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Leo Trotzki 19170830 Was nun weiter?

Leo Trotzki: Was nun weiter?

[Erschienen in „Proletarij" Nr. 4 vom 30. (17.) August 1917. Nach der Broschüre „Der Charakter der russischen Revolution“, erschienen im Verlag der Arbeiter-Buchhandlung. Wien 1921 als 5. Heft der „Materialien zur Geschichte der proletarischen Revolution in Russland“. S. 35-39. Übersetzt von Sophie Liebknecht. Siehe auch New Yorker Volkszeitung, Sonntagsblatt, 24. Juli 1921, Sektion II, S. 15 und 31. Juli 1921, Sektion II, S. 14]

Wenn diese Zeilen den Leser erreichen, wird die Moskauer Beratung schon vorüber sein. Es unterliegt beinahe keinem Zweifel, dass die jetzige Regierung, in der sich die schwankende und boshafte Unzulänglichkeit verkörpert, den Moskauer Stoß nicht aushalten und neue Veränderungen erfahren wird. Nicht umsonst erklärt der General Kornilow, dass man eine neue Krise der Macht nicht zu fürchten brauche. Diese Krisis kann im nächsten Augenblick sehr leicht durch eine Verschiebung nach rechts gelöst werden. Wird dabei Kerenski eine Zusatzration zu der Unabhängigkeit von der organisierten Kontrolle der Demokratie erhalten, eine Kontrolle, die durch jene wirkungsvollere versteckte Kontrolle der imperialistischen Cliquen ersetzt werden wird: wird die neue Regierung in bestimmte Beziehungen zu jenem Generalstab der besitzenden Klassen, der ohne Zweifel durch die Moskauer Beratung entstehen wird, treten. Wie wird sich der Zusatz der „sozialistischen" Bonapartisten in der neuen Regierungskoalition zusammensetzen? – All das sind Fragen untergeordneter Bedeutung. Aber selbst wenn der Ansturm der Bourgeoisie zurückgeschlagen und die Moskauer Beratung mit dem abermaligen Weggang der Kadetten aus der Regierung enden würde, selbst dann wurde die der „revolutionären" Demokratie aufgebürdete Macht noch keine revolutionär-demokratische Macht bedeuten. An Händen und Füßen durch ihre Verpflichtungen gegen die Börse und die Diplomatie der Alliierten gebunden und behangen mit dem Ballast der Repressalien gegen Arbeiter und Bauern, wurden die offiziellen Sowjetführer ihre Politik des Zwiespalts und des Ausweichens weiterführen. Konowalow übertrug nur nach Verlassen des Ministeriums seine Mission auf Suchelew. Das Ministerium Kerenski-Zeretelli wurde auch ohne die Kadetten das Halbkadettenprogramm durchführen. Ihr Weggang allein genügt nicht. Man braucht den Zustrom neuer Kräfte und neuer Methoden.

Die Moskauer Beratung bedeutet jedenfalls den Abschluss einer ganzen Revolutionsepoche. in der die führende Rolle der sozialrevolutionären und menschewistischen Taktik zufiel. Diese Taktik des Paktierens mit der Bourgeoisie führte zum Verzicht auf die selbständige Losung der Aufgaben der Revolution, die der Idee der Koalition mit den Feinden der Revolution unterworfen wurden.

Die russische Revolution ist unmittelbar aus dem Krieg emporgewachsen. Der Krieg hat für sie die geeignete Form einer allgemeinen Volksorganisation geschaffen: die Armee. Die Hauptmasse der Bevölkerung, das Bauerntum, erwies sich im Moment des Ausbruchs der Revolution zwangsorganisert. Die Sowjets der Soldatendelegierten riefen die Armee zur politischen Arbeit auf, und die Bauernmassen schickten automatisch in die Sowjets halb liberale Intellektuelle, die die Formlosigkeit der Erwartungen und Hoffnungen des Bauerntums in jämmerliches, kriecherisches Anpassungsgestammel kleideten. Die kleinbürgerliche Intelligenz, selbst durch und durch von der großen Bourgeoisie abhängig, bekam die Führung der Bauern in die Hände. Die Sowjets der Soldaten-Bauerndelegierten bekamen ein numerisches Übergewicht über die Arbeitervertretung. Die Petersburger proletarische Avantgarde wurde eine dunkle Masse genannt. Als Blüten der Revolution prangten die März-Sozialrevolutionäre und die menschewistischen Intellektuellen aus der Provinz, die sich auf die Bauern stützten. Auf diesem Fundament erhob sich auf dem Wege der Zwei- und Dreistufenwahlen das Zentralexekutivkomitee. Der Petersburger Sowjet, dessen Arbeit in der ersten Periode sich auf ganz Russland erstreckte, stand immerhin noch unter dem unmittelbaren Druck der revolutionären Massen. Das Zentralkomitee dagegen schwebte auf revolutionär-bürokratischen Höhen, getrennt von den Petersburger Arbeitern und Soldaten und feindlich gegen sie gesonnen.

Es genügt, daran zu erinnern, dass das Zentralkomitee es für notwendig hielt, Militär von der Front herbeizurufen, um die Petersburger Demonstration zu liquidieren, die im Moment des Herannahens des Militärs, schon de facto von den Demonstranten selbst erledigt war Die kleinbürgerlichen Führer haben sich politisch dadurch vernichtet, dass sie Aufruhr, Anarchie und Unruhestiftung dann erblickten, wo nur ein aus der ganzen Situation erklärliches Streben, die Revolution mit einem Machtapparat auszurüsten, vorhanden war. Durch die Entwaffnung der Petersburger Arbeiter und Soldaten haben Zeretelli, Dan und Tschernow die Avantgarde der Revolution entwaffnet und dem Einfluss ihres eigenen Exekutivkomitees eine unheilbare Wunde geschlagen. Jetzt, angesichts der sie bedrängenden Gegenrevolution, sprechen diese Politiker über de Wiederherstellung der Autorität und der Bedeutung der Sowjets. Als aktuelle Lösung proklamieren sie die Sammlung der Massen um die Sowjets. Doch diese inhaltslose Stellungnahme ist tief reaktionär. Durch den formalen Aufruf zur Sammlung soll die Frage über die politischen Aufgaben und Kampfmethoden umgangen werden. Die Massen unter der Parole der „Hebung der Sowjetautorität" zu organisieren, ist eine kümmerliche und unfruchtbare Idee. Jene glaubten an die Sowjets, folgten ihnen und hoben sie auf eine unglaubliche Höhe. Nachher konnten sie die Kapitulation der Sowjets vor ihren schlimmsten Feinden beobachten. Es wäre aber eine Kinderei, anzunehmen, dass die Masse schon einmal erprobte historische Erfahrungen wiederholen konnte oder möchte. Damit das Schwinden ihres Vertrauens zu den jetzigen führenden Zentren der Demokratie sich nicht in ein Schwinden des Vertrauens zur Revolution selbst verwandle, ist es unbedingt notwendig, der Öffentlichkeit eine kritische Bewertung der gesamten politischen Arbeit in der Revolution zu unterbreiten, und das kann nur eine erbarmungslose Verurteilung alles dessen sein, was die sozialrevolutionären und menschewistischen Führer unternahmen.

Wir sagen den Massen: die anderen Parteien beschuldigen die Bolschewiki; warum sind sie aber machtlos gegen die Bolschewiki? Sie hatten für sich nicht nur die Mehrheit in den Sowjets, sondern auch die Regierungsgewalt und wurden nichtsdestoweniger ein Opfer der imaginären „Verschwörung" eines sogenannten kleinen Häufleins Bolschewisten.

Nach den Ereignissen des 3. bis 5. Juli sind die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki in Petersburg noch schwächer – die Bolschewiki noch stärker geworden. Auch in Moskau verhält es sich so. Daraus geht hervor, dass der Bolschewismus in seiner Politik die tatsächlichen Bedürfnisse der fortschreitenden Revolution zum Ausdruck bringt, während die Sozialrevolutionär-menschewistische „Mehrheit" höchstens die geistige Hilflosigkeit und Zurückgebliebenheit der Massen festhält. Und heute durchaus schon nicht mehr festhält, denn sie arbeitet mit den zügellosesten und brutalsten Repressalien. Diese Leute kämpfen gegen die innere Logik der Revolution und sind eben deshalb in einem Lager mit ihren Klassenfeinden zu finden. Wir sind verpflichtet, das Vertrauen zu ihnen zu untergraben, gerade um das Vertrauen zu der Revolution zu erhalten.

Wie inhaltslos die nackte Parole von der Unterstützung der Sowjets ist. wird am deutlichsten aus den gegenseitigen Beziehungen des Zentralexekutivkomitees und des Petersburger Sowjets ersichtlich. Der letztere stützt sich auf die Avantgarde der Arbeiterklasse und der mit ihr verbundenen Soldaten und entwickelt sich immer entschiedener zur unzweideutigen revolutionären Sozialdemokratie, und nur deshalb untergräbt das Zentralexekutivkomitee systematisch seine Autorität. Monatelang beruft man ihn nicht ein, und man hat ihn seines Organs „Iswestija" tatsächlich beraubt. Die rasende bürgerliche Presse erniedrigt und bespeit tatsächlich die Führer des Petersburger Proletariats, und „Iswestija" sieht und hört nichts davon. Was kann unter diesen Umständen die Parole bedeuten, die Sowjets zu unterstützen? Nur das eine: die Unterstützung des Petersburger Sowjets gegen das bürokratisierte, in seinem Bestand unveränderliche Zentralexekutivkomitee. Man muss dem Petersburger Sowjet die vollständige Unabhängigkeit der Organisation, seiner Schutzmacht und seiner politischen Handlungen wieder erkämpfen.

Dies ist das allerwichtigste Problem, das in der nächsten Zukunft gelöst werden muss. Der Petersburger Sowjet muss das Zentrum der neuen revolutionären Mobilisation der Arbeiter. Soldaten und Bauernmassen für den Kampf um die Macht sein.

Man muss mit allen Kräften die Initiative der Fabrikkomitees unterstützen für die Zusammenberufung des Allrussisches Kongresses der Arbeiterdelegierten. Damit das Proletariat für seine Politik die armen Bauern und Soldaten zu gewinnen vermag, muss seine Politik scharf und unversöhnlich der Taktik des Zentralexekutivkomitees gegenübergestellt werden.* Das kann jedoch nur dann erreicht werden, wenn das Proletariat als Klasse sich seine eigene zentralisierte Organisation im Reichsmaßstabe schafft. Wir können gewiss nicht alle Abweichungen und Zickzacke des historischen Weges voraussehen. Als politische Partei sind wir für den Gang der Geschichte nicht verantwortlich. Um so größer ist unsere Verantwortlichkeit vor dem Proletariat, als es unsere grundlegende Pflicht ist, es fähig dazu zu machen, seine Aufgaben allen Zickzacks des historischen Weges zum Trotz zu lösen. Das ist unsere politische Pflicht und Schuldigkeit.

Die regierenden Klassen tun zusammen mit der Regierung der „Rettung" alles, was von ihnen abhängt, um unfreiwillig das politische Problem in aller Schärfe nicht nur vor die Augen der Arbeiter, sondern auch der Soldaten und der Bauern zu stellen. Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki tun alles, um die Unzulänglichkeit ihrer Politik vor den breitesten Schichten der werktätigen Bevölkerung bloßzustellen. Von unserer Partei, ihrer Energie, Ausdauer und Beharrlichkeit hängt es jetzt ab, alle nötigen Konsequenzen aus der Lage zu ziehen und an der Spitze der gepeinigten und unglücklichen Massen den entscheidenden Kampf für ihre revolutionäre Diktatur aufzunehmen.

*Aus dem Gesagten wird deutlich ersichtlich, welch sinnlos-reaktionäre Utopie die von der „Nowoja Shisn" propagierte Idee über unsere Vereinigung mit den Menschewiki ist. L. T.

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