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Leo Trotzki 19170126 Nach zweieinhalb Jahren Krieg in Europa

Leo Trotzki: Nach zweieinhalb Jahren Krieg in Europa

(Aus meinem Tagebuch)

[Nach New Yorker Volkszeitung, 26., 27. und 28. Mai 1919, jeweils S. 3]

I.

Serbische Terroristen und Französische „Befreier“. Die Strömung in Wien in den ersten Tages des Krieges.

Die unmittelbare Aufreizung für die schändlichen Vorkommnisse des gegenwärtigen Krieges war das Werk einer Anzahl serbischer Jünglinge, fast noch Knaben, welche im Juli 1914 den vermeintlichen Erben des österreich-ungarischen Thrones in Sarajevo töteten, Revolutionäre eines romantisch nationalistischen Typs erwarteten sie noch weniger als jeder andere, dass ihre terroristische Handlung von den Folgen universeller Tragweite begleitet sein wird, wie es tatsächlich wurde.

Ich traf später eines der Mitglieder dieser revolutionären Organisation in Paris in den ersten Monaten des Krieges; er gehörte der Gruppe an, die das Sarajevoer Attentat in Szene setzten, doch war er noch vorher ins Ausland gereist und diente zu Beginn des Krieges als freiwilliger Dolmetscher in der französischen Marine.

Die Alliierten planten mit einer Landung an der adriatischen Küste von Österreich-Ungarn die Absicht, einen Aufstand der südslawischen Provinzen der Habsburg-Monarchie zu erwecken. Zu diesem Behufe wurden serbische Lettern auf französische Kriegsschiffe geladen, um revolutionäre Proklamationen drucken zu können, auch befanden sich darauf ergebene Serben, welche diese Proklamationen schreiben und im Allgemeinen zu einer Erhebung für „nationale Unabhängigkeit" beitragen sollten; offiziell waren sie Übersetzer geheißen.

Da jedoch serbische Revolutionäre auf Kriegsschiffen der Republik ein leicht entzündbares Material abgeben konnten, wurde ein grauhaariger serbischer Spion zwischen ihnen untergebracht, um „erstklassige" Aufsicht über die jugendlichen Enthusiasten zu haben. Es ist äußerst wahrscheinlich, dass diese große Vorsicht der russischen Botschaft in Paris zugeschrieben werden kann, da diese bei Operationen solcher Art unbedingt das Vorrecht unter den Alliierten besitzt. Wie wohlbekannt, wurde aus der ganzen Geschichte nichts. Die französischen Schiffe fuhren im Adriatischen Meere herum, widmeten Pola einige Aufmerksamkeit und kehrten nach Abfeuerung weniger fruchtloser Schüsse wieder um. „Warum?“ fragten verwirrt alle die Uneingeweihten. Doch in französischen politischen und journalistischen Kreisen machte die Aufklärung schon die Runde: „Italien ist unwillig."

Die Entfachung einer Rebellion in den südlichen Provinzen Österreich-Ungarn schien die Erhebung des Banners zur nationalen Vereinigung der Jugoslawen zu bedeuten. Italien jedoch hielt dafür, dass Dalmatien von Rechts wegen" ihm gehören sollte, – lasst uns sagen, aufgrund des Rechtes vom imperialistischen Appetit – und protestierte gegen die vorausgesehene Landung der Alliierten-Kräfte. Zu jener Zeit musste für Italiens wohlwollende Neutralität und später für seine Teilnahme am Kriege der Preis gezahlt werden. Das war die Ursache für die unerwartete Umkehr der französischen Schiffe und ihrer tragbaren Druckerpressen, ihren serbischen Dolmetschern und ihrem grauhaarigen Spione. „Was ist das?" war die Frage, die der schon erwähnte junge serbische Revolutionär an mich richtete. „Es ist klar, dass die Alliierten einfach die Serben an Italien verkaufen. Wie steht es mit dem Kriege für die Befreiung der kleinen Nationen? In diesem Falle, wofür kämpfen die Serben? Ist es möglich, dass ich mich freiwillig dem Dienste angeschlossen, lediglich mein Blut fließen zu lassen, um die Übergabe von Dalmatien an Italien zu sichern? Und was war der Grund, meinen Freund Gavila Princip und die Anderen zu opfern?

Er war in ernster Verzweiflung, der Jüngling mit dem gelbbraunen, sommersprossigen Gesicht und den seherischen großen Augen. Die wahre Bedeutung des Krieges fürBefreiung" hatte sich ihm offenbart, soweit Dalmatien in Betracht kam. Ich habe von ihm gute Informationen über das innere Leben der südslawischen revolutionären Vereinigungen und speziell über die Gruppe der jungen Leute erhalten, die den vermeintlichen Habsburger Erben, das Haupt der österreichisch-ungarischen Kriegspartei, töteten.

Die Organisation, welche den romantischen Namen „Die schwarze Hand' trug, war genau auf der Grundlage der Carbona- (die Carbonari waren italienische Revolutionäre, die im 19. Jahrhundert gegen das österreichische Joch kämpften) Verschwörung aufgebaut. Die Einführung neuer Mitglieder schloss eine Menge mysteriöser Formalitäten in sich: die Klinge eines Messers wurde gegen ihre nackte Brust gehalten und sie hatten bei Verwirkung der Todesstrafe Schweigen und Treue zu beschwören.

Die Netze dieser Vereinigung dehnten sich über alle jugoslawischen Provinzen der Habsburg-Monarchie aus, sie verwandte die opferfreudigsten Elemente der gebildeten Jugend und war in ihrer Zentrale in Belgrad unter den Kontrolle von Offizieren und Politikern, die in gleich guter Verbindung mit der serbischen Regierung als mit der russischen Botschaft standen, da es auf der Balkan-Halbinsel wohl bekannt war, dass die Romanows nie vor dem Gebrauche von Dynamit zurückschreckten.

Wien kleidete sich in offizielle Trauer, obwohl die großen Massen der städtischen Bevölkerung der Neuigkeit über die Ermordung des Habsburger Thronerben mächtig wenig Aufmerksamkeit schenkten. Sonach hatte die Presse die Aufgabe, die Volksgefühle anzuregen, auf sich zu nehmen. Es lassen sich schwer Worte finden, um die wahrhaft riesige Gemeinheit zu kennzeichnen, zu welcher die Presse von ganz Europa, nein, der ganzen Welt, mit Bezug auf die Ereignisse des gegenwärtigen Krieges, ihre Zuflucht nahm und noch nimmt. Dass in dieser unanständigen Orgie die schwarz-gelbe Presse Österreich Ungarns weder durch Kenntnisse noch durch Fähigkeit ausgezeichnet. einen unbedeutenden Platz eingenommen, kann man nicht behaupten. Als von der Zentrale, vom Publikum ungesehen, von dem diplomatischen Inferno (Hölle), in welchem die Bestimmungen der Nationen ausgebrütet werden, die Losung ausgegeben wurde, spien die Schreiberseelen jeglicher Schattierung und politischer Farbe nach dem Serajevoer Attentat mehr gen aus, als die Weltgeschichte je bevor gesehen hatte.

Wir Sozialisten hätten mit ruhiger Geringschätzung auf diesen unwiderlegbaren Beweis des moralischen Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft, der in dem mörderlichen Fleiße der „patriotischen“ Presse auf beiden Seiten der Schützengräben sich kundgab, blicken können, wenn die vornehmsten sozialistischen Zeitungen nicht den gleichen Weg eingeschlagen hatten; das Unerwartete dieses Hiebes machte ihn doppelt tödlich für uns. Wenn wir, beiläufig gesagt, von Unerwartetem sprechen, so können wir diesen Aus druck mehr als zur Hälfte nicht für die Wiener Arbeiterzeitung" gelten lassen. Im Laufe meines siebenjährigen Aufenthaltes in Wien hatte ich vollauf Gelegenheit, mich mit dem Geisteszustand der, leitenden Kreise in der österreichischen Sozialdemokratie bekannt zu machen und erwartete von ihnen weniger als von irgend einer anderen Seite revolutionäre Initiative. Die reine chauvinistische Natur der Artikel Leuttners. der die internationalen Angelegenheiten für die Zeitung behandelte, waren selbst vor dem Kriege zur Genüge bekannt. Noch im Jahre 1909 fühlte ich mich veranlasst, in der „Neuen Zeit" gegen die preußisch-österreichische Richtung des Zentral-Organs der österreichischen Sozialdemokratie zu schreiben. Mehr als, ein Mal musste ich auf meinen Reisen auf dem Balkan bittere Klagen von Balkan- (namentlich serbischen) Sozialisten, und speziell von meinem unvergesslichen Freunde Dimitri Tutsovicz, hören, der als, Offizier im jetzigen Kriege gefallen ist; sie waren entrüstet darüber, dass die serbische kapitalistische Presse in boshafter Weise die chauvinistischen Angriffe der „Arbeiterzeitung" auf die Serben zitierte, als klaren Beweis dafür, dass die internationale Solidarität der Arbeiterklassen nur ein Märchen sei. Nichtsdestoweniger war ich nicht auf den grenzenlosen Hass gegen ihre Mitmenschen vorbereitet, von dem diese Zeitung in den frühesten Tagen des Krieges so viele Beweise darbrachte.

Nach Überreichung des berüchtigten Österreich-ungarischen Ultimatums an Serbien wurden in Wien patriotische Kundgebungen abgehalten, bei denen meistens junges Volk anwesend war. Von wirklichem Chauvinismus zeigten die Massen sehr wenig, doch gab es Lärm und Aufregung und Erwartung großer Ereignisse, auf Veränderungen, auf Änderungen zum Besseren natürlich, da es schwer hielt, sich etwas Schlechteres auszumalen, und die Presse ermutigte eifrig diese Gefühle, spornte sie an und verschlimmerte sie. „Jetzt hängt alles davon; ab, was Russland tut.“ sagte mir Leopold Winarsky, sozialistischer Reichstagsabgeordneter, der im Vorjahre starb, „wenn der Zar sich einmengt, wird der Krieg in diesem Land volkstümlich werden."

In der Tat existiert kein Zweifel daran, dass der Gedanke an einen Einfall des Zaren in Österreich und Deutschland die Einbildung der österreichisch-deutschen Massen aufgeregt und bestürzt hat. Der internationale Ruf des Zarismus. besonders nach der Gegenrevolution, die der Erhebung in 1905 folgte, war zu schwarz, um übersehen zu werden; dies durfte den deutschen Staatsmännern und Schreibern die Idee eingeflößt haben, den Krieg gegen den östlichen Despotismus zu einem Befreiungskrieg zu erklären. Doch alles dieses gibt den Scheidemanns nicht die geringste Entschuldigung für Ihre Übertragung der Hohenzollern-Lügen In die Sprache des „Sozialismus". Für uns brachte es die große Schwere des Abfalles von Plechanow und Deutsch zutage, die In Ihren abnehmenden Jahren den Drang in ihrer Brust entdeckten, als Vorkämpfer für des Zaren Diplomatie hervorzutreten zu einer Zeit, als sie die größten Verbrechen verübte.

II.

Ereignisse häuften sich von Tag zu Tag; der Draht brachte die Neuigkeit von der Ermordung Jaurès. Da, die Zeitungen indessen schon mit so viel Lügen angefüllt waren, war es, wenigstens einige Stunden möglich, an der Wahrheit der Berichte zu zweifeln, und dies umso eher, als ihnen Depeschen über die Ermordung von Poincaré und einer Erhebung in Paris vorangingen.

Doch bald war jeder Zweifel aus geschlossen: Jaurès war getötet worden. Am 2. August erklärt Deutschland den Krieg an Russland und am nämlichen Tage begann die Auswanderung der russischen Emigranten aus Wien. Am Morgen des 3. August ging ich hinüber auf die Zeile in das neue Gebäude der „Arbeiterzeitung", mit den Abgeordneten über das uns Russen bevorstehende Los zu reden. In dem Büro des Sekretärs fand ich Friedrich Adler oder „Doktor Fritz", wie er zum Unterschied von; seinem Vater, Viktor Adler, den man einfach den „Doktor" ohne weitere Namen in Parteikreisen nennt. Ziemlich groß, mager, etwas gebückt, mit einer von gekräuselten blonden Haarlocken eingerahmten vornehmen Stirne und mit dem Ausdruck steten Nachdenkens auf seinem Gesichte, bildete Fritz an und für sich eine Figur unter der in Wien reichlich vertretenen Partei-Intelligenzia. die sich zu viel mit wilden Spielen und verschiedenen Scherzen abgab. Er verbrachte 1 oder 2 Jahre in Zürich als Privatdozent in der Physikabteilung der Universität und redigierte zu gleicher Zeit das lokale Parteiblatt „Das Volksrecht". Wahrend des Krieges begann der Sozialismus in der Schweiz einen radikalen Prozess innerer Wiedergeburt durchzumachen. Seine Interessen fingen an zwei ab weichende Wege zu verfolgen.

Die alten Mandarinen der Partei waren der Ansicht, dass das Wesentliche Marxistischer Weisheit in dem Sprichwort: „Ein rollender Stein sammelt keinen Kot an" ausgedrückt sei und zogen sich in den Hintergrund zurück. Während Fritzens Aufenthalt in Zürich war die Atmosphäre des Schweizer Sozialismus noch durch einen gründlich provinziellen Charakter gekennzeichnet. Dies erwies sich als zu viel für Fritz, der nach Wien zurückkehrte, wo er Partei-Sekretär und Redakteur seiner theoretischen Monatsschrift „Der Kampf" wurde. Sofort übernahm er die Ausgabe eines wöchentlichen Agitationsblattes „Das Volk", das in sehr großer Auflage, hauptsächlich zur Verbreitung in den Provinzen, bestimmt war. Während der Wochen kurz vor dem Kriege war er mit den Vorbereitungen für den internationalen Kongress beschäftigt: auf seinem Tische lagen die zu diesem Zwecke bereitgehaltenen Drucksachen, die Jubiläumsmarken und andere Sachen. Die Partei hatte aber 20.000 Kronen für die verschiedenen Voranschaffungen für den Kongress ausgegeben. Es wäre übertrieben zu erklären, dass man schon damals in dem Hause auf der Zeile zwei bestimmte Gruppen von Männern. mit abweichenden Prinzipien unterscheiden konnte; diese hatten sich noch nicht gebildet. Aber man vermochte schon eine gründliche Verschiedenheit In der psychologischen Stellungnahme au dem Kriege zu beobachten, einige schienen sich dar über zu freuen, stießen Schmähungen gegen die Serben und Russen aus und zogen keine Linie zwischen Regierungen und Menschen; das waren die Nationalisten von Natur, die kaum mit einer dünnen Schicht sozialistischer Kultur beleckt waren, die nicht von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde, sich abwusch. Die anderen, mit Victor Adler an der Spitze, sahen in dem Kriege eine außerordentliche Katastrophe, die man zu beweinen und zu ertragen hat. Die wachsam wartende Untätigkeit der Parteiführer diente lediglich als ein Deckmantel für die unverhehlte Agitation des tätigen nationalistischen Flügels. Von scharfen, schneidenden Verstand, von liebenswürdigem Charakter überragte Victor Adler weit seine Politik, die in letzten Jahren vollständig mit der Aufrechthaltung von Verbindungen, in der hoffnungslos trüben Tätigkeit in Anspruch genommen war. die so charakteristisch österreichischen Verhältnissen entsprach und sich so fruchtbar als Boden für pessimistische Entsagung erwies. Nicht nur stand der ältere Adler erhaben über seine Taktik, sondern diese war in ihrer natürlichen individuellen Eigenschaft den politischen Gefährten, mit welchen seine Politik ihren Meister umgab, weit über. Sein Skeptizismus wurde bei ihnen zum Zynismus. und sein freiwilliges Sichzurückziehen in eine „dekorative Kapazität" wurde von ihnen in eine offene Verhöhnung des grundlegenden Werte des Sozialismus umgewandelt. Und diese natürliche Auswahl seiner Mitarbeiter stellt den besten Ausdruck und die Verurteilung des Systems des älteren Adler fest.

Der Sohn, mit seinem echten revolutionären Temperament, nahm seiner natürlichen Eigenschaften wegen eine diesem System feindliche Stellung ein; er richtete seine Kritik, sein Misstrauen, seinen Groll hauptsächlich gegen die eigene Regierung. Als wir uns zuletzt (am 3. August 1914) trafen, zeigte er mir vor Allem die eben erst erlassene Proklamation der Regierung an die Bevölkerung, in welcher diese zur Beobachtung und Abfassung aller verdächtigen Ausländer aufgefordert wurde. Mit augenblicklich sich entzündetem Widerwillen sprach er von dem Anfang der chauvinistischen Orgie: seine äußere Ruhe bekräftigte nur seinen tiefen moralischen Ernst. Eine halbe Stunde später kam „der Doktor" an: sofort schlug er den Gang zur Statthalterei vor. um Geier, den Chef der politischen Polizei, zu sehen und mit ihm über die Absichten der Behörden in Bezug auf die in Wien lebenden russischen Emigranten sich zu beraten. In dem Automobil auf dem Wege zur Statthalterei bemerkte ich zu Adler, dass der Krieg in Wien, wenigstens äußerlich. eine Art von Feiertags-Stimmung hervorgebracht zu haben scheint.

Diejenigen, die sich jetzt amüsieren, sind die, die nicht mit müssen." antwortete er. „und ihre Freude er scheint jetzt patriotisch. Außerdem sind die Straßen voll mit unkontrollierbaren und idiotischen Leuten; das ist ihre Stunde. Anständige Menschen sitzen zu Hause und schaudern. Der Krieg wird jedem Naturtrieb und jeder Art von Wahnsinn freien Spielraum gewähren."

Von Profession Psychiatiker und Arzt, legte Adler oft an politische Angelegenheiten (besonders an die in Österreich, wie er ironisch bemerkte) die Kritik vom psycho-pathologischen Standpunkte an.

Wie weit war er in diesem Augenblick von den Gedanken entfernt, dass sein eigener Sohn einen politischen Mord ausführen würde. – Ich erinnere hier nur daran, weil nach Fritzens Tat die gelbe österreichische Presse im Verein mit einer An zahl sozial-patriotischer Organe es versuchten, diesen sich aufopfernden Revolutionär als unkontrollierbar oder sogar abnormal hinzustellen – allerdings vom Standpunkt ihrer eigenen hohlen „Normen". Doch die charakteristische Habsburger Maschine musste vor dem klaren Verstande und der mannhaften Festigkeit Fritz' zusammenbrechen. Welche kalte Geringschätzung er den Theorien des Eunuchen des Sozial-Patriotismus zeigen würde, wenn ihre Stimmen in seine Zelle dringen konnten.

Das Haupt der politischen Polizei gab seiner Ansicht Ausdruck, dass morgen früh durch eine Verfügung alle Serben und Russen ins Gewahrsam zu nehmen sein könnten. „Die wir kennen, werden wir später freilassen, doch mögen Verwicklungen entstehen: außerdem würden wir ihnen nachher nicht die Erlaubnis zum Verlassen des Landes geben können."

Auf diese Weise würden Sie zum Verlassen des Landes anraten?"

Unbedingt – und je schneller, desto besser."

Sehr gut. Ich werde mit meiner Familie morgen nach der Schweiz abreisen."

Hm! Ich würde es vorziehen, wenn Sie heute noch reisten."

Um 3 Uhr nachmittags fand diese Unterredung statt; um 6 Uhr 40 Minuten saß ich schon mit meiner Familie im Zug. der nach der Schweiz (Zürich) auslief.

III.

In der Schweiz. – Der „deutsche Verrat." – Plechanow. – Greulich.

Am 4. August 1914 traf ich in Zürich ein; die Schweiz war damals schon mit Flüchtlingen aus den kriegführenden Ländern überschwemmt. Die hauptsächliche Frage im schweizerischen Leben war – die Kartoffel geworden; wird hiervon genügend vorhanden sein oder nicht? Die belgische Neutralitäts-Verletzung, die ersten Berichte der Generalstäbe, Listen von Toten und Verwundeten, diesen Dingen wurde schwer noch Ohr verliehen, da die Frage der Lebensmittel-Beschaffung gebieterisch zu werden anfing. Auch die in der Schweiz gestrandeten Russen schöpften in diesen ernsten Tagen ihren Begriff über die Welt-Ereignisse von dem Gemüsegarten. Der Kredit zerbrach jäh in Stücke, Verbindungen mit Russland waren abgebrochen, die Banken stellten die Umwechslung russischen Geldes ein; dann wollten sie 100 Francs für 100 Rubel zahlen; der Kurs stieg, um wieder zu fallen; schließlich trat völliger Stillstand ein.

Heute morgen gaben sie 240 Francs für 100 Rubel."

Was Sie nicht sagen!"

Ja, sie gaben es. Sehen Sie, gestern erklärte England den Krieg. Wechseln Sie Ihre 50 Rubel sofort ein, oder wenn morgen Italien sich zugesellt, werden sie uns wieder gar nichts zahlen wollen."

Das reisende russische Publikum, die Emigranten, die Studenten, die Vergnügungslustigen bildeten aus ihrer Mitte ein Komitee für öffentliche Wohlfahrt, um welches sich alle Flüchtlinge, der Armee-Deserteur, das Mitglied des Odessaer Obergerichtes, der jüdische Arbeiter, der Direktor eines Hospitals, verschiedene Schauspielerinnen u.s.w. gruppierten. In Genf gründeten sie in der russischen Kolonie eine Generalverwaltung für ökonomische Wohlfahrt unter dem Vorsitz des kaukasischen Sozialdemokraten T., der, wie üblich, mit „Genosse Vorsitzender" angesprochen wurde. Der russische Konsul Wessel, der den Zusammenkünften beiwohnte (oh, wie süß waren die Tage nationaler, Einheit) fragte mit großem Erstaunen seinen Nachbar: „Wenn das nur der Genosse der Vorsitzenden ist, wer ist der wirkliche?", nachher wandte er sich achtungsvoll an T. – Nach Abnahme der Nahrungsmittel-Krisis begannen unter den politischen Emigranten Auseinandersetzungen über das Verhalten der sozialistischen Parteien in den verschiedenen Ländern. Die Zustimmung der deutschen Sozialdemokratischen Partei zu dem ersten Kriegskredit, von 5 Milliarden, erzeugte große Bestürzung, viele wollten es gar nicht glauben und beharrten darauf, dass die Nummer des Berliner „Vorwärts" vom 5. August, die uns Haases Erklärung brachte, einfach ein Erzeugnis des deutschen Generalstabes mit der Absicht wäre, dem Feind über die innerlichen Verhältnisse im Unklaren zu halten. Die ersten noch undeutlichen Neigungen zur Bildung von Gruppen innerhalb der Partei machten sich schon bemerkbar. P. B. Axelrod kam durch den „Verrat der Deutschen" völlig aus dem Häuschen, denn so nannten wir die Zustimmung vom 4 August in unseren Privatunterhaltungen. „Wenn Bebel noch leben würde," sagte Axelrod. „würde er dies niemals zugelassen haben." Die Handlungsweise der französischen Sozialisten, welche am 5. August genau dasselbe taten, was die Deutschen getan, nämlich für die Kredite stimmten, machte schon einen geringeren Eindruck. Die Meisten unter uns hielten stets die französischen Sozialisten von geringerer Bedeutung als die deutschen, und andere, Axelrod darunter, fanden in dem Kriegszustände selbst „mildernde Umstände" für ihr Eintreten für die Franzosen. -

Nun erreichten uns Neuigkeiten über Plechanows Haltung, der bei Beginn des Krieges sich in Paris aufhielt. Diese Berichte enthielten zunächst nichts sehr Bestimmtes, doch war das, was wir vernahmen, zur Verursachung der größten Unruhe angetan. In meinen zahlreichen Unterhaltungen über diesen Punkt würde Axelrod niemals die Möglichkeit zugestanden haben, dass Plechanow sich zu einem Patrioten umwandeln könne. „Ich räume ein, er werde in seiner Einschätzung zwischen französischen und deutschen Sozialisten unterscheiden, und dass er einen französischen Sieg wünschen werde, aber dass er für einen Sieg der zaristischen Heere sein würde – niemals!"'

Ich teilte nicht diese Zuversicht. Noch zur Zeit des russisch-japanischen Krieges nahm Plechanow in der „Iskra"-Gruppe jener Tage einen Standpunkt für sich selbst ein; natürlich gab er seiner patriotischen Gesinnung keinen lauten Ausdruck: und schüttelte auf dem Amsterdamer Kongress ostentativ die Hand von Katayama, während er zu gleicher Zeit seine Gegnerschaft zu der den Revolutionären damals so werten Zuversicht auf die Niederlage der russischen Kräfte offen bewies. Als ich 1913 in Bukarest war. sagte mir Rakowski, dass gerade zur Zeit des russisch-japanischen Krieges Plechanow ihm mit größerer Offenheit, als er sie uns gegenüber zeigte, versichert habe, nach seiner Meinung, wäre die Idee, Sozialismus muss „antinational" und muss auf eine „nationale Niederlage hinwirken", eine von den jüdischen Intellektuellen in die Partei gebrachte Importation. Diese Behauptung muss für Rakowski umso bezeichnender erschienen sein mit Rücksicht auf die Tatsache, dass damals nicht nur die radikalen, sondern auch die Mehrheit der liberalen Intellektuellen, mit Miljukow an der Spitze, von ausgesprochenen „Niederlage"-Gefühlen durchdrungen waren. Später, im Juli 1914, zwei oder drei Wochen vor Beginn des Krieges, bei Gelegenheit der Russischen Konferenz zwecks Vereinigung in Brüssel verstand ich durch eine Anzahl von Plechanow gemachter vorsichtiger Beobachtungen, dass er dem „anti-patriotischen" Feldzug. den ich in meinen Mitteilungen von Serbien und Bulgarien wahrend des Balkankrieges vorschlug, nicht geneigt war. Alle diese Dinge schufen in mir im August 1914 eine Stellungnahme des Verdachtes gegen den gesalbten Führer der russischen Sozialdemokratie Doch der wirkliche Verlauf der Dinge übertraf weit meine düstersten Erwartungen. In Paris segnete Plechanow die russischen Freiwilligen zu ihrem Kampfe mit „preußischem" Militarismus, später war er unfähig, genügend Mannheit in sich zu mustern, um seine Stimme zum Protest zu erheben, als französischer Militarismus, repräsentiert durch Unteroffiziere der Fremden-Legion die russischen Idealisten unglaublichen herabwürdigenden Beschimpfungen unterwarfen. Plechanow verlangte von den Bulgaren in einem Schreiben, sich in den Krieg auf der Seite des Zaren einzumengen: er mobilisierte Kant zur Verteidigung der Zaren-Diplomatie, arbeitete für Italiens Eintritt in den Krieg durch Lieferung der überspanntesten chauvinistischen Artikel an die italienischen gelben Zeitungen und verband, sich schließlich mit gewissen rückständigen Laboriten und Populisten und mit dem Renegaten Alexinski* zur Bildung des Stabes des Pariser „Prizyv" (Der Ruf), welches uns, die Internationalisten, in jeder Nummer zu Agenten des deutschen Generalstabes stempelte.

Doch lasst uns zum Beginn des Krieges zurückkehren. In Zürich traf Greulich einen Deutschen, den Patriarchen der Schweizer Sozialdemokraten. Nicht von großer, doch gesetzter Statur, nicht stark, doch schwerfällig bildete er einen völligen Gegensatz zu seinem Zeitgenossen, dem verstorbenen Bebel, dessen Magerkeit mehr einer straffen Feder, von Stahl glich. Mit seiner weißen Mähne und den tiefen Furchen in seinem nachdenklichen Gesicht erweckt Greulich sofort den Eindruck von Bedeutung; in diesen ernsten Wochen war er fürchterlich entrüstet über die Handlung der deutschen Sozialisten, später verlor sich die Gewalt dieses Zornes von Tag zu Tag.

Die Internationale existiert nicht mehr." sagte Greulich: ich notierte diese Bemerkung sofort in mein Notizbuch. „Bei der Ausübung unserer alltäglichen politischen Arbeiten.", fuhr er fort, „denken wir dass wir wirklich eine Macht darstellen und. wir sind es tatsächlich. Doch wenn große Massen über das Tätigkeitsfeld dahin rasen, wenn es sich ergibt, dass wir eine Minderheit ausmachen, können wir leicht aus unserem politischen Stolz in politische Selbsterniedrigung geschleudert werden.“ Für mich ist das der Schlüssel, alle Vorgänge zu verstehen. Victor Adler. Austerlitz. Renner sind glänzende Sozialisten, doch auch sie werden zusammen mit dem Rest der Partei in der Umwälzung der politisch unorganisierten Massen verloren gehen.

Wir treten in eine Periode der größten Krisis für die Internationale; sie dürfte später wiedergeboren, werden, doch nicht auf der gleichen; Grundlage. Vor allem müssen wir anerkennen, dass die politischem Parteien sich bloßgestellt haben.

Die Gewerkschaften haben sich im Hintergrund gehalten, doch vermögen sie ohne internationale Bande nicht zu existieren. Es ist sonach, meine Ansicht, dass nach den Kriege die Internationale auf der Basis der Gewerkschaft wieder auferstehen wird.“

Greulich war in seinen Äußerungen nur teilweise im Rechte. In der Zahl sind wir Sozialisten sicherlich in der Minderheit, doch die Klasse, die diesen Krieg führt, ist gleichfalls in der Minderheit. In unserem sozialen System finden sich noch große Bevölkerungs-Massen, die in ihrem Gesichtspunkte vollständig „ungeschichtlich" sind, das heißt, die in normalen Zeiten keinerlei politisches Leben führen. Die kapitalistischen Verhältnisse erlauben nicht und werden niemals die Erhebung dieser niedrigen Klein-Bourgeoisie, der Halbproletarier, der Halb-Obdachlosen, zu der Stufe einer gleichen Anteilnahme an der Bestimmung der Gesellschaft zulassen; diese Klassen können aus ihrem intellektuellen Tode nur durch solche Katastrophen, wie Krieg oder Revolution gerissen werden.

Krieg zerschmettert die Fesseln des Gemeinplatzes und folglich die drückenden, erniedrigenden, unaufgeklärten Umstände: Krieg zerstört das bestehende Gleichgewicht, reißt einen aus seinem gewohnten Geleise herauf und verspricht Änderungen. Krieg umpackt alle Klassen, und deshalb fühlen die Unterdrückten und Überladenen sich auf gleichem Fuße mit den Reichen und Mächtigen. Diese gewaltigen Hoffnungen für entscheidende Änderungen sind eine der Ursachen, dass Krieg so oft die Revolution im Gefolge hat, denn Krieg allein kann nie die durch ihn erregten Hoffnungen erfüllen. Nachdem Krieg die Massen mit den martervollsten seelischen Krisen erschüttert, werden sie von ihm zuletzt unabänderlich getäuscht. Und die nämlichen Flügel der Gesellschaft, die in gewöhnlichen Zeiten von unserer Propaganda kaum berührt wurden, schauen in die Richtung der revolutionären Partei zwecks Verwirklichung von Hoffnungen, deren Erfüllung sie noch nicht lange zurück von ihrer Regierung mit ihrem Kriegsapparate erwartet hatten. Der. Erfolg der Revolution hängt in nicht geringem Maße von der Größe und dem Umfange ab, mit welchem die sozialistische Partei diese Massen zu überzeugen vermag, dass ihre Hoffnungen keine Illusionen sind.

IV.

Die Schweizer Sozialdemokraten – Grütli. – Eintracht. – Fritz Platten. – Meine deutsche Flugschrift: „Der Krieg und die Internationale". – Sozialistische Anhänger des General-Stabes

Der Sozialismus in der Schweiz ist durch Sprachenbande an der einen Hand an den deutschen, zur andern an den französischen Sozialismus, gebunden. Es war durchaus erklärlich, dass die Krise in diese zwei mächtigen sozialistischen Parteien sofort in der Schweiz, dem von den Kriegsfeuern eingeschlossenen Lande, ihren Ausdruck finden musste. Der Kampf spiegelte sich umso hitziger infolge des Umstandes ab, dass die Schweizer Sozialpatrioten durch die schwerwichtigen Gegensätze der deutschen und französischen Mittelpunkte natürlich angeregt wurden. In dieser Verbindung ist folgender Fall politischer Symmetrie charakteristisch: Im Schweizer Parlament sitzen zwei Abgeordnete mit identischen Vor- und Zunamen: Johann Sieg aus Zürich und Jean Sieg aus Genf. Beide sind sie Sozialpatrioten, doch während Johann Sieg ausgesprochen deutschfreundlich, ist Jean Sieg noch mehr Franzosenfreund. Unter diesen Umständen sollte die internationale Politik der sozialistischen Partei als der einige mittlere Boden von Selbsterhaltung erscheinen. Die internationale Stellung wurde von den Massen der Partei allgemein sehr stark begünstigt (es war mein Privileg, in jenen Tagen, vielen Partei-Versammlungen beizuwohnen), doch traf dies nicht auf die Parteiführerschaft zu.

Die Unterstützung des rechten, nationalistischen Flügels der Partei kam deutlich vom Grütli-Verein, der wohlbekannten Körperschaft, aus der die schweizerische Partei entstand. Der kriegerische Nationalist unter ihnen fand sich in dem früheren Pastor Pflüger, einem der Partei-Vertreter im Bundes-Parlament. „Wenn ich der deutsche Kaiser wäre," sagte er in einer der Parteiversammlungen, in denen die ersten Erörterungen über den Krieg gepflogen wurden, „wurde auch ich mit gezogenem Schwerte mich den Russen entgegenstellen." Als Pflüger Monate später diesen Ausspruch auf dem Partei-Kongress in Bern wiederholte, übte, zum Unglücke für ihn, seine bedeutende Beredsamkeit nicht den gewünschten Einfluss aus; es entstand eine große Unruhe, Gelächter, Pfeifen, Zischen, und der unglückliche Anwärter für den Posten des deutschen Kaisers sah sich außer Stande, seine Rede zu beenden.

Der Herd der Linken war der Verein „Eintracht", der fast aus schließlich aus Fremden bestand: Deutschen, Österreichern. Russen usw. Von wirklichen Schweizern war Fritz Platten, Exekutiv-Sekretär der Partei, der tätigste; er war von hoher Statur mit freiem offenen Gesicht, ein vorzüglicher Volksredner, von Geburt und Lebensart selbst ein Proletarier, obwohl mit einer russischen Studentin verheiratet. Platten stellt in sich selbst eine der ohne Zweifel am meisten beschäftigsten Personen in der Schweizer Sozialdemokratie vor. „Welche Schmach." sagte er in einer dieser ersten Versammlungen, „dass die Arbeiter in diesem kritischen Augenblick sich wieder beugen mussten. doch hoffe ich, dass sie noch vor Beendigung des Krieges beweisen werden, dass sie zu sterben wissen, doch nicht allein im Dienste anderer, sondern auch für sich selbst." Von Plattens Lippen sind dies keine Phrasen. Als in 1905 die Revolution in Russland ausbrach, beschloss Fritz, damals ein junger Mann von 20 Jahren. tätigen Anteil an ihr zu nehmen; reiste nach Riga, kämpfte in den vordersten Reihen und erwarb aus erster Hand gründliche Bekanntschaft mit der Innenseite russischer Gefängnisse; in 1912 fand man ihn an der Spitze des Generalstreiks. als einer der entschlossensten und einflussreichsten Führer. Schon im September 1914 arbeitete das Exekutivkomitee der „Eintracht" ein aggressives internationales Manifest aus und lud die „Parteiführer" zu einer Gründungs-Versammlung ein. in welcher ich in einem Vortrage das Manifest verteidigen sollte. Doch die „Führer" erschienen nicht; sie erachteten es als zu gewagt, in einer solch heiklen Frage einen entscheidenden Standpunkt einzunehmen: sie zogen eine untätige wartende Stellungnahme vor und beschränkten sich auf eine gelehrte Kritisierung der patriotischen „Überspanntheiten" der deutschen und französischen Sozialisten. Nebenbei bemerkt, wurde meistens diese politische Geistertätigkeit in allen sozialistischen Kreisen der neutralen Länder vorgefunden, die Ver. Staaten eingeschlossen: dort sogar noch ausgesprochener als anderwärts.

Die „Eintracht" nahm fast einstimmig die Resolution an. die hierauf in der sozialistischen Presse veröffentlicht wurde und als ernster Ansporn für die öffentliche Meinung der Partei diente.

Auf dem schon erwähnten Partei-Kongress sprach Richter Otto Lang über den Krieg; der Ton seines Vortrages war der eines sehr gemäßigten Internationalisten, sich dem gegenwärtigen Standpunkte Kautskys nähernd. Die Stellung der Mehrheit des Kongresses jedoch war unvergleichlich entschlossener als die des Vortragenden. Im Allgemeinen hat die schweizerische Partei während der Kriegszeit eine rasche Wendung nach links mit dem Resultate ausgeführt, dass ein ansehnlicher Teil der Grütli-Leute gestrandet und sich gezwungen sah, eine unabhängige Reformer- und Sozialpatrioten-Partei zu bilden. In dieser Tatsache liegt, dies kann gleichzeitig hier bemerkt werden, eine andere klare Veranschaulichung des äußerst tiefen Risses, der Sozialpatriotismus vom Internationalismus scheidet.

Mein Aufenthalt in der Schweiz war, soweit ich in Betracht kam. hauptsächlich einer Arbeit der in deutscher Sprache geschriebenen Flugschrift „Die Internationale und der Krieg" gewidmet; diese entsprang meinem Tagebuche, in welches ich während der ersten wenigen Wochen, zunächst nur für meinen eigenen Gebrauch, über einen Versuch, die über die sozialistischen Parteien hereingebrochenen Katastrophen zu erklären, als auch über die Weise, derselben zu entrinnen, meine Eintragungen machte.

Platten übernahm die Verteilung und setzte es durch, dass einige Tausend Exemplare nach Deutschland und Österreich geschafft wurden. Zu dieser Zeit befand ich mich schon in Frankreich und las mit Erstaunen eine Depesche in einer französischen Zeitung, dass ein deutscher Richter mich in absentia wegen Abfassung dieser Flugschrift zu einem Straftermin verurteilt habe. Ich muss gestehen, dass dieser Hohenzollern – Richter durch die Verhängung einer Strafzeit, die abzusitzen ich gerade keine unnötige Eile zeigte, mir einen Gefallen von ziemlichem Werte erwies. Den sozialpatriotischen Lügenschmieden und ideologischen Schnüfflern von der Kerenski-Sorte wird dieses über mich ausgesprochene Urteil eines deutschen Gerichtes eine harte Nuss zu knacken geben, wenn sie ihre vorzüglichen Fähigkeiten zum Beweise, ich sei im Grunde ein Agent des deutschen Generalstabes, verwenden werden.

Die französischen Zollbehörden ihrerseits hielten ein Paket dieser Flugschriften, das von der Schweiz ans versandt worden war, an und benachrichtigten mich, dass sie ihres deutschen (!) Ursprungs wegen beschlagnahmt würden. Einer meiner russischen Freunde teilte dies Gustav Hervé mit und dieser, der damals noch seine Augenblicke des Oppositionsgeistes hatte, ließ in seiner Zeitung „La Guerre Sociale" eine Bemerkung erscheinen, welche die Beschlagnahme dieser „anti-deutschen" Pamphlete lächerlich machte. Aus diesem oder irgend anderem Grunde wurde mir nach wenigen Tagen das aufgehaltene Paket vom Postamt zugeschickt.

Es dürfte sich zu sagen erübrigen, dass die deutsche sozialpatriotische Presse ihr gut Teil versuchte, in dem Verfasser der Flugschrift den geheimen Patrioten und Verteidiger der Alliierten-Interessen zu entdecken. Welches ist das relative Verhältnis von bewusster Verdrehung und chauvinistischer Schwärmerei bei Anklagen solchen Kalibers? Die Bestimmung dürfte nicht leicht fallen. Soviel steht jedenfalls fest: Sozialpatriotismus erniedrigt den Menschen moralisch und geistig bis zu einem solchen Grade, dass er sie da von abhält, in einem Sozialisten einfach nur diesen und nichts mehr zu sehen. Wenn zwei feudale Leibeigene sich am Wege trafen, fragten sie sich gegenseitig Wessen Mann bist du?" – „Ich gehöre Scheremetjew." – Und ich gehöre Robrinski." Offensichtlich ist der feudale Begriff vom jemand zu gehören in der Brust der Sozialpatrioten tief verankert. Welchen Generalstabs Interessen verteidigt er? Die der Romanows oder die der Hohenzollern Herren? Diese Leute beginnen unfähig zu werden um einzusehen, dass es möglich ist. der Feind aller „Herren" zur selben Zeit zu sein, seinem eigenen Banner zu folgen und sich selbst zu fühlen, – um Fritz Adlers herrlichen Ausdruck zu gebrauchen – ein Soldat in der ewigen Armee der sozialen Revolution zu sein.

V.

Ankunft in Frankreich. – Paris. – Viviani. – Joffre. – Briand. – Clemenceau.

Am 19. November 1914 kreuzte ich die französische Grenze. Schon sah man überall viele Verwundete, und Rote Kreuz-Schwestern waren an den Waggontüren mit Sammelbüchsen. Alle hatten das Gefühl, dass der Krieg noch vor dem Frühling beendet sein wird, obwohl niemand genau zu sagen vermochte: warum. Einfach, Menschlichkeit war noch nicht so weit gekommen, um den Krieg als normalen Lauf der Dinge zu betrachten.

Paris war betrübt, die Hotels geschlossen; und keineswegs waren alle die im August Geflohenen schon wieder zurückgekehrt; die Straßen waren des Nachts in Dunkelheit gehüllt, die Cafés sperrten um 8 Uhr abends. „Was ist die Erklärung für diesen letztgenannten Schritt?"; fragte ich die Leute, die es wissen müssen. „Das ist sehr einfach; General Callieni. der Gouverneur von' Paris, wünscht keinerlei Ansammlungen von Massen. In der jetzigen Zeit können die Cafés sehr leicht an den Abenden zum Zielpunkt der Kritik und Unzufriedenheit seitens der arbeitenden Klasse werden, welche des Tages beschäftigt ist." Überall sah man viel Frauen in schwarz. In den ernsten Tagen, als die stolze patriotische Stimmung noch anhielt, trafen nicht nur Mutter und Ehefrauen. sondern auch weit entfernte Verwandte Trauerkleidung. In allen Straßen wimmelte es von verwundeten, in der Genesung begriffener Soldaten, mit neuen Kreuzen auf der Brust. In achtungsvoller, fast schweigender Unterhaltung mit ihnen standen alte Leute, die nicht nur patriotisch, sondern oft körperlich noch gesund waren, mit den Schleifen der Ehrenlegion im Knopfloch. Es gibt in Paris eine Menge dieser unverwüstlichen Befürworter eines „Krieges ius qui au bout", die 1870 für den Dienst zu jung waren und heute zu alt sind.

Zu Zeiten sah man Zeppeline; ich erinnere mich einer Nacht im Dezember 1914. als ich, durch die halb dunklen Straßen meinem Heim zu gehend, zuerst von einer Richtung her, dann von der anderen, Trompetenblasen vernahm, das aufs Äußerste erschreckte: dunkle; Schatten eilten vorbei, und eine Straßenlaterne nach der anderen wurde an der Spitze mit Schirmen verdeckt waren, wurde verlöscht: einige Minuten später war alles vollständig finster, keine Seele war auf der Straße. Obwohl ich eine Idee hatte, dass sich etwas Interessantes ereignen würde, verstand ich dies überhaupt nicht. Plötzlich kam ein dumpfes Getöse, dann ein anderes – näher, dann ein drittes, wieder weiter entfernt. Es wurde mir klar. dass das ein Bombardement war: Kamen die Schüsse von unten nach oben der aus den Lüften nach unten? Schossen die Kanonen im Kampfe gegen unsichtbare Zeppelins oder warfen diese Luftkreuzer explodierende Granaten herab?

Später erfuhr ich, dass beides zu einer Zeit stattgehabt. Nach einer halben Stunde begann der Scheinwerfer des Eiffelturms die Wolken zu durchbrechen. Noch ein anderes Mal war ich in meinem Hotel Zeuge eines ungewöhnlichen Schauspiels. Alle Einwohner saßen auf den Stufen der gewundenen Treppen, lasen, unterhielten sich, spielten Karten, bei dem Licht von Talgkerzen: die Andrehung des elektrischen Lichtes in den Zimmern war strengstens verboten. Von meinem Fenster im fünften Stock hatte ich nur einen unbestimmten Eindruck von der Stadt, die unter mir im Verstecke lag. Entfernte Explosionen wurden wieder zwei Mal gehört; die Scheinwerfer spielten unaufhörlich zwischen dem Gewölk. Früh am Morgen vernahmen wir wiederum Trompetenschall, dieses Mal wild und freudig: der Feind war zur Flucht getrieben, man darf das Licht wieder andrehen und die in den Kellern Sicherheit gesucht, konnten ungestraft die Treppen zu ihren Zimmern hinaussteigen. Am nächsten Morgen berichteten die Zeitungen, in welchen Stadtteilen Häuser zerstört wurden und wie viele Menschenleben zum Opfer gefallen sind.

An der Spitze der französischen Regierung stand bei Beginn des Krieges der ziemlich farblose Phrasendrescher Viviani, ein ehemaliger Sozialist und Schüler von Jaurès. Die französische Bourgeoisie schien es sich zur Praxis gemacht zu haben, die verantwortlichsten Regierungsstellen Sozialisten von gestern anzuvertrauen. Die französischen Radikalen, die bedeutendste Partei in der Republik, sind zum größten Teil durch ihr übertrieben kleinliches, provinzielles, kleinbürgerliches Ansehen ausgezeichnet, das sie verhindern würde, die Welt-Interessen der französischen Börse zu leiten. Ein Rechtsanwalt, der die Schule des Sozialismus durchgemacht und der es weiß, welche Art Sprache den Arbeitermassen gegenüber zu gebrauchen sei, ist für die verwickelte Politik der heutigen Tage viel passender, natürlich unter der Bedingung, dass dieser Anwalt darauf vorbereitet ist, sein Gewissen, sozusagen, dem Kapitalismus gegen angemessene Berücksichtigung zu verkaufen. Ein anderer Ex-Sozialist, Briand, einst ein Verfechter des Generalstreiks, hatte im Viviani-Ministerium die Stellung des Justiz-Ministers inne. Briand nahm eine Stellung des unverhehlten Skeptizismus gegenüber dem Premier ein, kritisierte öffentlich die reaktionären Pläne seines Chefs in den Gängen der Kammer und betätigte sich hierdurch nicht wenig bei der Vorbereitung für den Fall seines Freundes und Vorgesetzten.

Der Nimbus Joffres hatte zu dieser Zeit, gleich nach der Schlacht an der Marne, durch welche der Vormarsch der Deutschen zum Halten gebracht wurde, seinen Höhepunkt erreicht. Die gesamte Presse konnte von ihm nur mit Kniebeugen sprechen und wies auf das Parlament mit bonapartistischer Verächtlichkeit als eine Gesellschaft von Trompetern hin, ohne eine nützliche Tätigkeit in der Welt. Die reaktionären Tiefen waren siedend von aktiver Tätigkeit für einen Coup d'etat (Staatsstreich), Verhandlungen wurden mit den hauptsächlichsten Zeitungen nach dieser Hinsicht angeknüpft und Berichte hierüber bildeten einen alltäglichen Gesprächsstoff. Soweit als Worte in Betracht kommen, lag der bonapartistische Coup d'etat schon in der Luft. Doch um den Hasen in ein Ragout zu verwandeln, wie ein französisches Sprichwort sagt, muss man zuerst den Hasen haben. Das war, was da fehlte: man kann keinen bonapartistischen Staatsstreich ausführen ohne einen Bonaparte.

Jedenfalls konnte schwerlich eine ungeeignetere Person als „Papa Joffre" ausgesucht werden. Sein vorsichtiger, warnender Charakter, die Abwesenheit jedes idealistischen Funkens, machten ihn zum geraden Gegenteile des großen Genies französischer militärischer Überlieferung, Napoleon. Auf dem Gebiete der Kriegskunst bildet er den absoluten Kontrast zu der konservativen beschränkten Klein-Bourgeoisie, der vor jedem Schritte, der ein Wagnis in sich schließt, zurückschreckt. Nach der Schlacht an der Marne (für welche von Vielen das Verdienst nicht Joffre. sondern Callieni zugeschrieben wird) begann der Einfluss des Generalissimus zuerst langsam, dann mit großer Raschheit bergab zu gehen; die französische Armee vermochte als seinen Nachfolger keinen anderen Adler zu entdecken. Neue Siege und neue Ruhmestaten blieben aus; die Aussichten für einen militärischen Coup d'etat fielen natürlich ins Wasser.

Es gab tatsächlich zu dieser Zeit im militärischen Leben Frankreichs keine „Adler"; im Gegenteil hat Mittelmäßigkeit nie solch unbestrittenen Einfluss in der dritten Republik ausgeübt, wie zur jetzigen tragischen Epoche. Der größte Mann, den die französische Bourgeoisie für die Stellung eines Führers anzuziehen es fertig brachte, war Aristide Briand. Ohne eine; einzige herrschende nationale Idee, ohne die nötigsten leitenden Prinzipien von staatsmännischer Kunst und Moral, ein früherer Meister in der Kunst des Drahtziehens, ein Händler mit verlorenen Seelen des französischen Parlaments, ein Anstifter von Bestechung und Korruption. ein Virtuose in den Manieren einer politischen Grisette. stellt Aristide Briand in jeder seiner Eigenschaften eine völlige Karikatur der „Größe“ des „nationalen“ Krieges für „Befreiung" dar.

Briands stärkster Gegner ist der alte Vernichter von Ministerien, der, „Tiger" des französischen Radikalismus. der 75 Jahre alte Clemenceau. Die antreibende Kraft seiner großen Fähigkeit als Publizist ist Bosheit. Clemenceau ist mit allen inneren Drahtziehereien in der französischen Politik zu sehr vertraut, um Illusionen über etwaiges Vorhandensein idealer Motive zu hegen, er ist zu schlecht, um solche Täuschungen unbefleckt bei andern verbleiben zu lassen. Clemenceau tat mehr als irgend ein Anderer, um den aufgeblähten Ruf derjenigen, die den Krieg der Nation leiten, aufzustacheln. Poincarés, des Präsidenten der Republik, Joffres, des Höchstkommandierenden, und des Hauptes des Briand-Kabinetts. Derselbe Clemenceau jedoch, der in der Herrschaft kapitalistischer Finanzen einen Spahn vom Jakobinertum darstellte, ist jeder Art einer „logischen" Politik vollständig bar. Er fordert eine zehnfache Anstrengung, um den Krieg zu Ende zu führen, obgleich er das Geheimnis für den Erfolg ebenso wenig kennt wie die anderen, und wenn seine zerstörende Kritik an der geistlosen, trügerischen und furchtsamen Taktik Briands dessen Fall zufolge haben sollte, ist es kaum anzunehmen, dass das französische Parlament als seinen Nachfolger den großen „Zerstörer" Georges Clemenceau zu berufen sich entschließen wird.

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P. S. Nachdem obige Zeilen geschrieben waren, waren der Fall des Briand-Kabinetts und die Bildung eines neuen zur Tatsache geworden. Clemenceau wurde übergangen. An die Spitze des Kabinetts wurde der alte Ribot gesetzt; der konservative, etwas „linkisch" in seiner Richtung, keine entschiedene Haltung über die Fragen in Verbindung mit dem Kriege besitzt: ich mochte sagen, das Kabinett Ribot ist das Kabinett des fruchtlosen Wartens.

* Die letzte Nummer der internationalen Zeitung „Natschalo“ aus Paris bringt die Neuigkeit, dass dieses frühere sozialistische Mitglied der zweiten Duma sogar von dem Personal der gerade nicht sehr wählerischen Zeitung „Prizyv“ entlassen wurde.“

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