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Leo Trotzki 19170906 Die internationale Taktik

Leo Trotzki: Die internationale Taktik

[Erschienen in „Proletarij" Nr. 10 vom 6. September (24. August) 1917. Nach der Broschüre „Der Charakter der russischen Revolution“, erschienen im Verlag der Arbeiter-Buchhandlung. Wien 1921 als 5. Heft der „Materialien zur Geschichte der proletarischen Revolution in Russland“. S. 48-53. Übersetzt von Sophie Liebknecht. Siehe auch New Yorker Volkszeitung, Sonntagsblatt, 31. Juli 1921, Sektion II, S. 15 f.]

Bei der beispiellos unklaren Gruppierung der klassenpolitischen Schichten in der russischen Revolution herrscht im Bereich der Ideologie ein ebenso beispielloses Durcheinander. Der verspätete Charakter der historischen Entwicklung Russlands erlaubte der kleinbürgerlichen Intelligenz, sich mit den Pfauenfedern der besten sozialistischen Theorien zu schmücken. Sie dienen ihr aber nur dazu, ihre Nacktheit zu verbergen. Wenn die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki die Macht weder Anfang März, noch am 3. Mai. noch am 3. Juli ergriffen haben, so ist es nicht deshalb, weil unsere Revolution eine „bürgerliche" ist und man sie deshalb nicht „ohne die Bourgeoisie" machen kann, sondern deshalb, weil die ganz von den Netzen des Imperialismus umflochtenen kleinbürgerlichen „Sozialisten" nicht mehr imstande sind, auch nur einen Teil jener Arbeit zu leisten, die die jakobinischen Demokraten vor 125 Jahren geleistet haben. Unter endlosem Philosophieren über die Errettung der Revolution und des Landes räumen sie ohne Kampf eine Position nach der anderen vor der bürgerlichen Reaktion. Dadurch wird der Kampf um die Macht zur direkten und unmittelbaren Aufgabe der Arbeiterklasse, und die Revolution streift endgültig ihre „nationale" und bürgerliche Hülle ab.

Entweder werden wir einen kolossalen Rutsch nach rückwärts erleben in der Richtung auf ein kraftvolles imperialistisches Regime, der vermutlich mit der Monarchie enden wird, wobei die Sowjets, die Agrarkomitees, die Soldatenorganisationen und vieles andere der Vernichtung preisgegeben sein werden, wobei Zeretelli und Kerenski an den Meistbietenden versteigert werden – oder aber das Proletariat wird, wahrend es die halb proletarisierten Massen mit sich fortreißt, seine bisherigen Führer zum Teufel jagen (auch dann werden Zeretelli und Kerenski an den kommen, der sie haben will) und das Regime der proletarischen Demokratie aufrichten. Ihre weiteren Erfolge werden direkt und unmittelbar von der Entwicklung der europäischen, in erster Linie der deutschen Revolution abhängen

Der Internationalismus ist für uns keine abstrakte Idee, die nur dazu existiert, dass man sie in jedem gegebenen Moment verraten könne (wie Zeretelli und Tschernow es tun), sondern ein unmittelbar leitendes, tief praktisches Prinzip. Ein haltbarer, entscheidender Erfolg ist für sie außerhalb der europäischen Revolution undenkbar. Folglich können wir nicht Teilerfolge um den Preis solcher Schritte und Kombinationen erkaufen, die die Bewegung des europäischen Proletariats hemmen. Eben deshalb ist für uns der Bruch mit den Sozialpatrioten eine unbedingte Vorbedingung der ganzen politischen Arbeit.

Genossen, Internationalisten," rief einer der Redner auf dem allrussischen Kongress der Sowjets1 aus, „verschiebt Eure soziale Weltrevolution um etwa fünfzig Jahre!" – Es erübrigt sich, zu bemerken, dass dieser gutmütige Rat von selbstgefälligem Händeklatschen der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre begleitet wurde.

Gerade hier, in der Beziehung auf die soziale Revolution, muss eine scharfe Trennungslinie zwischen allen Abarten des opportunistischen, kleinbürgerlichen Utopismus und dem proletarischen Sozialismus gezogen werden. Es gibt nicht wenig „Internationalisten", die die Krisis der Internationale durch einen vorübergehenden, chauvinistischen, durch den Krieg hervorgerufenen Rausch zu erklären suchen, die überzeugt sind, dass früher oder später alles zum Alten zurückkehren wird und dass dann die alten sozialistischen Parteien wieder ihren alten Weg des Klassenkampfes beschreiten werden. Naive und hilflose Hoffnungen! Der Krieg ist keine äußerliche Katastrophe, die vorübergehend die kapitalistische Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geschlagen hat, sondern der Krieg ist der Aufstand der Produktionskräfte dieser Gesellschaft gegen den engen Rahmen des Nationalstaates und privater Aneignung. Es gibt kein Zurück mehr zum verhältnismäßigen, kapitalistischen Gleichgewicht der vergangenen Epoche. Entweder geht die weitere rasende Vernichtung der produktiven Kräfte auf dem Wege immer neu entbrennender imperialistischer Kriege weiter, oder die sozialistische Organisation der Produktion tritt an die Stelle des Bisherigen – so und nicht anders wird an uns jetzt die Frage von der Geschichte gerichtet.

Ebenso ist die Krise der Internationale keine äußerliche. vorübergehende Erscheinung.

Die sozialistischen Parteien Europas formierten sich in einer Epoche des relativen kapitalistischen Gleichgewichtes und der reformistischen Anpassung des Proletariats an den nationalen Parlamentarismus und den nationalen Markt. „In der sozialdemokratischen Partei selbst – schrieb Engels im Jahre 1887 – hat der kleinbürgerlicher Sozialismus Anhang. Diese Mitglieder der sozialdemokratischen Partei erkennen zwar die grundlegenden Ansichten des wissenschaftlichen Sozialismus und die Zweckmäßigkeit der Forderung, dass alle Produktionsmittel der Allgemeinheit gehören müssen, an, erklären aber, dass diese Forderungen erst in einer fernen Zukunft erfüllt werden können, deren Zeit praktisch nicht festgestellt werden kann." Dank dem langwierigen Charakter der „friedlichen" Epoche wurde dieser kleinbürgerliche Sozialismus tatsächlich der herrschende in den alten Organisationen. Seine Begrenztheit und Unzulänglichkeit offenbarten sich in den abstoßendsten Formen in dem Moment, als die „friedliche" Ansammlung der Widersprüche durch die ungeheuerste imperialistische Erschütterung gestört wurde. Nicht nur die alten Nationalstaaten, sondern auch die mit ihnen verwachsenen bürokratischen, sozialistischen Parteien standen plötzlich im Gegensatz zu den Bedürfnissen der weiteren Entwicklung. Das hat man aber mehr oder weniger schon voraussehen können.

Die Aufgaben der sozialistischen Partei" – schrieben wir vor zwölf Jahren – „bestand und besteht darin, das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu revolutionieren, so wie die Entwicklung des Kapitalismus die sozialen Bedingungen revolutioniert hat. Doch führt die agitatorische und die organisatorische Arbeit in den Reihen des Proletariats zu einem gewissen inneren Konservatismus. In den europäischen sozialistischen Parteien und in erster Linie in der mächtigsten unter ihnen – der deutschen – hat sich eine Art Konservatismus herausgearbeitet, der um so stärker anschwillt, je größere Massen vom Sozialismus umfasst werden und je höher die Organisiertheit und Disziplin dieser Massen ist. Deshalb ist es möglich, dass die Sozialdemokratie, als eine Organisation, die die politische Erfahrung des Proletariats verkörpert, im gegebenen Moment zum unmittelbaren Hindernis auf dem Wege des offenen Zusammenstoßes der Arbeiter mit der bürgerlichen Reaktion werden kann. Mit anderen Worten: der propagandistisch-sozialistische Konservatismus der proletarischen Partei kann, im gegebenen Moment, den direktes Kampf des Proletariats um die Macht hemmen." (Unsere Revolution", 1906. Seite 285.) Aber wenn auch die revolutionären Marxisten weit davon entfernt waren, die Parteien der II. Internationale in den Himmel zu heben, so konnte doch niemand voraussehen, dass der Sturz dieser Organisationsgiganten solche grausamen und katastrophalen Formen annehmen werde.

Eine neue Epoche schafft neue Organisationen. Die revolutionären, sozialistischen Parteien werden jetzt überall im Schlachtenfeuer geschmiedet. Die große, ideell-politische Erbschaft der II. Internationale geht dabei selbstverständlich nicht verloren. Sie wird nur innerlich gesäubert, eine ganze Generation „realistischer" Philister wird beiseite geschoben, und die revolutionären Tendenzen des Marxismus gewinnen zum ersten Male ihre volle politische Bedeutung.

Innerhalb jedes einzelnen Landes besteht die Aufgabe nicht in der Unterstützung der Einigkeit solcher Organisationen, die sich selbst überlebt haben, sondern in der aktiven Zusammenschweißung revolutionärer Elemente des Proletariats, die jetzt, im Kampf gegen Krieg und Imperialismus, auf den vordersten Posten stehen. Im Weltmaßstabe besteht die Aufgabe nicht in der Annäherung und „Versöhnung" der Regierungssozialisten auf diplomatischen Konferenzen (Stockholm), sondern in der Verständigung zwischen den revolutionären Internationalisten aller Länder und ihrer gemeinsamen Einstellung auf die sozialen Revolutionen innerhalb jedes Landes.

Gewiss sind augenblicklich die revolutionären Internationalisten an der Spitze der Arbeiterklasse überall in ganz Europa in der Minderheit. Doch gerade das braucht uns Russen nicht zu schrecken. Wir wissen, wie schnell in revolutionären Epochen die Minderheit zur Mehrheit wird. Sobald die konzentrierte Empörung der Arbeitermassen endgültig die staatliche Disziplin durchbrechen wird, wird die Gruppe Liebknechts, Luxemburgs, Mehrings und ihrer Freunde sofort die führende Rolle an der Spitze der deutschen Arbeiterklasse einnehmen. Nur die revolutionäre Politik rechtfertigt die Organisationsspaltung – und macht sie unbedingt notwendig.

Die Menschewiki-Internationalisten, die Anhänger des Genossen Martow, verneinen, im Gegensatz zu uns, die soziale revolutionäre Einstellung zu den politischen Aufgaben. Russland, behaupten sie, ist noch nicht reif für den Sozialismus, und so beschränkt sich unsere Aufgabe notgedrungen auf die Errichtung einer demokratischen, bürgerlichen Republik. Diese Argumentation ist vom Anfang bis zum Ende auf der vollständigen Missachtung der internationalen Beziehungen und der Aufgaben des Proletariats aufgebaut. Käme Russland allein in Betracht, so würde die Argumentation Martows stimmen. Es handelt sich aber um die Beendigung des Weltkrieges, um den Kampf mit dem Weltimperialismus, um die Aufgaben des internationalen und damit auch des russischen Proletariats. Anstatt den russischen Arbeitern zu erklären, dass das Schicksal Russlands untrennbar mit dem Schicksal Europas verbunden ist, dass der Sieg des europäischen Proletariats uns den schnellen Übergang zum sozialistischen Staat sichern, dass die Niederlage der europäischen Arbeiter dagegen uns zur imperialistischen Diktatur und der Monarchie und in den Zustand eines Koloniallandes Englands oder Amerikas zurückwerfen wird, anstatt unsere ganze Taktik nach den allgemeinen Zielen und Aufgaben des russischen und des Weltproletariats zu orientieren, betrachtet Genosse Martow die russische Revolution in engen nationalen Grenzen und erblickt die Aufgäbe der Revolution in der Errichtung einer bürgerlich-demokratischen Republik. Es ist dies eine absolut falsche Betrachtungsweise, über der der Fluch der nationalen Beengtheit, die zum Zusammenbruch der II. Internationale geführt hat, schwebt.

Genosse Martow begrenzt seinen Horizont in der Praxis durch nationale Perspektiven und ist imstande, in einer und derselben Organisation mit den Sozialpatrioten zu bleiben. Er hofft, gemeinsam mit Dan und Zeretelli die Epidemie des Nationalismus, der nach Beendigung des Krieges verschwinden muss, zu überleben, und rechnet darauf, nachher mit diesen Herren zusammen wieder das Geleise des „normalen" Klassenkampfes zu beschreiten. Was Martow mit den Sozialpatrioten verbindet, das ist nicht eine leere Tradition der Fraktion, sondern die tiefgehende opportunistische Betrachtung der sozialen Revolution als eines fernen Ziels, durch das unsere jetzigen Aufgaben nicht bestimmt werden können. Und dasselbe trennt ihn von uns.

Der Kampf um die Eroberung der Macht ist für uns nicht nur eine Etappe der national-demokratischen Revolution, nein, es ist die Erfüllung, einer internationalen Pflicht, es ist die Eroberung einer der wichtigsten Positionen auf der allgemeinen Front des Kampfes mit dem Weltimperialismus. Und dieser grundlegende Standpunkt bestimmt auch unsere Stellungnahme zur sogenannten Nationalverteidigung. Das vorübergehende Schwanken der Front, nach der oder jener Seite, kann unseren Kampf weder zum Stillstand noch zum Abweichen bringen, diesen Kampf, der gegen die Grundfesten des Kapitalismus selbst gerichtet ist, nachdem dieser in die Sackgasse der gegenseitigen Volksvertilgung geriet. Die permanente Revolution gegen die permanente Schlächterei: das ist der Kampf, in dem das Schicksal der Menschheit als Einsatz dient.

1 im Juni 1917. D[er] H[erausgeber]

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