gewiss nicht nach seiner zahlenmäßigen Größe gemessen werden kann, erklärt sich aus der ungeheuren produktiven Kraft, die besonders deutlich im Laufe des Krieges zutage getreten ist. In unseren Tagen erinnert wiederum die Drohung mit dem Eisenbahnerstreik an die Abhängigkeit des ganzen Landes von der konzentrierten Arbeit des Proletariats. Die kleinbürgerliche Bauernpartei geriet seit den ersten Tagen der Revolution unter das Kreuzfeuer der mächtigen Gruppierungen der imperialistischen Klassen einerseits und des revolutionär-internationalistischen Proletariats anderseits. Um Einfluss auf die Arbeiter zu gewinnen, betonte die kleinbürgerliche Partei mehr ihre „staatsmännische Einsicht", ihren „Patriotismus", und geriet auf diese Weise in sklavische Abhängigkeit vom gegenrevolutionären Kapital. Zugteich verliert sie vollständig die Möglichkeit der tatsächlichen Liquidierung der verschiedenen Formen, selbst der alten Barbarei, die die Volksmassen, die sie noch hinter sich hat, in ihrem Bann halten. Der Kampf der Sozialrevolutionäre und Menschewiki um den Einfluss auf das Proletariat wird immer mehr zurückgedrängt durch den Kampf der proletarischen Partei um die Führung der halbproletarischen Massen des Landes und der Städte. Dadurch, dass sie die Macht „freiwillig" an die Bourgeoisie abtrat, blieb der Sozialrevolutionären und menschewistischen „Demokratie" nichts anderes übrig, als ihre revolutionäre Mission gänzlich an die Partei des Proletariats abzutreten. Das allein zeigt zur Genüge, dass der Versuch, die grundlegenden Fragen der Taktik durch die Bezugnahme auf den „bürgerlichen" Charakter unserer Revolution zu lösen, nur dazu dienen können, um zurückgebliebene Arbeiter zu narren und die Bauern zu betrügen.

In der französischen Revolution von 1848 macht das Proletariat schon heroische Anstrengungen zu einer selbständigen Aktion. Aber es besaß weder eine klare, revolutionäre Theorie, noch eine autoritative Klassenorganisation. Seine Bedeutung im Produktionsprozess war noch unermesslich viel geringer als die wirtschaftliche Bedeutung des russischen Proletariats. Außerdem war den Ereignissen von 1848 schon die große Revolution vorausgegangen, die auf ihre Weise die Agrarfrage gelöst hatte, was sich sofort in der schnellen Isolierung des Stadtproletariats von den Volksmassen bemerkbar machte. Unsere Lage ist in dieser Beziehung unvergleichlich günstiger. Die agrarische Versklavung, die Standesvorurteile, der Kastengeist und die Räubergelüste der Kirche stehen vor der Revolution als Fragen, die eine entschiedene und erbarmungslose Lösung verlangen Die äußerste „Isolierung" unserer Partei von den sozialrevolutionären Menschewiki, selbst die Isolierung in den Gefängniszellen, bedeutet noch keinesfalls die Isolierung des Proletariats von den unterjochten Land- und Stadtmassen. Im Gegenteil: nur die scharfe Gegenüberstellung der Politik des revolutionären Proletariats und des treubrüchigen Verrates der jetzigen Sowjetführer kann die rettende politische Differenzierung (Gliederung) in die Bauernmassen tragen, kann die Dorfarmen aus der Einflusssphäre der festen sozialrevolutionären Bäuerleins befreien und kann das sozialistische Proletariat zum tatsächlichen Führer der „plebejischen" Volksrevolution gestalten

Und schließlich sagen uns die leeren Schwätzereien über den bürgerlichen Charakter der russischen Revolution nichts über ihre internationale Einstellung. Und doch ist das die wichtigste Frage. Die große, jakobinische Revolution hatte neben sich und gegen sich das zurückgebliebene, feudale, monarchistische Europa. Das jakobinische Regime fiel und verwandelte sich in das bonapartistische Regime – unter der Wucht jener übermenschlichen Anstrengung, die es aushalten musste, um sich gegen die vereinigten Mächte des Mittelalters zu wehren. Die russische Revolution dagegen hat gegen sich das ihr weit voran geeilte Europa, das die höchste Stufe der kapitalistischen Entwicklung erklommen hat. Die jetzige Weltschlächterei zeigt, dass Europa die Grenze der kapitalistischen Sättigung bereits erreicht hat und dass es sich nicht weiter auf den Grundlagen des Privateigentums an den Produktionsmitteln entwickeln kann. Dieses blutige, zerstörende Chaos ist die Empörung blinder und dumpfer Kräfte der Produktion, der Aufruhr des Eisens und des Stahls gegen die Macht der Dividenden, der Lohnsklaverei, gegen die dumpfe Gemeinheit menschlicher Beziehungen. Von den Flammen des aus ihm selbst geborenen Krieges umlodert, brüllt der Kapitalismus durch die Schlünde seiner Mörser der Menschheit zu: „Besiege mich, oder ich begrabe dich unter meinen Ruinen". Der Gang der weltgeschichtlichen Ereignisse, die Jahrtausende Entwicklung der Menschheit, des Klassenkampfes, der Ansammlung von Kulturgütern warten auf ihre Lösung: und diese Lösung ist die proletarische Revolution. Es gibt keine andere Entscheidung und keinen anderen Ausweg. Und darin liegt die ungeheure Macht der russischen Revolution. Das ist keine „nationale", keine bürgerliche Revolution mehr. Wer sie so bewertet, lebt in der Gespensterwelt des 18. und 19. Jahrhunderts. Unser „Vaterland" in der Zeitrechnung aber ist das 20. Jahrhundert. Das weitere Schicksal der russischen Revolution hängt unmittelbar vom Verlauf und dem Ende des Krieges, das heißt von dem Charakter der Entwicklung der Klassengegensätze in Europa ab, einer Entwicklung, die durch diesen imperialistischen Krieg zur Katastrophe führen kann.

Die Kerenski und die Kornilow haben zu früh die Töne einander konkurrierender Alleinherrscher angeschlagen. Die Kaledin zücken zu früh das Schwert. Die Renegaten Zeretelli drücken zu früh die ihnen verächtlich entgegen gestreckte Hand der Gegenrevolution. Die Revolution hat vorläufig nur ihr erstes Wort gesprochen. Sie kann noch auf unermessliche Reserven in Westeuropa rechnen. An die Stelle gegenseitiger Freundschaftsversicherungen zwischen reaktionären Schiebern und kleinbürgerlichen Narren wird der große Händedruck der russischen Revolution mit dem europäischen Proletariat treten.

VI.

Die internationale Taktik.

Bei der beispiellos unklaren Gruppierung der klassenpolitischen Schichten in der russischen Revolution herrscht im Bereich der Ideologie ein ebenso beispielloses Durcheinander. Der verspätete Charakter der historischen Entwicklung Russlands erlaubte der kleinbürgerlichen Intelligenz, sich mit den Pfauenfedern der besten sozialistischen Theorien zu schmücken. Sie dienen ihr aber nur dazu, ihre Nacktheit zu verbergen. Wenn die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki die Macht weder Anfang März, noch am 3. Mai. noch am 3. Juli ergriffen haben, so ist es nicht deshalb, weil unsere Revolution eine „bürgerliche" ist und man sie deshalb nicht „ohne die Bourgeoisie" machen kann, sondern deshalb, weil die ganz von den Netzen des Imperialismus umflochtenen kleinbürgerlichen „Sozialisten" nicht mehr imstande sind, auch nur einen Teil jener Arbeit zu leisten, die die jakobinischen Demokraten vor 125 Jahren geleistet haben. Unter endlosem Philosophieren über die Errettung der Revolution und des Landes räumen sie ohne Kampf eine Position nach der anderen vor der bürgerlichen Reaktion. Dadurch wird der Kampf um die Macht zur direkten und unmittelbaren Aufgabe der Arbeiterklasse, und die Revolution streift endgültig ihre „nationale" und bürgerliche Hülle ab.

Entweder werden wir einen kolossalen Rutsch nach rückwärts erleben in der Richtung auf ein kraftvolles imperialistisches Regime, der vermutlich mit der Monarchie enden wird, wobei die Sowjets, die Agrarkomitees, die Soldatenorganisationen und vieles andere der Vernichtung preisgegeben sein werden, wobei Zeretelli und Kerenski an den Meistbietenden versteigert werden – oder aber das Proletariat wird, wahrend es die halb proletarisierten Massen mit sich fortreißt, seine bisherigen Führer zum Teufel jagen (auch dann werden Zeretelli und Kerenski an den kommen, der sie haben will) und das Regime der proletarischen Demokratie aufrichten. Ihre weiteren Erfolge werden direkt und unmittelbar von der Entwicklung der europäischen, in erster Linie der deutschen Revolution abhängen

Der Internationalismus ist für uns keine abstrakte Idee, die nur dazu existiert, dass man sie in jedem gegebenen Moment verraten könne (wie Zeretelli und Tschernow es tun), sondern ein unmittelbar leitendes, tief praktisches Prinzip. Ein haltbarer, entscheidender Erfolg ist für sie außerhalb der europäischen Revolution undenkbar. Folglich können wir nicht Teilerfolge um den Preis solcher Schritte und Kombinationen erkaufen, die die Bewegung des europäischen Proletariats hemmen. Eben deshalb ist für uns der Bruch mit den Sozialpatrioten eine unbedingte Vorbedingung der ganzen politischen Arbeit.

Genossen, Internationalisten," rief einer der Redner auf dem allrussischen Kongress der Sowjets23 aus, „verschiebt Eure soziale Weltrevolution um etwa fünfzig Jahre!" – Es erübrigt sich, zu bemerken, dass dieser gutmütige Rat von selbstgefälligem Händeklatschen der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre begleitet wurde.

Gerade hier, in der Beziehung auf die soziale Revolution, muss eine scharfe Trennungslinie zwischen allen Abarten des opportunistischen, kleinbürgerlichen Utopismus und dem proletarischen Sozialismus gezogen werden. Es gibt nicht wenig „Internationalisten", die die Krisis der Internationale durch einen vorübergehenden, chauvinistischen, durch den Krieg hervorgerufenen Rausch zu erklären suchen, die überzeugt sind, dass früher oder später alles zum Alten zurückkehren wird und dass dann die alten sozialistischen Parteien wieder ihren alten Weg des Klassenkampfes beschreiten werden. Naive und hilflose Hoffnungen! Der Krieg ist keine äußerliche Katastrophe, die vorübergehend die kapitalistische Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geschlagen hat, sondern der Krieg ist der Aufstand der Produktionskräfte dieser Gesellschaft gegen den engen Rahmen des Nationalstaates und privater Aneignung. Es gibt kein Zurück mehr zum verhältnismäßigen, kapitalistischen Gleichgewicht der vergangenen Epoche. Entweder geht die weitere rasende Vernichtung der produktiven Kräfte auf dem Wege immer neu entbrennender imperialistischer Kriege weiter, oder die sozialistische Organisation der Produktion tritt an die Stelle des Bisherigen – so und nicht anders wird an uns jetzt die Frage von der Geschichte gerichtet.

Ebenso ist die Krise der Internationale keine äußerliche. vorübergehende Erscheinung.

Die sozialistischen Parteien Europas formierten sich in einer Epoche des relativen kapitalistischen Gleichgewichtes und der reformistischen Anpassung des Proletariats an den nationalen Parlamentarismus und den nationalen Markt. „In der sozialdemokratischen Partei selbst – schrieb Engels im Jahre 1887 – hat der kleinbürgerlicher Sozialismus Anhang. Diese Mitglieder der sozialdemokratischen Partei erkennen zwar die grundlegenden Ansichten des wissenschaftlichen Sozialismus und die Zweckmäßigkeit der Forderung, dass alle Produktionsmittel der Allgemeinheit gehören müssen, an, erklären aber, dass diese Forderungen erst in einer fernen Zukunft erfüllt werden können, deren Zeit praktisch nicht festgestellt werden kann." Dank dem langwierigen Charakter der „friedlichen" Epoche wurde dieser kleinbürgerliche Sozialismus tatsächlich der herrschende in den alten Organisationen. Seine Begrenztheit und Unzulänglichkeit offenbarten sich in den abstoßendsten Formen in dem Moment, als die „friedliche" Ansammlung der Widersprüche durch die ungeheuerste imperialistische Erschütterung gestört wurde. Nicht nur die alten Nationalstaaten, sondern auch die mit ihnen verwachsenen bürokratischen, sozialistischen Parteien standen plötzlich im Gegensatz zu den Bedürfnissen der weiteren Entwicklung. Das hat man aber mehr oder weniger schon voraussehen können.

Die Aufgaben der sozialistischen Partei" – schrieben wir vor zwölf Jahren – „bestand und besteht darin, das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu revolutionieren, so wie die Entwicklung des Kapitalismus die sozialen Bedingungen revolutioniert hat. Doch führt die agitatorische und die organisatorische Arbeit in den Reihen des Proletariats zu einem gewissen inneren Konservatismus. In den europäischen sozialistischen Parteien und in erster Linie in der mächtigsten unter ihnen – der deutschen – hat sich eine Art Konservatismus herausgearbeitet, der um so stärker anschwillt, je größere Massen vom Sozialismus umfasst werden und je höher die Organisiertheit und Disziplin dieser Massen ist. Deshalb ist es möglich, dass die Sozialdemokratie, als eine Organisation, die die politische Erfahrung des Proletariats verkörpert, im gegebenen Moment zum unmittelbaren Hindernis auf dem Wege des offenen Zusammenstoßes der Arbeiter mit der bürgerlichen Reaktion werden kann. Mit anderen Worten: der propagandistisch-sozialistische Konservatismus der proletarischen Partei kann, im gegebenen Moment, den direktes Kampf des Proletariats um die Macht hemmen." (Unsere Revolution", 1906. Seite 285.) Aber wenn auch die revolutionären Marxisten weit davon entfernt waren, die Parteien der II. Internationale in den Himmel zu heben, so konnte doch niemand voraussehen, dass der Sturz dieser Organisationsgiganten solche grausamen und katastrophalen Formen annehmen werde.

Eine neue Epoche schafft neue Organisationen. Die revolutionären, sozialistischen Parteien werden jetzt überall im Schlachtenfeuer geschmiedet. Die große, ideell-politische Erbschaft der II. Internationale geht dabei selbstverständlich nicht verloren. Sie wird nur innerlich gesäubert, eine ganze Generation „realistischer" Philister wird beiseite geschoben, und die revolutionären Tendenzen des Marxismus gewinnen zum ersten Male ihre volle politische Bedeutung.

Innerhalb jedes einzelnen Landes besteht die Aufgabe nicht in der Unterstützung der Einigkeit solcher Organisationen, die sich selbst überlebt haben, sondern in der aktiven Zusammenschweißung revolutionärer Elemente des Proletariats, die jetzt, im Kampf gegen Krieg und Imperialismus, auf den vordersten Posten stehen. Im Weltmaßstabe besteht die Aufgabe nicht in der Annäherung und „Versöhnung" der Regierungssozialisten auf diplomatischen Konferenzen (Stockholm), sondern in der Verständigung zwischen den revolutionären Internationalisten aller Länder und ihrer gemeinsamen Einstellung auf die sozialen Revolutionen innerhalb jedes Landes.

Gewiss sind augenblicklich die revolutionären Internationalisten an der Spitze der Arbeiterklasse überall in ganz Europa in der Minderheit. Doch gerade das braucht uns Russen nicht zu schrecken. Wir wissen, wie schnell in revolutionären Epochen die Minderheit zur Mehrheit wird. Sobald die konzentrierte Empörung der Arbeitermassen endgültig die staatliche Disziplin durchbrechen wird, wird die Gruppe Liebknechts, Luxemburgs, Mehrings und ihrer Freunde sofort die führende Rolle an der Spitze der deutschen Arbeiterklasse einnehmen. Nur die revolutionäre Politik rechtfertigt die Organisationsspaltung – und macht sie unbedingt notwendig.

Die Menschewiki-Internationalisten, die Anhänger des Genossen Martow, verneinen, im Gegensatz zu uns, die soziale revolutionäre Einstellung zu den politischen Aufgaben. Russland, behaupten sie, ist noch nicht reif für den Sozialismus, und so beschränkt sich unsere Aufgabe notgedrungen auf die Errichtung einer demokratischen, bürgerlichen Republik. Diese Argumentation ist vom Anfang bis zum Ende auf der vollständigen Missachtung der internationalen Beziehungen und der Aufgaben des Proletariats aufgebaut. Käme Russland allein in Betracht, so würde die Argumentation Martows stimmen. Es handelt sich aber um die Beendigung des Weltkrieges, um den Kampf mit dem Weltimperialismus, um die Aufgaben des internationalen und damit auch des russischen Proletariats. Anstatt den russischen Arbeitern zu erklären, dass das Schicksal Russlands untrennbar mit dem Schicksal Europas verbunden ist, dass der Sieg des europäischen Proletariats uns den schnellen Übergang zum sozialistischen Staat sichern, dass die Niederlage der europäischen Arbeiter dagegen uns zur imperialistischen Diktatur und der Monarchie und in den Zustand eines Koloniallandes Englands oder Amerikas zurückwerfen wird, anstatt unsere ganze Taktik nach den allgemeinen Zielen und Aufgaben des russischen und des Weltproletariats zu orientieren, betrachtet Genosse Martow die russische Revolution in engen nationalen Grenzen und erblickt die Aufgäbe der Revolution in der Errichtung einer bürgerlich-demokratischen Republik. Es ist dies eine absolut falsche Betrachtungsweise, über der der Fluch der nationalen Beengtheit, die zum Zusammenbruch der II. Internationale geführt hat, schwebt.

Genosse Martow begrenzt seinen Horizont in der Praxis durch nationale Perspektiven und ist imstande, in einer und derselben Organisation mit den Sozialpatrioten zu bleiben. Er hofft, gemeinsam mit Dan und Zeretelli die Epidemie des Nationalismus, der nach Beendigung des Krieges verschwinden muss, zu überleben, und rechnet darauf, nachher mit diesen Herren zusammen wieder das Geleise des „normalen" Klassenkampfes zu beschreiten. Was Martow mit den Sozialpatrioten verbindet, das ist nicht eine leere Tradition der Fraktion, sondern die tiefgehende opportunistische Betrachtung der sozialen Revolution als eines fernen Ziels, durch das unsere jetzigen Aufgaben nicht bestimmt werden können. Und dasselbe trennt ihn von uns.

Der Kampf um die Eroberung der Macht ist für uns nicht nur eine Etappe der national-demokratischen Revolution, nein, es ist die Erfüllung, einer internationalen Pflicht, es ist die Eroberung einer der wichtigsten Positionen auf der allgemeinen Front des Kampfes mit dem Weltimperialismus. Und dieser grundlegende Standpunkt bestimmt auch unsere Stellungnahme zur sogenannten Nationalverteidigung. Das vorübergehende Schwanken der Front, nach der oder jener Seite, kann unseren Kampf weder zum Stillstand noch zum Abweichen bringen, diesen Kampf, der gegen die Grundfesten des Kapitalismus selbst gerichtet ist, nachdem dieser in die Sackgasse der gegenseitigen Volksvertilgung geriet. Die permanente Revolution gegen die permanente Schlächterei: das ist der Kampf, in dem das Schicksal der Menschheit als Einsatz dient.

Anhang.

(Aus Nr. 3 Iswestija des Petrograder Sowjets.)

1. März 1917.

Befehl Nr. 1.

An alle Soldaten der Garde, Armee, Artillerie und Flotte der Garnison des Petrograder Militärbezirks zur unverzüglichen und pünktlichen Durchführung, an die Arbeiter Petrograds aber zur Kenntnisnahme. Der Arbeiter- und Soldatenrat hat beschlossen:

1. In allen Kompanien, Bataillons, Regimentern, Parks, Batterien, Eskadronen und Sonderämtern der verschiedenartigsten Militärverwaltungen sowie auf den Schiffen der Kriegsmarine sind unverzüglich Komitees zu bilden aus gewählten Vertretern der Soldaten der genannten Truppenteile.

2. In allen Truppenteilen, die noch keine Vertreter für den Arbeiterrat gewählt haben, ist je ein Vertreter der Kompanien zu wählen, der mit schriftlicher Legitimation um 10 Uhr früh am 2. März im Dumagebäude zu erscheinen hat.

3. In allen seinen politischen Aktionen untersteht der Truppenteil dem Arbeiter- und Soldatenrat wie auch seinen Komitees.

4. Den Befehlen der Militärkommission der Duma ist Folge zu leisten mit Ausnahme der Fälle, wo sie den Befehlen und Beschlüssen des Arbeiter- und Soldatenrates zuwiderlaufen.

5. Jede Art von Waffen: Gewehre, Maschinengewehre, Panzerautos usw. müssen in der Verfügung und unter der Kontrolle der Kompanie- und Bataillonskomitees stehen und auf keinen Fall den Offizieren ausgefolgt werden, selbst nicht auf deren ausdrückliche Forderung hin.

6. Im Dienste haben die Soldaten auf strenge militärische Disziplin zu achten, außer Dienst aber, wie auch in ihrem politischen, bürgerlichen und privaten Leben dürfen die Soldaten in jenen Rechten nicht gekürzt werden, die allen Bürgern zukommen. Insbesondere wird die Habtachtstellung und das obligate Salutieren außer Dienst aufgehoben.

7. Gleichfalls wird das Titulieren der Offiziere mit „Euer Hochwohlgeboren" „Wohlgeboren" und dergleichen aufgehoben und durch die Anrede: „ Herr General", „Oberst" usw. ersetzt.

Die unhöfliche Behandlung der Soldaten aller militärische Grade und insbesondere die Anrede mit „Du" ist verboten, und jede Übertreten dieses Befehls wie auch alle Missverständnisse zwischen Offizieren und Soldaten müssen von den letzteren den Kompaniekomitees zur Kenntnis gebracht werden.

Vorliegender Befehl ist in allen Kompanien, Bataillons, Regimentern, Schiffsmannschaften und sonstigen Front-, und Hilfsformationen zur Kenntnis zu bringen.

Der Petrograder Arbeiter- and Soldatenrat.

1 Moskauer Staatsberatung (Gosudarstwennoje Sowjestschanje) unter Vorsitz Kerenskis fand im August 1917 statt. ( D[er] H[erausgeber])

2 „Proletarij" (Zentralorgan der RSDRP [Bolschewiki]) Nr. 1 vom 26. (13.) August 1917.

3P. N. Miljukow, Führer der konstitutionell-demokratischen Partei seit 1906 (Nach den Anfangsbuchstaben KD genannt: Kadetten) D[er] H[erausgeber]

4 General Hurko, zaristischer General, Monarchist, stand in Verbindung mit dem dethronisierten Zaren. D[er] H[erausgeber]

5 Zeretelli, Führer der Menschewiki. D[er] H[erausgeber]

6 Liber und Wojtinski: Menschewiki; Gotz: Sozialrevolutionär. D[er] H[erausgeber]

7 Die erste Maschinengewehrkompanie eröffnete die Kämpfe des Juli-Aufstandes. D[er] H[erausgeber]

8 Polowtsow, Militärgouverneur von Petrograd in den Julitagen. D[er] H[erausgeber]

9 „Proletarij" Nr. 2 vom 28. (15.) August 1917.

10 Trudowiki, „Fraktion der Arbeit", Dumafraktion der Sozialisten-Revolutionäre. D[er] H[erausgeber]

11 Gutschkow, Führer der Oktobristen . (nationalliberal), der erste Kriegsminister der Provisorischen Regierung.  D[er] H[erausgeber]

12 Jene Nacht in den Julitagen, in der die Kadetten-Minister aus der Regierung austraten. D[er] H[erausgeber]

13 Taurisches Palais, Sitz der Zentralexekutive der Allrussischen Sowjets. D[er] H[erausgeber]

14 „Proletarij" Nr. 7 vom 2. September (20. August) 1917.

15 „Befehl Nr. 1", herausgegeben vom Exekutivkomitee der Sowjets, proklamiert die demokratischen Rechte der Soldaten. Siehe Anhang. D[er] H[erausgeber]

16 Sachowlinow: der letzte zaristische Kriegsminister. D[er] H[erausgeber]

17 Friedensvorschlag an die Völker Europas. D[er] H[erausgeber]

18 „Proletarij" Nr. 4 vom 30. (17.) August 1917.

*Aus dem Gesagten wird deutlich ersichtlich, welch sinnlos-reaktionäre Utopie die von der „Nowoja Shisn" propagierte Idee über unsere Vereinigung mit den Menschewiki ist. L. T.

19 „Proletarij" Nr. 8 vom 4. September (22. August) 1917. D[er] H[erausgeber]

20 „Jedinstwo". Einheit, Organ der Plechanow-Gruppe. „Djen", ein unabhängiges Blatt des Sozialpatrioten Potressow. D[er] H[erausgeber]

21 Bublikow, Vertreter der Großindustrie, Führer der großkapitalistischen Opposition bei der Moskauer Beratung. D[er] H[erausgeber]

22Auf dem internationalen Sozialistenkongress in Amsterdam 1904

23 im Juni 1917. D[er] H[erausgeber]

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