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Leo Trotzki 19170826 Was ist vorgefallen?

Leo Trotzki: Was ist vorgefallen?

[Erschienen in „Proletarij" (Zentralorgan der RSDRP [Bolschewiki]) Nr. 1 vom 26. (13.) August 1917. Nach der Broschüre „Der Charakter der russischen Revolution“, erschienen im Verlag der Arbeiter-Buchhandlung. Wien 1921 als 5. Heft der „Materialien zur Geschichte der proletarischen Revolution in Russland“. S. 9-15. Übersetzt von Sophie Liebknecht. Siehe auch New Yorker Volkszeitung, Sonntagsblatt, 17. Juli 1921, Sektion II, S. 14 f.]

Kein Mensch kann mit Bestimmtheit sagen, zu welchem Zweck die Moskauer Konferenz stattfindet. Ja, bevor sie noch anfingt, behaupten schon amtliche Teilnehmer, selbst nicht zu wissen. wozu man sie eigentlich nach Moskau eingeladen habe. Zugteich äußern sich fast alle über die Beratung in verächtlichen oder misstrauischen Worten. Und doch reisen sie hin. Wie ist dies alles an verstehen?

Lässt man das Proletariat, das eine besondere Stellung einnimmt, beiseite, so zerfallen die Teilnehmer der Moskauer Konferenz in drei Teile: die Vertreter der kapitalistischen Klassen, die Organisationen der kleinbürgerlichen Demokratie und die Regierung.

Die besitzenden Klassen sind am stärksten durch die Partei der Kadetten vertreten. Hinter ihr stehen die Junker, die Organisationen des Handels- und Industriekapitals, die Finanzcliquen und die Professorenverbände. Obgleich jede dieser Gruppen sonst ihre eigenen Interessen und politischen Hoffnungen hat, schweißt sie nun die gemeinsame Gefahr seitens der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenmassen in einen gegenrevolutionären Block zusammen. Natürlich verzichten deshalb die adlig-bürokratische Clique und die Generalstabskreise keineswegs auf ihre monarchischen Intrigen und Verschwörungen, doch halten sie es für notwendig, noch eine Zeitlang die Kadetten zu unterstützen. Die bürgerlichen Liberalen ihrerseits schielen zwar voller Verdacht auf die monarchistischen Cliquen, erkennen aber deren Bedeutung für die Unterstützung der Gegenrevolution an. Auf diese Weise wird die Kadettenpartei zur allgemeinen Repräsentantin des großen und mittleren Besitzes jeder Herkunft. Alle Ansprüche der Besitzenden, alle Hoffnungen der Ausbeuter vereinigen sich jetzt in dem kapitalistischen Zynismus und der imperialistischen Schamlosigkeit Miljukows1, dessen Politik darin besteht, allen Misserfolgen und allen Irrungen der revolutionären Bewegung aufzulauern, der bis auf weiteres die „Mitarbeit" der Menschewiki und Sozialrevolutionäre in Anspruch nimmt, sie durch diese Mitarbeit kompromittiert und bei alledem ruhig abwartet, bis seine Stande schlägt. Und hinter Miljukows Rücken wartet Hurko2 auf seine Stunde.

Die sozialrevolutionäre, menschewistische Pseudodemokratie stützt sich auf die Bauernmassen, auf die kleinen Leute unter der Stadtbevölkerung und auf die zurückgebliebenen Arbeiter. Dabei wird es immer klarer, dass die Hauptmacht in den Händen der Sozialrevolutionäre liegt, die Menschewiki aber nur so nebenbei geduldet werden. Die Sowjets, die durch den elementaren Drang der Massen auf eine ungeheure Höhe gehoben waren, verlieren unter der Leitung dieser beiden Parteien jede Bedeutung. Aus welchem Grunde? Marx meinte, dass die kleinen „großen Männer" des Kleinbürgertums, wenn sie von den Geschichtsereignissen genarrt werden, die Ursache ihrer Misserfolge niemals im eigenen Unvermögen erblicken, sondern unbedingt irgend jemandes Intrigen wittern. Wie sollte nur Zeretelli3 sich nicht an die „Verschwörung" vom 3. bis 5. Juli klammern, um das jämmerliche Fiasko seiner Politik erklären zu können. Als die Liber4, die Gotz und die Woitinski das Gebäude der Ordnung vor der „Anarchie," von der es, nebenbei gesagt, nicht im geringsten bedroht wurde, gerettet hatten, glaubten diese Herren aufrichtig, dass sie wie die Gänse, die einst das Kapitol retteten, Belohnung verdienten. Und als sie merkten, dass die Missachtung der Bourgeoisie gegen sie in demselben Maße wuchs wie ihre mit Eifer betriebene Zähmung des Proletariats, waren sie voller Staunen. Zeretelli selbst, er, der große Kenner platt getretener Wahrheiten, wurde über Bord geworfen als ein zu revolutionärer Ballast. Es leuchtet einem ja auch ein: durch eine Maschinengewehrkompanie wurde die Revolution „erledigt."5

Und wenn Zeretelli mit seiner Partei nun im Lager der Gegenaktion auftauchte, im Lager Polowtsows6 und der Junker, und sie im Interesse der Gegenrevolution bei der Entwaffnung der Arbeiter unterstützte, so trägt daran die Schuld nicht die Politik Zeretellis, sondern das Auftreten der durch die Bolschewiki verführten Maschinengewehrkompanie. So lautet die Geschichtsphilosophie des politischen Kleinbürgertums.

In der Tat wurden die Tage vom 3. bis 5. Juli insofern zum Wendepunkt in der Entwicklung der Revolution, als sie bei den leitenden Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie die völlige Unfähigkeit, die Macht zu ergreifen, offenbarten. Nach dem jämmerlichen Zusammenbruch der Koalitionsregierung gab es offensichtlich keinen anderen Ausweg, als die ganze Macht den Sowjets zu überlassen. Dazu konnten sich die Menschewisten und Sozialrevolutionäre jedoch nicht entschließen. Sich die Macht aneignen, hieße. sich mit den Bankiers und den Diplomaten verkrachen, und das wäre Abenteurertum – so argumentierten sie. Ungeachtet der schicksalsschweren Bedeutung der Ereignisse vom 3. bis 5. Juli liefen also die Führer der Sowjets noch weiter den Führern der besitzenden Klassen nach. Es wurde absolut klar, dass vor diesen die Sowjetpolitiker so standen wie der kleine Budiker vor dem Bankier: mit dem Hut in der Hand. Und das gab der Gegenrevolution neuen Mut.

Die ganze vorangegangene Periode der Revolution steht unter dem Zeichen der sogenannten Doppelregierung. Diese von den Liberalen ausgehende Charakteristik ist im Grunde genommen aber sehr oberflächlich. Wichtig ist nicht die Tatsache allein, dass neben der Regierung die Sowjets bestanden, die eine ganze Anzahl Regierungsfunktionen ausübten; viel wichtiger ist es, dass sich in den Sowjets und der Regierung zwei Regimes verkörperten, die sich auf verschiedene Klassen stützten.

Hinter den Sowjets standen die Arbeiterorganisationen, die in jedem Betrieb die Alleinherrschaft der Kapitalisten verdrängt hatten, und die in jedem Unternehmen das republikanische Regime einführten, das die kapitalistische Anarchie ausschloss und schleunigst die Staatskontrolle der Produktion forderte. Um ihre Eigentümerrechte zu verteidigen, suchten die Kapitalisten Unterstützung bei der Regierung, stachelten diese mit immer wachsender Energie gegen die Sowjets auf und brachten ihr die Überzeugung bei, dass es ihr an Werkzeugen zur Unterdrückung der Arbeiterklasse mangelte. So erklärt sich das Jammern über die „Doppelregierung".

Hinter den Sowjets standen die gewählten Organisationen der Armee und überhaupt das ganze Gewicht der Soldatendemokratie. Die Provisorische Regierung, die Hand in Hand mit Lloyd George, Ribaut und Wilson arbeitete, die die alten zaristischen Verträge und Methoden der Geheimdiplomatie weiter anerkannte, musste bei der neuen Soldatenmacht auf Widerstand stoßen. Dieser Widerstand in den höheren Sphären trat – allerdings nur geschwächt – in den Sowjets zu Tage. Daher die Beschwerden, besonders seitens der Generalität, über die „Doppelregierung."

Endlich stand auch der Sowjet der Bauern, trotz des kümmerlichen Opportunismus und des groben Chauvinismus seiner Führer, unter dem immer wachsenden Druck von unten, wo die Landverteilung einen immer drohenderen Charakter annahm, je mehr die Regierung gegen sie vorging. Bis zu welchem Grade die letztere ein Werkzeug des Großkapitals geworden war, ist am besten daraus ersichtlich, dass das letzte polizeiliche Rundschreiben Zeretellis sich durch nichts von dem Rundschreiben des Fürsten Lwow unterschied. Und wenn irgendwo die Sowjets und die Bauernkomitees eine neue Agrarordnung aufstellen wollten, gerieten sie in schärfsten Widerspruch zu der „revolutionären" Macht, die immer mehr zum treuen Hund des Privateigentums wurde.

Eine weitere Entwicklung der Revolution konnte nicht anderes als den Übergang der gesamten Macht an die Sowjets und ihre Ausnützung im Interesse der Werktätigen gegen die Eigentümer bedeuten. Bei der Vertiefung des Kampfes gegen die kapitalistischen Klassen musste unbedingt die erste Rolle der exponiertesten Klasse der werktätigen Massen, das heißt dem industriellen Proletariat, zukommen. Für die Einführung der Kontrolle über die Produktion und die Verteilung hatte das Proletariat sehr wertvolle Vorbilder in Westeuropa, vor allem in dem sogenannten „Kriegssozialismus" Deutschlands. Aber da bei uns diese organisatorische Arbeit nur auf Grund einer Agrarrevolution und unter der Leitung einer wirklich revolutionären Macht vor sich gehen konnte, so wäre schon die Kontrolle über die Produktion und allmähliche Organisation der Kontrolle ganz und gar gegen die Interessen des Kapitals gerichtet gewesen. Zur selben Zeit, als die besitzenden Klassen danach strebten, durch die provisorische Regierung eine „starke" kapitalistische Republik zu gründen, hätte die Allmacht der Sowjets, schon ohne den „Sozialismus" verwirklicht zu haben, in jedem einzelnen Fall den Widerstand der Bourgeoisie brechen können und – je nach der Lage der vorhandenen produktiven Kräfte und der allgemeinen Situation im Westen – das ökonomische Leben im Interesse der werktätigen Massen von Grund auf umgestalten können. Hätte die Revolution sich nur der Ketten der kapitalistischen Macht entledigt, dann wäre sie zur permanenten, das heißt ununterbrochenen Revolution geworden, und sie hätte dann die Staatsmacht dazu verwenden können, das Regime der kapitalistischen Ausbeutung zu überwinden und nicht dazu, dieses Regime noch zu verstärken. Ihr endgültiger Erfolg auf diesem Wege musste natürlich von den Erfolgen der proletarischen Revolution in Europa abhängen. Anderseits wäre eine russische Revolution imstande, der Bewegung im Westen einen um so größeren Stoß nach vorwärts zu versetzen, je entschiedener und tatkräftiger sie selbst die Widerstände der eigenen Bourgeoisie zu überwinden sucht. Das ist und bleibt auch heute noch die einzige reale Hoffnung der weiteren revolutionären Entwicklung.

Den Phantasten des Philistertums aber erschien diese Perspektive „utopisch." Was sie aber selbst erstrebten, haben sie noch nie einleuchtend formulieren können. Von jeher sprach Zeretelli von der „revolutionären Demokratie," offensichtlich ohne selber zu verstehen, was er damit meinte. Doch nicht nur die Sozialrevolutionäre, die es nun schon gewohnt waren, auf den Wellen der demokratischen Phraseologie zu schwimmen, sondern auch die Menschewiki ließen das Klassenkriterium beiseite; bei der Benutzung dieses Begriffes kam ihnen wohl zu deutlich der kleinbürgerliche Charakter ihrer Politik zum Bewusstsein. Das Regime der „revolutionären Demokratie" erklärt und entschuldigt eben alles. Und wenn die alten Mitglieder der Ochrana ihre schmutzigen Finger den Bolschewiki in die Taschen stecken, so geschieht das im Namen der „revolutionären Demokratie." – Doch greifen wir nicht vor.

Die sozialrevolutionär-menschewistische Demokratie köpfte tatsächlich die Revolution dadurch, dass sie die Macht der Bourgeoisie zur Verfügung stellte, beziehungsweise diese Macht durch eine Koalition „neutralisierte." Anderseits verteidigte allerdings die kleinbürgerliche Demokratie die Sowjets als ihre eigenen Organe und hinderte dadurch die Regierung, einen Verwaltungsapparat im Lande zu schaffen. Die Regierung erwies sich eben nicht nur machtlos, Gutes zu tun, sondern auch Böses. Die Sowjets, die ziemlich große Pläne verwirklichen wollten, konnten nicht einen einzigen praktisch durchsetzen. Das von oben dekretierte Regime der kapitalistischen Republik und das von unten sich formierende Regime der Arbeiterdemokratie lähmten einander gegenseitig. Und überall, wo die beiden Strömungen aneinander prallten, entstanden zahllose Konflikte. Der Minister und die Kommissare zähmten das Organ der revolutionären Selbstverwaltung, die Befehlshaber rasten vor Wut gegen die Soldatenkomitees, die Sowjets schwankten zwischen den Massen und der Regierung hin und her. Eine Krise folgte der anderen, die Minister kamen und gingen. Die Gereiztheit unten wurde um so größer, je verwirrter und systemloser der Druck der Macht von oben war. Und von oben erschien das ganze Leben wie ein Überhandnehmen der „Anarchie“.

Es ist klar, dass das mutlos-zwitterhafte Regime der kleinbürgerlichen „Demokratie" keinen inneren Halt hatte Und je tiefer die Probleme waren, die auf eine Lösung durch die Revolution harrten, desto krankhafter trat diese Haltlosigkeit zutage. Der ganze Staatsbau stützte sich auf einen oder höchstens zwei, drei Köpfe. Durch eine unvorsichtige Geste von Miljukow, Kerenski oder Zeretelli drohte immer alles zusammenzustürzen. Und je mehr Zeit verging, desto schärfer wurde die Alternative: entweder ergreifen die Sowjets die Macht oder die kapitalistische Regierung musste die Sowjets vernichten. Es bedurfte nur noch eines Stoßes von außen, um das ganze Gebäude aus dem Gleichgewicht zu bringen. Einen solchen bedeuteten die Ereignisse vom 3. bis 5. Juli. Die kleinbürgerliche Idylle, begründet auf dem „friedlichen" Zusammenleben von zwei einander ausschließenden Systemen, wurde ins Herz getroffen. Und Zeretelli hatte nun die Möglichkeit, in seinen Memoiren aufzuzeichnen, dass sein Plan. Russland zu retten, durch eine Maschinengewehrkompanie vereitelt wurde.

1P. N. Miljukow, Führer der konstitutionell-demokratischen Partei seit 1906 (Nach den Anfangsbuchstaben KD genannt: Kadetten) D. H.

2 General Hurko, zaristischer General, Monarchist, stand in Verbindung mit dem dethronisierten Zaren. D.H.

3Zeretelli, Führer der Menschewiki. D. H.

4Liber und Wojtinski: Menschewiki; Gotz: Sozialrevolutionär. D. H.

5Die erste Maschinengewehrkompanie eröffnete die Kämpfe des Juli-Aufstandes. D. H.

6Polowtsow, Militärgouverneur von Petrograd in den Julitagen. D. H.

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