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Leo Trotzki 19171031 Pogromagitation

Leo Trotzki: Pogromagitation

[„Rabotschij i Soldat" Nr. 2, 18./31. Oktober 1917. Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 3, часть 2. Москва-Ленинград, 1925]

Von allen Seiten gibt es Beschwerden über Pogromagitation im Land und bei uns in Petrograd. In den Schlangen, in Teehäusern, in Straßenbahnen, auf Plätzen gibt es oft Reden über das Thema, dass es notwendig sei, die „Jidden"1, die Sozialisten, die Sowjets zu vernichten ...

Die bürgerliche Presse klappert deswegen wütend mit den Zähnen: Der Pöbel ist ungezügelt, wenn man ihm Freiheit gibt, und das Tier in ihm wird geweckt, – jetzt kann nur Blutvergießen Ordnung bringen. Natürlich sind die Sozialisten und besonders die Bolschewiki für alles verantwortlich.

Auf der anderen Seite erklingen Stimmen unter den Kompromissler-„Sozialisten": „Ist es jetzt zulässig, von einem Kampf um die Sowjetmacht zu sprechen, wenn sich die Pogrom-Agitation ausbreitet ..."

Egal worüber man spricht: die Sowjetregierung, den sofortigen Frieden, die Landübertragung an das Volk, es wird immer einen weisen Mann geben, der einem mit dem Erfolg der Schwarzhunderterhetze schrecken wird.

Aber woher kommt dieser Erfolg? Was ist die Grundlage der Pogromagitation? Die Unaufgeklärtheit und vor allem Armut, Hunger, Verzweiflung der unteren werktätigen Massen. Eine kinderreiche Soldatenfrau, deren Mann nicht aus den Schützengräben zurückkehrt, steht stundenlang in der Schlange, wird bei Regen nass, und der bezahlte Agitator flüstert ihr ins Ohr: „Der Sowjet wurde gebildet, Bolschewiki und Jidden in die Duma gewählt, und es ist nichts da. Wir müssen alle verjagen: sowohl die Regierung als auch die Sowjets als auch die Dumas.“ Dieselbe Rede hört ein arbeitsloser unaufgeklärter Zuwanderer aus dem Dorf, ein kriegsverwundeter Soldat, der betteln gehen kann ... Die Revolution hat ihnen nichts gegeben, im Gegenteil: Sie leben in vielerlei Hinsicht schlimmer als zuvor ... Und sie sind bereit, ihre Wut, ihre Bitterkeit auf allen abzuladen: auf der Regierung und den Juden und Sozialisten und den Sowjets und allen, die eine Jacke und einen Hut tragen.

Ein hungriger Arbeitsloser oder habtoter Krüppel hört von einem Dienstmädchen, dass ihre „Herrschaften" jetzt viel Zucker, Öl und Fleisch kaufen – nur zu einem dreifachen Preis. Lebensmittelkarten sind nur für die Armen; und Arme bekommen oft mit Karten nichts. Und der Reiche, der alle Karten umgeht, bekommt alles, was er braucht, und genießt das Leben. „Hier ist sie, die Republik!" – flüstert der bezahlte Agitator dem hungrigen Werktätigen zu ... Und er antwortet: „Zur Hölle mit allem und jedem!" ...

Ja, die Revolution hat bisher die werktätigen Massen getäuscht, besonders die Benachteiligten ihrer Unterschicht. Und von hier entwickelt sich eine Pogrombewegung. Dies ist ein spontaner Protest der unaufgeklärtesten, unglücklichsten Arbeiter, Soldaten und Bauern gegen ein bedrückendes Leben, gegen Krieg und Hunger, gegen Unrecht und Betrug.

Natürlich muss man gegen die Pogromagitation mit Worten und Überzeugung kämpfen. Aber dies ist viel zu wenig. Es ist notwendig, dass die Revolution den Armen ihr Gesicht und nicht den Rücken zuwendet. Es ist notwendig, dass der unaufgeklärteste, abgehetzteste und benebeltste Werktätige tatsächlich das Gefühl hat, dass die revolutionäre Macht ihn beschützt, nicht den Reichen.

Dies ist der springende Punkt. Wir brauchen eine revolutionäre Regierung – gegen Bankiers, Wucherer, Plünderer und Spekulanten. Wir brauchen die Sowjetmacht. Eine solche Macht, die dem Volk nahesteht, wird immer in der Lage sein, alle Lebensmittelvorräte bekanntzumachen und Schieber streng zu bestrafen. Die Hungrigen, denen die revolutionäre Macht ein Stück Brot geben wird, statt dem reichen Müßiggänger zwei Stück zu geben, werden verstehen, dass die Revolution für sie ist. Wenn die Sowjetregierung allen einen sofortigen Frieden anbietet, Profite aus Militärlieferungen und versteckte Nahrungsmittel beschlagnahmt, den Bauern Land gibt, den Bankier zur Arbeit zwingt, den Hungrigen Brot gibt, dann wird die Schwarzhundert-Predigt in der Luft erstarren und in den Herzen keinen Anklang finden. Der gestrige Pogromist wird in der Tat verstehen, wo Wahrheit und wo Lüge ist, und sich der Revolution anschließen.

Der einzige ernsthafte Weg, um die Schwarzhunderter in den Unterschichten zu bekämpfen, besteht darin, alle Macht den Sowjets zu übergeben. Je verzögerter eine solche Übergabe ist, desto mehr wird die Pogrombewegung anwachsen.

1 Im Russischen gibt es zwei verschiedene Wörter für „Jude“, die offizielle Bezeichnung „еврей“ (ewrej, „Hebräer“) und die abfällige „жид“ (schid), Trotzki hat hier letztere in Anführungszeichen verwendet. [Der Übersetzer]

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